«Die Formel 1 ist heute zu einfach»

«Die Formel 1 ist heute zu einfach»
Marcel Fässler ist der zurzeit erfolgreichste Rennfahrer der Schweiz. Hier spricht er über seine grössten
Triumphe und die gefährlichsten Momente seiner Karriere. Auch bei 340 km/h empfinde er keine Angst.
Dennoch gehe es nicht um den Temporausch: Fässler zelebriert den Rennsport als Kunst. Von Philipp Gut
Marcel Fässler, Sie haben 2014 bereits zum
dritten Mal das 24-Stunden-Rennen von
Le Mans gewonnen. Vor Ihnen hatte noch
nie ein Schweizer triumphiert. Was bedeutet Ihnen dieser Sieg?
Der Stellenwert für mich persönlich ist
sehr hoch. Le Mans ist das Rennen der
­Rennen, der absolute Saisonhöhepunkt,
und du hast nur diese eine Chance. In einer
Weltmeisterschaft hat man mehrere Ver­
suche und darf auch mal ein schlechtes
Resultat einfahren. Man kann gewisse
­
Schwächen kaschieren. Le Mans ist anders,
vergleichbar mit einem Olympiawett­
kampf.
Als ich in den frühen Morgenstunden die
Le-Mans-Fernsehübertragung abstellte,
lagen Sie noch an zweiter Stelle.
Wir waren hinter dem führenden Toyota
die Einzigen in derselben Runde. Das mo­
tivierte, weil wir noch eine Chance sahen,
aus eigener Kraft zu gewinnen. Es war sehr
dramatisch. Während des Rennens hatten
wir einen Turboschaden und mussten
­deshalb in die Box. Da haben wir sicher
zwanzig Minuten verloren.
Was zuckte Ihnen in diesem Moment
durch den Kopf?
Wir dachten: «Jetzt ist es gelaufen.» Ich
­merkte, wie die Leistung abfiel, und mel­
dete das per Funk. Zuerst versuchten wir,
einen Cut zu machen, einen Neustart des
Systems, aber das funktionierte nicht. Es
blieb nichts anderes übrig, als in die Box
zu fahren. In diesem Augenblick bricht
­alles zusammen. Dann sass ich im Auto
und sah, wie die Mechaniker rennen und
werken. Das hat mich wieder motiviert.
Als wir rauskamen, hatten wir dann mit
Abstand das schnellste Auto. Du gehst
auch ein grösseres Risiko ein, weil du
nichts mehr zu verlieren hast.
Le Mans ist eine Kultstätte des Weltmotorsports, mit Ihrer Siegesserie schreiben
Sie Schweizer Sportgeschichte. Trotzdem
scheint die Öffentlichkeit nicht allzu viel
Notiz davon zu nehmen. Woran liegt das?
Es hat sicher auch damit zu tun, dass die
Schweizer zwanzig Jahre lang von der
Bildfläche verschwunden waren. Weil die
Formel 1 ein bisschen kränkelt, bekommen
wir in jüngster Zeit allerdings wieder et­
was mehr Aufmerksamkeit. Doch Lang­
streckenrennen bleiben ein schwierig zu
vermittelndes Format.
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Spüren Sie auch gewisse Vorurteile gegen
den Motorsport?
Die Schweizer sind an sich sehr motorsport­
begeistert, das merke ich an meinen Vorträ­
gen bei Firmen und Managern, aber auch bei
der Sponsorensuche. Und es gibt kaum ein
anderes Land mit einer solchen Dichte an
hochklassigen und schnellen Wagen. Doch
kaum jemand würde diese Begeisterung
­offen aussprechen, aus Furcht anzuecken.
Der Sport gilt als gefährlich, dazu kommen
Umweltargumente.
Nochmals zurück nach Le Mans. Was war,
abgesehen vom erwähnten Motorschaden,
der schwierigste Moment im Rennen?
Ganz zu Beginn kam sintflutartiger Regen
auf, den kein Meteorologe vorausgesehen
hatte. Wir waren alle mit Slicks unterwegs,
konnten in den Kurven nur noch mit dreis­
sig fahren. Das ist, wie wenn Sie mit Som­
merpneus auf Glatteis geraten.
Gefährlich müssen die Sichtverhältnisse
sein: Die Frontscheibe zugekleistert mit Insekten und Schmutz, dazu nachts die Dunkelheit. Und Sie sind quasi im Blindflug unterwegs – mit 300 Stundenkilometern.
Die Dunkelheit ist eigentlich kein Problem.
