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Verdichten nicht auf Kosten der Baukultur
Eine leicht geänderte Fassung dieses Artikels erscheint demnächst im NZZ Feuilleton
Am 14. Juni 2015 stimmen die Wädenswiler Bürgerinnen und Bürger über die Gestalt des wichtigsten
Platzes der platzarmen Stadt ab. Als Bewohnerin von Wädenswil habe ich in meinem Briefkasten zu
dieser Abstimmung Propagandamaterial verschiedener Parteien gefunden. Sie haben mich dazu
veranlasst, ein paar grundsätzliche Überlegungen zum Thema anzustellen.
In der zeitgenössischen Stadtplanung fehlt uns mehrheitlich die Vorstellung des „städtebaulichen
Ensembles“ oder wenn sie vorhanden ist, dann bleibt sie zumeist auf das städtebauliche Muster des
Blockrandes aus dem 19. Jahrhundert beschränkt. Grundlage qualitätsvoller Ensembles waren in der
Vergangenheit häufig Gestaltungssatzungen, wie beispielsweise in den alten italienischen
republikanischen Städten. Die ihnen zufolge entstandenen Plätze sind uns deshalb so lieb, weil sie
dem menschlichen Massstab gerecht werden, weil sie Orte mit unterschiedlichen Funktionen und mit
ureigener Identität sind, weil sie der Vielfalt des Lebens entsprechen und weil sie eine
gemeinschaftsbildende Atmosphäre ausstrahlen. Es ist diese Atmosphäre, die uns heute an diesen
Orten gern den Café in der Sonne geniessen lassen. Die Bürgerinnen und Bürger (natürlich nur die,
die damals etwas zu sagen hatten) der Stadt einigten sich auf diese Gestaltungssatzungen, hielten sie
ein und waren stolz auf ihre Stadt. Diese Regelungen betrafen u.a. eine gewisse Materialität,
Farbgebung oder Traufhöhen, ansonsten war der Einzelne ziemlich frei in der Gestaltung. Sie stellten
sicher, dass sich einzelne Grundstücksbesitzer mit ihren individuellen Wünschen dem Gemeinwohl
unterzuordnen hatten. Wenn wir etwa an die Piazza in Siena denken steht ganz klar das
stadtbürgerliche Rathaus der Stadt, der Palazzo Pubblico, im Zentrum. Dahinter verbirgt sich ein
bestimmtes Menschenbild und eine kommunale Gemeinschaftsordnung mit sozial-gerechter
Wirtschaftsweise, wie sie Ambrogio Lorenzetti 1339 in seinem Freskenausschnitt „Das irdische
Paradies“, das noch heute im Palazzo Pubblico in Siena bewundert werden kann, nachgezeichnet
hat.1
Städtebau ist immer Ausdruck einer Gesellschaft und ihrer Ordnung und damit hoch politisch. Dies
hat uns spätestens Max Frisch mit seinen diversen Schriften zum Städtebau in den 1950er Jahren
hinlänglich aufgezeigt.2 Er wies der demokratisch organisierten Gesellschaft, also den
Stimmbürgerinnen und –bürgern, die soziale Imagination dafür zu, wie die Städte von morgen
auszusehen haben. Für die Meinungs- und Willensbildung im Planungsprozess von Architektur und
Städtebau sprach er zwar den Architekten und Planern als Fachpersonen eine wesentliche Rolle zu,
letztendlich überantwortete er die Verantwortung für die Gestalt der Städte aber dem
„aufgeklärten“ Bürger. Seine Schriften waren denn auch vor allem ein Aufruf an alle, sich um Fragen
der Architektur und des Städtebaus zu kümmern.
Wo stehen wir heute? Warum, muss man fragen, gibt es kaum einen modernen Platz, der auch nur
annähernd die Schönheit eines alten italienischen Platzes hat? Und man kommt nicht umhin, weiter
zu fragen: Ist heute genug Wille für ein vergleichbares Gemeinwohl in unserer
hochindividualisierten, auf Privatisierung, globalen Wettbewerb und Rendite ausgerichteten
Gesellschaft vorhanden? Je länger, je mehr spiegeln eben auch unsere heutigen Stadträume unsere
derzeitigen gesellschaftspolitischen Entwicklungen – so auch die Wädenswiler Stadträume.
