Verfassungsrecht ! der Kantone ! ! ! Prof. Dr. Kurt Nuspliger ! ! Bernisches Staatsrecht. Herbstsemester 2014! 2. Oktober 2014! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester – Seite 1! Inhalt 1. Funktion der Kantonsverfassungen! 2. Totalrevision kantonaler Verfassungen! 3. Schwerpunkte kantonaler Verfassungsrevisionen! !3.1 Aufbau und Gliederung des Kantons! ! !3.2 Grundrechte! !! !3.3 Öffentliche Aufgaben! !3.4 Volksrechte! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 2! 1. Funktion der Kantonsverfassungen! • Ordnungs- und Organisationsfunktion.! • Machtbegrenzungs- und Freiheitsgewährleistungsfunktion.! • Gestaltungs- und Steuerungsfunktion.! • !! Weitere Funktionen: Orientierung, Legitimation, Integration, Rahmenordnung für gesellschaftlichen Wandel.! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 3! Verfassung des Kantons Basel-Stadt 30. Oktober 2005 § 15 Leitlinien staatlichen Handelns 1 Der Staat orientiert sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben an den Bedürfnissen und am Wohlergehen der Bevölkerung. Er berücksichtigt dabei die Würde, die Persönlichkeit und die Eigenverantwortung des einzelnen Menschen. 2 Er wirkt auf die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und auf eine nachhaltige Entwicklung hin, die den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation entspricht, aber zugleich die ökologischen, wirtschaftlichen und !! sozialen Bedürfnisse künftiger Generationen und ihre Möglichkeiten nicht gefährdet, ihre eigene Lebensweise zu wählen. 3 Er sorgt für die Chancengleichheit und fördert die kulturelle Vielfalt, die Integration und die Gleichberechtigung in der Bevölkerung sowie die wirtschaftliche Entfaltung. ! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 4! Verfassung des Kantons Zürich 27. Februar 2005 Art. 7 Dialog Kanton und Gemeinden schaffen günstige Voraussetzungen für den Dialog zwischen den Kulturen, Weltanschauungen und Religionen. Art. 8 Innovation Kanton und Gemeinden schaffen günstige Rahmenbedingungen !! für wirtschaftliche, kulturelle, soziale und ökologische Innovation. Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 5! Verfassung des Kantons Genf 14. Oktober 2012 Art. 146 Coopération internationale 1 L‘Etat soutient la vocation internationale de Genève en tant que centre de dialogue, de décision et de coopération internationale, fondé sur la tradition humanitaire et le droit, ainsi que sur les valeurs de paix et de solidarité. 2 Il mène une politique de solidarité internationale soutenant la protection et la réalisation des droits de l‘homme, la paix, l‘action humanitaire et la coopération au développement. 3 A ces fins, il prend toute initiative utile et met des moyens à disposition, en coordination avec la Confédération. !! Art. 147 Accueil L‘Etat offre des conditions d‘accueil favorables aux acteurs de la coopération internationale. 2 Il facilite le développement de pôles de compétence et favorise les interactions, la recherche et la formation. 3 Il soutient les mesures d‘hospitalité, de concentration, de sensibilisation et d‘éducation permettant d‘assurer une bonne entente au sein de la population. 1 Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 6! 2. Totalrevision kantonaler Verfassungen! • Seit den 1960-er Jahren: 23 Kantonsverfassungen total revidiert.! • Keine Projekte zur Totalrevision der Kantonsverfassungen: Wallis, Appenzell-Innerrhoden, Zug.! • Verfassungswerkstatt Schweiz.! • Innovationspotenziel des Föderalismus.! !! • Bernhard Ehrenzeller/Roger Nobs, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der totalrevidierten Kantonsverfassungen, ZBl 110/2009, 1ff. Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 7! 3. Schwerpunkte kantonaler Verfassungsrevisionen ! • Aufbau und Gliederung des Kantons! • Grundrechte, Sozialrechte, Sozialziele! • Öffentliche Aufgaben! • Volksrechte ! !! • Vorgaben des Bundesgerichts: Willkürverbot kein selbständiges Grundrecht (Art. 11 KV BE), Frauenstimmrecht (BGE 116 Ia 359ff.), Ausgestaltung des Proporzwahlrechts (BGE 140 I 7).! ! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 8! 3.1 Aufbau und Gliederung des Kantons ! • Reform der Gebietseinteilung nur in wenigen Kantonen (SG).! • Historisch gewachsene Strukturen bleiben erhalten.! • Reformpotenzial: Offene Verfassungsnorm mit Spielraum für den Gesetzgeber.! !! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 9! 3.2 Grundrechte! • Bedeutung kantonaler Grundrechte.! • Kantone mit eigenem Grundrechtskatalog (BE, NE, VD, FR, GE).! • Verweisung auf den Grundrechtskatalog der BV, Aufnahme ergänzender kantonaler Grundrechte (BS, ZH, SG).! • Verweisung auf die Grundrechte der BV, kein eigener Grundrechtskatalog (GR, LU, SZ).! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 10! Grundrechte:! Gemeineidgenössisches Recht! • Andere Formen des gemeinschaftlichen Zusammenlebens.! • Demonstrationsfreiheit.! • Erweitertes Petitionsrecht mit Anspruch auf Antwort der Behörden.! • Zugang zu amtlichen Dokumenten (Öffentlichkeitsprinzip). ! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 11! Verfassung des Kantons Basel-Stadt 30. Oktober 2005 § 9 Gleichstellung von Mann und Frau Frau und Mann sind gleichberechtigt. 2 Sie haben ein Recht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Bildungseinrichtungen und Ämtern, auf gleiche Ausbildung sowie auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit. 3 Kanton und Gemeinden fördern die tatsächliche Gleichstellung von !! Frau und Mann in allen Lebensbereichen. Sie wirken darauf hin, dass öffentliche Aufgaben sowohl von Frauen als auch von Männern wahrgenommen werden.! 1 Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 12! Verfassung des Kantons Basel-Stadt 30. Oktober 2005 § 11 Grundrechtsgarantien 2 Diese Verfassung gewährleistet überdies: a) Das Recht, dass Eltern innert angemessener Frist zu finanziell tragbaren Bedingungen eine staatliche oder private familienergänzende Tagesbetreuungsmöglichkeit für ihre Kinder angeboten wird, die den Bedürfnissen der Kinder entspricht. !! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 13! Verfassungsentwurf des Kantons Genf 14. Oktober 2012 Art. 16 Droits des personnes handicapées 1 L‘accès des personnes handicapées aux bâtiments, installations et équipements, ainsi qu‘aux prestations destinées au public, est garanti. 2 Dans leurs rapports avec l‘Etat, les personnes handicapées ont le droit d‘obtenir des informations et de communiquer sous une forme adaptée à leurs besoins et à leurs capacités. 3 La langue des signes est reconnue. Art. 18 Droit à la vie et à l‘intégrité 1 Toute personne a droit à la sauvegarde de sa vie et de son intégrité physique et !! psychique. 2 La torture et tout autre traitement ou peine cruels, inhumains ou dégradants sont interdits. 3 Nul neu peut être refoulé sur le territaire d‘un Etat dans lequel il risque la torture ou tout autre traitement ou peine cruels et inhumains ou toute autre atteinte grave à son intégrité. Art. 19 Droit à un environnement sain Toute personne a le droit de vivre dans un environnement sain. Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 14! 3.3 Öffentliche Aufgaben! • Gründe für einen Aufgabenkatalog: Föderalistische, verfassungstheoretische und demokratische Perspektive.! • Detaillierter Aufgabenkatalog oder allgemein gehaltene Staatsziele?! • Bedeutung des Verfassungsvorbehalts (AG, BL, TG).! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 15! Verfassung des Kantons Genf 14. Oktober 2012 Art. 148 Principes 1 Les tâches de l‘Etat sont exécutées par le canton et, conformément à la constitution à la loi, par les communes et les institutions de droit public. 2 L‘Etat accomplit ses tâches avec diligence, efficacité et transparence. 3 Il s‘organise de façon structurée. Il définit les responsabilités de ses agents et s‘appuie sur leur autonomie et leurs compétences. Art. 150 Service public 1 Le service public assume les tâches pour lesquelles une intervention des !! publics est nécessaire. pouvoirs Art. 151 Evaluation 2 L‘Etat évalue périodiquement la pertinence, l‘efficacité et l‘efficience de son action. Il s‘assure que les conséquences financières de son activité sont maîtrisées. Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 16! 3.4 Volksrechte! • Doppelfunktion der politischen Rechte.! • Artikel 34 und 39 BV: Stimm- und Wahlrecht.! • Artikel 40 BV: Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer.! • Ausländerinnen und Ausländer (seit 2010 Nein in BE, GL,VD,ZH. Abstimmungen SH und JU 28.9.14).! • Stimmrechtsalter 16. ! • Martina Caroni, Herausforderung Demokratie, ZSR 132 (2013) II 5ff.! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 17! Wahlen! • Majorzwahlen und Proporzwahlen.! • Grenze für natürliche und direkte Quoren bei rund 10 % (BGE 131 I 74 ff., 136 I 376ff., 383 ff.).! • Doppelter Pukelsheim (ZH, AG, SH), Wahlkreisverbände.! • § 48 KV SZ vom 15. Mai 2011 (Botschaft zur Gewährleistung der Verfassung des Kantons Schwyz vom 15.8.2012 (BBl 2012 7915 ff.). Das Bundesparlament hat § 48 KV SZ nicht gewährleistet.! • Doppelter Pukelsheim in ZG und NW angenommen (22.9.13).! • VS: Reform der Institutionen angekündigt: 7 Mitglieder des Staatsrats (Majorz, 2 Sitze für das Oberwallis), 130 Mitglieder des Grossen Rats neu in sechs (statt 14) Wahlkreisen zu wählen (Proporz; BGE 140 I 7).! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 18! Initiativen und Referenden ! • Artikel 51 Absatz 1 BV: Obligatorische Volksabstimmung über Kantonsverfassungen.! • Verfassungsinitiativen und Gesetzesinitiativen. ! • Referenden: Verfassungsreferendum, Gesetzesreferendum, Finanzreferendum, Staatsvertragsreferendum. !! • Konstruktives Referendum: Artikel 63 Absatz 3 KV BE (Volksvorschlag), Artikel 35 KV ZH am 23.9.2012 aufgehoben (Referendum mit Gegenvorschlag von Stimmberechtigten). ! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 19! Quoren für Initiativen und Referenden! • • • • Bern: Initiativen 15‘000 Unterschriften (2,7 % der Stimmberechtigten), Referenden 10‘000 Unterschiften (1,38% der Stimmberechtigten).! Zürich: Initiativen 6000 Unterschriften (0,67% der Stimmberechtigten), Referenden 3000 Unterschriften (0,34% der Stimmberechtigten).! Basel-Stadt: Initiativen 3000 Unterschriften (2,63 % der Stimmberechtigten), Referenden 2000 Unterschriften (1,75 % der Stimmberechtigten).! Genf: Verfassungsinitiativen 4% der Stimmberechtigten (Art. 56 KV GE) Gesetzesinitiativen 3 % der Stimmberechtigten (Art. 57 KV GE), Referenden 3% der Stimmberechtigten (Art. 67 KV GE).! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 20! Verfassung des Kantons Luzern 17. Juni 2007 § 23 Obligatorisches Referendum Den Stimmberechtigten sind zur Abstimmung vorzulegen: a. der Beschluss über die Einleitung der Totalrevision der Kantonsverfassung und Änderungen der Kantonsverfassung, b. Gesetze und Beschlüsse des Kantonsrates, mit denen freibestimmbare Ausgaben für Vorhaben im Gesamtbetrag von mehr als 25 Millionen Franken bewilligt werden; bei wiederkehrenden Ausgaben ist vom Gesamtbetrag der einzelnen Betreffnisse auszugehen; ist dieser nicht feststellbar, ist der zehnfache Betrag einer Jahresausgabe massgebend, c. interkantonale und andere Verträge, die für den Kanton freibestimmbare Ausgaben von mehr als 25 Millionen zur Folge haben, d. Vorlagen, die dem fakultativen Referendum unterliegen, wenn der Kantonsrat dies beschliesst, e. Initiativen, die der Kantonsrat ablehnt, f. Änderungen des Kantonsgebietes, ausgenommen Grenzbereinigungen, g. weitere, im Gesetz vorgesehene Beschlüsse des Kantonsrates. Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 21! Verfassung des Kantons Zürich 27. Februar 2005 Art. 34 Teil- und Variantenabstimmung 1 !Für den Fall einer Volksabstimmung kann der Kantonsrat ausnahmsweise beschliessen:! !a. der ganzen Vorlage oder einzelnen Bestimmungen eine Variante gegenüber zu stellen; b. zusätzlich zur ganzen Vorlage auch über einzelne Bestimmungen abstimmen zu lassen.! 2 !Findet keine Volksabstimmung statt, so gilt die vom Kantonsrat verabschiedete Hauptvorlage. ! Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 22! Verfassung des Kantons Genf 14. Oktober 2012 Art. 66 Référendum en matière d‘assainissement financier 1 Dans le cadre des mesures nécessaires à l‘assainissement financier, la loi peut prévoir que sont soumises d‘office au corps électoral des mesures de rang législatif. 2 Pour chacune des ces mesures réduisant les charges, le vote oppose la modification législative proposée à une augmentation d‘impôt d‘effet équivalent. !! 3 Chaque personne prenant part au vote doit procéder à un choix, ne pouvant opposer ni un double refus, ni une double acceptation à l‘alternative proposée. (vgl. dazu Art. 165 KV VD und Skriptum, S. 27) Kurt Nuspliger Bernisches Staatsrecht / Herbstsemester– Seite 23!
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