Du hast den Tunnelblick in deinem Lichtke­
gel, ringsum siehst du nichts. Die Probleme
kommen mit den ölverschmutzten Schei­
«Die Anfahrt im Privatauto
ist gefährlicher als das
Rennen selber.»
ben. Schlimm ist es, wenn am Morgen die
Sonne aufgeht. Milchglas. Du siehst kaum
mehr etwas, musst aber auf den Zentimeter
genau fahren. Sobald man die Ideallinie ver­
lässt, werden die Reifen schmutzig, was zu­
sätzlich auch die Haftung verschlechtert.
Wie reagieren Sie, wenn die Sicht so plötzlich weg ist?
Man fährt fast blind, denn man kennt die
Strecke eigentlich auswendig. Aber das
­Problem ist, dass man nicht einfach stoppen
kann: Jede Fahrt in die Boxe, ohne dass der
Tank leer ist, bedeutet einen Zeitverlust.
Der kleinste Fehler kann bei solchen Tempi
verheerend sein. Wie halten Sie die Konzentration hoch?
Sobald du auf dem Rennspeed bist, ist die
Konzentration automatisch auf hohem Le­
vel. Beim Fahren bist du voll auf Adrenalin.
Man ist derart fokussiert, dass man sich
nicht für die Konzentration zu motivieren
braucht. Die Schwierigkeiten kommen erst,
wenn es langsam wird, in einer Safety-CarPhase. Dann drückt die ganze Müdigkeit
durch. Einmal musste ich mit der Boxe re­
den, damit ich nicht in einen Sekunden­
schlaf fiel. Sobald die Strecke wieder frei ist,
ist alles wie weggeblasen. Wichtig ist indes,
dass man körperlich fit ist. Wer nicht fit ist,
wird schneller müde.
Wie genau trainieren Sie?
Das eine sind die Tests mit dem Auto. Aber
das macht man nicht täglich. Wichtig ist Aus­
dauertraining, Velofahren, Langlauf. Spezi­
ell trainieren wir Rumpf und Nacken, die ex­
ponierten Körperteile.Auch das M
­ ultitasking
ist wichtig, das wird ebenfalls speziell trai­
niert. Wie Skispringer müssen wir Muskeln
bilden, sollten aber nicht beim Gewicht zu­
nehmen. Ein Fahrer, der zehn Kilogramm
leichter ist, hat in Le Mans einen Vorteil von
vier Zehntelsekunden pro Runde.
Machen Sie auch Mentaltraining?
Ich habe mich lange dagegen gewehrt. Es
regnet, und du musst dir einreden, dass es
schön sei – diese Art von Gesundbeten ist
nicht mein Ding. Doch nun arbeite ich mit
einem Mentaltrainer zusammen. Wir opti­
mieren Abläufe, etwa bei einem Fahrerwech­
sel. Und ich habe gelernt, die Zweifel weg­
zudrücken. Das hat mir sehr geholfen. Der
Zweifel ist das Schlimmste im Sport, er zieht
dich herunter.
Zu zweifeln, kann ja auch ganz rational
sein. Der Temporausch kann jederzeit in
die Katastrophe kippen. Denken Sie auf der
Piste an diese Möglichkeit?
Nein. Natürlich bergen die hohen Tempi ein
gewisses Risiko. Aber der Rennsport ist sehr
sicher geworden. Die Anfahrt im Privatauto
ist gefährlicher als das Rennen selber! Wenn
man nur noch daran denkt, dass etwas pas­
sieren könnte, dann macht es keine Freude
mehr. Das gilt für den Rennsport, aber auch
für das Leben insgesamt. Man verliert die
Freiheit.
Dennoch: Man fährt über 300 km/h,
schrammt um Haaresbreite an Konkurrenten vorbei. Eigentlich wundert man sich,
dass es nicht mehr Unfälle gibt.
Das hat verschiedene Gründe. Die Pisten
sind anders als noch in den sechziger Jahren,
es gibt keine Bäume mehr am Streckenrand,
an gefährlichen Kurven stellt man nicht
Auto-Spezial 2015
«Man lernt von früh auf, im Rudel zu fahren»: Rennfahrer Fässler.
«Rennen der R
­ ennen»: Fässler in Le Mans.
«Voll auf Adrenalin»: Fässlers Audi-Box in Bahrain.
Auto-Spezial 2015
Bilder: Rick Dole (Getty Images), (2) Panoramic (Imago)
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mehr nur Strohballen hin. Zudem ist der
Fahrer bei einem Crash durch die soge­
nannte Strukturzelle gestützt.
Rennwagen sind sicherer als normale
­Autos?