Immer mehr Menschen - dies ist meine langjährige Erfahrung als „Stadtwanderin“ (um Benedikt
Loderers Begriff aufzugreifen) - suchen inzwischen anderes: sie suchen wieder mehr Gemeinsinn und
1
Vgl. Doris Schmidt: Der Freskenzyklus von Ambrogio Lorenzetti über die gute und schlechte Regierung. Eine
danteske Vision im Palazzo Pubblico von Siena. St. Gallen 2003. Dissertation Nr. 2656
2
Petra Hagen: Städtebau im Kreuzverhör. Max Frisch zum Städtebau der fünfziger Jahre. Lit Verlag Lars Müller,
Baden 1986
Nachbarschaft, wie auch im neuen Age-Report3 nachzulesen ist. Nur können viele Menschen Ihre
Anliegen nicht in Bilder und Worte fassen, weil zunehmend die Vorbilder und vielleicht auch die
Bildung in ästhetischen Fragen (im Sinne Kants als Urteilskraft) zu fehlen scheinen. Hierzu gehört
auch das Verständnis von Traditionen und ihrer Bedeutung für identitätsstiftende Orte.
Kommen wir zu Wädenswil. Jahrhundertelang war Wädenswil ein Dorf, eine Mischung aus Streu- und
Haufendorf. Zwar gab es zahlreiche Freiräume, wie dies auf dem schönen Islerplan von 1769 zu
erkennen ist. Diese Freiräume waren jedoch vor allem Grünräume und in der Mehrzahl bestanden sie
aus Bauern-, Gemüse- und Obstbaumgärten. Eigentliche Stadtplätze, die als Hohlraum im dicht
aneinandergebauten Stadtkörper erlebbar sind, hat es in Wädenswil bis heute nie gegeben.
Trotzdem formten die Bauten wertvolle Ensemble – Ensemble, die vor allem auf bäuerliche
Strukturen zurückgehen. Man mag sie „lockere“ Ensembles nennen.
Das einzige, wirklich städtische Ensemble in Wädenswil wurde im Zuge der Industrialisierung im 19.
Jahrhundert entlang der Seestrasse errichtet. Mit dem Bau des Busbahnhofes direkt vor dem
Bahnhof ist es vor wenigen Jahren jedoch schon wieder zerstört worden. Kommt ein Besucher heute
nach Wädenswil, wird er entweder (per Auto von der Autobahn kommend auf der Zugerstrasse) von
einem Kreisel mit belangloser Architektur drum herum oder (per Zug) von einem Busbahnhof in
Empfang genommen – überdacht mit einem schweren Glasdach, das eine luftige Wolke bzw. eine
Welle sein will. Dieses Dach kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier, wie übrigens schon bei
der rund fünfzig Jahre alten Fussgängerunterführung, die vom Bahnhof unter der Seestrasse auf den
Gerbeplatz in unschöner Weise mündet, rein verkehrstechnisch-funktional gedacht worden
ist. Spätestens da fängt das Dilemma an. Es setzt sich in der aktuellen Auseinandersetzung um den
neuen Gerbeplatz fort.
Entstanden ist der heutige Gerbeplatz erst mit dem Abriss des ehemaligen Seidenhofes, einem
biedermeierlichen Fabrik- und Wohngebäude, das in der Flucht des denkmalgeschützten Palais
Friedberg stand und mit der gleichzeitigen Zurücksetzung des Neubaus der Credit Suisse. Damals
erhielt der Ort eine erste Chance, ein echter Platz zu werden. Sie wurde nicht genutzt: entstanden ist
ein erhöhter, repräsentativer Vorplatz eines privaten Bankinstituts sowie etliche Parkplätze – beide
ohne Aufenthaltsqualität. Ebenso arbeiten die beiden jetzt vorliegenden Vorschläge für die
Weiterentwicklung des Gerbeplatzes, die zur Abstimmung kommen, nicht wirklich am Ort weiter.