Eindeutig. Sie halten viel mehr aus, bei
einem Crash nehmen diese Strukturen
­
Energie auf und absorbieren sie. Unfälle,
die früher tödlich gewesen wären, bleiben
heute meist ohne gravierende Folgen.
Aber ist es nicht gefährlich, wenn man so
dicht aufeinander dahinschiesst?
Man lernt von früh auf, im Rudel zu fah­
ren. Und weil alle fast gleich schnell unter­
wegs sind, ist die Wucht geringer, als wenn
Sie beispielsweise mit Autobahntempo
­einen Lastwagen überholen, der bloss 80
fährt. Profis kann man einschätzen, man
kann sie lesen, sie verhalten sich ähnlich,
was Bremspunkte oder Linienwahl be­
trifft. Laien sind viel gefährlicher, weil sie
oft etwas Unerwartetes tun.
Wo liegen die Grenzen? Wissen Sie immer
exakt, wie weit Sie gehen dürfen?
Ja, das spürt man. Am Limit ist das Auto in
den Kurven immer in Bewegung, es ist nie
stabil. Es gibt ein gewisses Band, innerhalb
dessen man sich bewegen kann. Man kann
das Auto aber auch gewissermassen über­
fahren, indem man zu viel rutscht – was
spektakulär aussehen mag, aber nicht
schnell ist. Wer übertreibt – wie in der
­Formel 1 etwa der als Crashfahrer be­kannte
Pastor Maldonado –, verliert Zeit. Oder
fliegt ab.
Das Bild des Rennfahrers als draufgängerischer Machotyp wäre also falsch? Wenn
ich Sie richtig verstehe, braucht es in erster
Linie Finger- und Zehenspitzengefühl.
Es gibt diese draufgängerischen Typen,
aber das bringt nichts. Früher hiess es noch
eher: «Diese Kurve musst du voll fahren.»
Dabei ist man meist schneller, wenn man
nicht voll fährt. Diese Feinfühligkeit muss
man entwickeln.
Kann man überhaupt gewinnen, wenn
man das Limit nicht ausreizt oder gar
überschreitet?
Wer mit 98 Prozent Einsatz fährt, ge­
winnt heute kein Rennen mehr. Früher
hat man im Langstreckenrennsport die
Autos noch geschont, aus technischen
Gründen. ­Heute kann man das Auto auch
über 24 Stunden maximal ausreizen. Le
Mans ist sozusagen ein vierundzwanzig­
stündiger Sprint. Im Jahr 2011 haben wir
mit einem Vorsprung von 13,8 Sekunden
gewonnen – nach 24 Stunden Renndauer!
Wir haben den Gegner immer gesehen,
wir haben uns nie aus den Augen verlo­
ren. Der kleinste Fehler entscheidet über
Triumph oder Niederlage.
Haben Sie Angst beim Fahren? Kann man
die Angst besiegen?
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Nein, Angst habe ich keine. Wer Angst hat,
kann nicht mehr schnell fahren. Was wir ma­
chen, ist kalkuliert. Wir wissen genau, was
wir können.
Denken Sie nie an den Tod?
Klar macht man sich Gedanken, und man
sollte sich auch damit auseinandersetzen
und mit sich im Reinen sein. Wir sind auch
nur Menschen. Aber Sie können mir glau­
ben: Ich liebe mein Leben und möchte auch
immer wieder heim zur Familie.
Sieht das Ihre Frau auch so? Hat sie Ihnen
nicht schon gesagt: «Was hast du für einen
absurden Beruf? Kannst du nicht etwas
Normales machen?»
Meine Frau kennt den Rennsport, sie hat
­alles von Anfang an miterlebt. Natürlich
kann man einen Unfall nicht ausschliessen.
«Wer Angst hat, kann nicht mehr
schnell fahren. Was wir machen,
ist kalkuliert.»
Aber das gilt für alle Lebensbereiche. Neh­
men Sie Michael Schumacher: Der hat sich
jahrelang auf dem höchsten Niveau mit den
höchsten Tempi bewegt und verletzt sich so
schwer bei einem Skiunfall.
Hand aufs Herz: Lockt nicht doch irgendwo tief drinnen die heimliche Lust am Un­
tergang?
Der Motorsport hat nichts Morbides an sich!
Es geht auch nicht um den Geschwindig­
keitsrausch. Für einen Laien mögen schon
150 oder 180 km/h schnell sein, für uns sind
340 km/h normal. Das Auge gewöhnt sich an
die Geschwindigkeit. Die Autos sind für
­diese Tempi gemacht.