Denn mit beiden soll das identitätsstiftende Haus „Zum Zyt“ abgerissen werden. Der Vorschlag der
GLP nimmt einen Neubau des Hauses innerhalb der bestehenden Liegenschaftsgrenzen in Kauf und
bietet keine Lösung für eine strassenseitige Einfassung des Platzes, während derjenige des Stadtrates
den Abriss des Baus sogar aktiv fördert: das Haus, das 1981 auf der Wädenswiler Liste zur
Inventarisierung schützenswerter Bauten stand, 1990 aber aus nicht nachvollziehbaren Gründen
daraus entlassen wurde, soll durch einen grossen, anonymen, langgestreckten Baukörper ersetzt
werden, der den Platz - ausser den privaten Repräsentationsraum des Geldinstituts - weitgehend
zustellen wird – dies im Namen der (grundsätzlich, aber nicht überall sinnvollen) Verdichtung bzw.
der Rendite. Die entsprechenden Visualisierungen, die von den Verfechtern des Abrisses präsentiert
werden, zeigen dies nicht auf. Gerade aber das Haus „zum Zyt“ trägt entscheidend mit dazu bei, dass
dieser Ort ein Ort der Identifikation ist und am Gerbeplatz überhaupt noch ein historisch
gewachsenes, bauliches Ensemble erkennbar bleibt. Geht es nach den vorliegenden stadträtlichen
Vorschlägen, wird das denkmalgeschützte Palais Friedberg alleine - wie ein Alibi - am Platz stehen
bleiben und zur Disneylandisierung alter Bausubstanz beitragen.
Ohne einen starren Heimatschutz vertreten zu wollen muss man sich doch fragen, warum landauf,
landab diese Zerstörung von Traditionen, von Orten der Identifikation, von Orten der Beheimatung –
wenn man diesen Begriff überhaupt noch verwenden darf oder doch gerade wieder verwenden muss
3
Francois Höpflinger, Joris Van Wezemael (Hrsg.): Wohnen im höheren Lebensalter. Grundlagen und Trends.
Seismo Verlag Zürich 2014
– so schleichend aber unwiederbringlich zugelassen werden. Baubestimmungen, Kernzonen,
Sonderbauvorschriften und auch Gestaltungspläne gäbe es eigentlich genügend, doch scheinen sie
nicht zu greifen. Ein gewachsenes Ensemble wie die Bauten um den heutigen Gerbeplatz vermögen
sie offensichtlich nicht zu schützen – im Gegenteil. Gerade in den Kernzonen ist der Investitions- und
Renditedruck besonders hoch. Ursprünglich wurden Kernzonen geschaffen, um historische Ortskerne
zu schützen. Doch ist die Ausnützungsziffer hier gerade besonders hoch oder sogar unbegrenzt. Dies
führt unweigerlich immer wieder dazu, dass es sich in Kernzonen besonders lohnt, ein bestehendes
Gebäude durch einen grösseren Neubau zu ersetzen. Zwar sind die Kernzonenvorschriften durchaus
geeignet, ein von allen Seiten geschätztes historisches Ensemble zu schützen, sofern es als solches
erkannt wird, indem sie die Erhaltung von Volumen und Charakter der Altbauten verlangen, doch sie
sind völlig ungeeignet, um städtebauliche Fehlplanungen wieder gut zu machen, während die
Gestaltungspläne, die einer „besonders guten Gestaltung“ dienen sollten, konkret erlauben, die
bestehenden Baugesetze zu umgehen und mehr Geschosse und mehr Ausnützung zu bauen.
Stadtplanung ist kompliziert, Sachzwänge gibt es immer genügend. Vielleicht aber müssten einmal
getroffene Entscheidungen trotzdem häufiger wieder rückgängig gemacht werden, wenn man sieht,
dass die falsche Richtung eingeschlagen worden ist. Gerade hier können wir Bürgerinnen und Bürger
im Sinne Max Frischs beitragen und für eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Sache plädieren –
über die verschiedenen Farben von Parteibüchern hinaus und hinweg. So bleibt zu hoffen, dass die
Mehrzahl der Stimmbürgerinnen und -bürger der Stadt Wädenswil die Bedeutung des Hauses „Zum
Zyt“ für die Ensemble-Wirkung am Gerbeplatz erkennt, am besten beide zur Abstimmung vorgelegte
Vorschläge ablehnt, sich dem Anliegen des (unparteilichen) Komitees „Riegel Nein, Zyt zum Verwiile“
anschliesst, vor allem aber dem stadträtlichen Vorschlag ein klares Nein erteilt. Immerhin bliebe
damit die Möglichkeit, nochmals neu über den Gerbeplatz, seine Gestalt, sein Antlitz und seine
Funktion nachzudenken.
Petra Hagen Hodgson
Dozentin ZHAW
Wädenswil