Sie spielen das Tempogefühl herunter.
Schon kleine Kinder jubeln auf jeder
Schussfahrt. Es muss etwas Existenzielles
sein. Woher kommt diese menschliche
­Faszination für die Geschwindigkeit?
Vermutlich rührt sie daher, dass der Mensch
selber ohne Hilfsmittel nicht fähig wäre,
sich so schnell zu bewegen. Es ist ähnlich wie
beim Fliegen: Wir tun etwas, was eigentlich
gar nicht in unserer Natur liegt, wir über­
schreiten diese. Sich am Limit zu bewegen,
einen Konkurrenten im Kampf mit einem
brillanten Manöver zu überholen – das ist
das, was mich fasziniert und befriedigt.
Was kann ein Rennfahrer, was normale
­Lenker nicht können?
Da liegen Welten dazwischen. Versuchen Sie
mal wie Didier Cuche das Lauberhorn hi­n­
unterzufahren! Beim Motorsport ist es
­genauso. Im Alltag haben wir das Gefühl,
Schnellfahren habe vor allem mit Gasgeben
zu tun. Doch das ist wenig anspruchsvoll,
dazu braucht es kein Talent. Das richtige
Bremsen, die Linienwahl, das Gespür dafür,
wie viel Geschwindigkeit man mitnehmen
kann, um das Auto durch Kurven zu balan­
cieren – das ist die Kunst.
Der Motorsport ist eine Männerwelt. Zu
Hause leben Sie mit einer Schar von Frauen:
mit Ihrer Ehefrau Isabel und den vier Töchtern Shana, Elin, Yael und Delia. Wie erleben Sie diesen Maximalkontrast?
Er fühlt sich gut an. (Lacht)
Schauen die Mädchen Ihre Rennen?
Es interessiert sie nicht besonders. Für sie ist
es normal, dass der Papi Rennen fährt. Wenn
ich nicht gewinne, werfen sie mir das aller­
dings vor: «Warum hast du nicht gesiegt?
Warum bist du nur Vierter geworden?»
Hätten Sie etwas dagegen, wenn eines Ihrer
Mädchen später selber Rennfahrerin werden wollte?
Wenn es wirklich ihr Wunsch wäre, würde
ich sie darin unterstützen. Mein Vater hatte
mich auch gefördert, aber in einem be­
stimmten Moment sagte er: «Jetzt musst du
selber schauen.»
Was bedeutet Ihnen die Familie?
Die Familie ist mein Lebensmittelpunkt. Sie
gibt mir Rückhalt. Wie meine Frau den
­ganzen Haushalt managt – davor habe ich
extremen Respekt. Das ist sicher anspruchs­
voller als mein Job.
Wie viele Tage im Jahr sind Sie überhaupt
zu Hause?
Nicht allzu viele. Ich bin etwa 180 Tage un­
terwegs.
Trägt das die Familie mit?
Sie sind damit gewachsen. (Lacht) Man muss
auch die Vorteile sehen: Wenn ich zu Hause
bin, bin ich ganz zu Hause, während andere
Väter ihre Kinder vielleicht nur am Morgen
und am Abend sehen.
Die Formel 1 ist die Königsdisziplin des
­Motorsports. Ist sie auch Ihr Traum?
Die Formel 1 hat eine unglaubliche Präsenz,
sie kommt alle vierzehn Tage im Fernsehen.
Auch ich habe schon als kleiner Junge For­
mel-1-Rennen geschaut, Alain Prost war
mein grosses Vorbild. Ich durfte mal einen
McLaren testen, war vielleicht zur falschen
Zeit am richtigen Ort. Auch wenn ich nicht
Formel 1 fahren konnte, lebe ich meinen
Traum und durfte unglaubliche Erfolge
­erleben. Wie zum Beispiel die drei Siege in
Le Mans mit Audi.
Die Formel-1-Fahrer werden immer jünger.
Wären Sie heute noch bereit dafür?
Ich wäre mit meinen 38 Jahren zu alt. Nicht
vom fahrerischen Können her, aber die For­
mel 1 setzt immer mehr auf die Jungen. Ich
frage mich, ob die Rennen nicht zu einfach
geworden sind, wenn schon Siebzehnjäh­
rige mitfahren können.
Marcel Fässler, 38, ist Werkpilot bei Audi. Er ist Lang­
strecken-Weltmeister und hat bereits dreimal das legen­däre
24-Stunden-Rennen von Le Mans gewonnen. Mit seiner
Frau und seinen vier Töchtern lebt er im Kanton Schwyz.
Auto-Spezial 2015