Das deutsche Nachrichten-Magazin Hausmitteilung Betr.: Titel, Salgado, KulturSPIEGEL, SPIEGEL WISSEN D ie PKK, offiziell noch eine Terrororganisation, ist zum wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) geworden. Ihre etwa 15 000 Kämpfer sind die einzige politische Kraft, die willens und in der Lage zu sein scheint, den Vormarsch der Dschihadisten zu stoppen. Es ist eine verwirrende Allianz in Stock (r.), Werner (3. v. r.) mit PKK-Kämpfern einem verworrenen Konflikt. Vier Redakteure des SPIEGEL waren in der vergangenen Woche unterwegs, um sich vor Ort ein Bild zu machen. Maximilian Popp stattete dem Bruder des inhaftierten PKK-Anführers Abdullah Öcalan in der Osttürkei einen Besuch ab. Christoph Reuter schlug sich zur kurdischen Enklave Afrin in Syrien durch, wo die Kurden einem eigenen Staat schon sehr nahe gekommen sind, ohne ihn zu fordern. Jonathan Stock und Ralf Hoppe schließlich bereisten mit Fotograf Christian Werner die Front zwischen IS und Kurden, in der Nähe der nordirakischen Ölstadt Kirkuk. Hier kämpfen die irakischen Kurden der Peschmerga und die türkischen der PKK im Schichtdienst, die Peschmerga tagsüber, die besser organisierten PKK-Kämpfer in der Nacht. Drei-Sterne-General Dadawan Roshid Tofich bat, Folgendes auszurichten: „Vielen Dank für die Hilfe aus Deutschland, aber wir brauchen dringend schwere Waffen.“ Seite 82 S FOTOS: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL (O.); DIRK EUSTERBROCK (U.) PIEGEL-Redakteur Philipp Oehmke erwartete, ein Interview mit dem weltberühmten Fotografen Sebastião Salgado, 70, in New York führen zu können, doch Salgado erschien ein paar Stunden vor dem vereinbarten Termin und erklärte Oehmke und einigen anderen Gästen seine Fotos. Während des Rundgangs beschlich Oehmke ein seltsames Gefühl. Oehmke, Salgado Salgado schwärmte von der Natur, die er in den vergangenen Jahren vornehmlich fotografiert hatte, und sprach immer wieder resigniert über den Menschen. Oehmke warf sein Interviewkonzept über den Haufen und fragte Salgado, wo die Enttäuschung herrühre. Im Gespräch gab Salgado dann erschreckende Antworten. Seite 110 D er neuen Macht der Fans und dem Auto der Zukunft widmen sich in dieser Woche die Ausgaben von KulturSPIEGEL und SPIEGEL WISSEN. Wenn Fans ihren Pophelden fotografieren, Selfies posten, sind sie auf Augenhöhe mit dem Star, und das ist symptomatisch: Früher wurden Stars angehimmelt, heute entscheiden die Fans auf Facebook über Karrieren. „Ich war immer überzeugt, dass man den Fans eine wichtige Rolle zukommen lassen sollte“, sagt die US-Popmusikerin Taylor Swift im Interview mit dem KulturSPIEGEL. Swift hat sich inzwischen mehr als 45 Millionen Follower auf Twitter erarbeitet. Mitten in einer Revolution, deren Wendungen schwer abzusehen sind, steckt auch die Automobilindustrie. Neue Technologien verändern das Auto fundamental, erschaffen umweltfreundlichere, vernetzte, selbststeuernde Fahrzeuge. Was die Hersteller planen, wie sie sich vortasten in die Zukunft, beschreibt das neue SPIEGEL WISSEN, das am Dienstag erscheint. DER SPIEGEL 44 / 2014 5 Titel Die kurdische PKK ist die wohl schlagkräftigste Truppe im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ – und gilt doch selbst als Terrororganisation. Darf der Westen mit ihr kooperieren und einen Konflikt mit der Türkei riskieren? Eine Reise durch das Gebiet der Geächteten, die für viele nun zu einsamen Helden geworden sind. Seite 82 Am Menschen verzweifelt Reporter Sebastião Salgado wurde berühmt für seine elegischen Bilder menschlichen Leids: Minenarbeiter in Brasilien, Hungernde in Niger, Flüchtlinge aus Ruanda. Heute fotografiert er fast nur noch Urvölker und Tiere. Im SPIEGELGespräch sagt er: „Ich habe solche Brutalität gesehen, dass ich den Glauben an uns Menschen verloren habe.“ Seite 110 Konsum statt Kritik Universitäten Ichbezogen, materialistisch, nicht frei von Ressentiments gegen Zuwanderer – eine unveröffentlichte Studie der Bundesregierung zeichnet das Bild der neuen Studentengeneration, die sich gern schöne Dinge leistet und von Parteien und Hochschulpolitik nicht viel wissen will. Seite 44 6 Große Weine im Hitzestress Winzer Bordeaux allein hat mehr Rebfläche als alle deutschen Weingebiete zusammen, an der Rhône wird seit 2400 Jahren Wein gekeltert – nun aber gerät Frankreichs grandiose Weinkultur unter Druck. Der Klimawandel verdirbt vielerorts die Qualität der Reben, Weine werden plump, große Namen blass. Die Winzer kämpfen. Seite 64 Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Fotos Action Press, Getty Images, Reuters, STR, Christian Werner FOTOS S. 6: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL (O.); WIM WENDERS / NFP (M.L.); PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL (U.L.); MAURICE WEISS / OSTKREUZ (R.); S. 7: BUREAU233 / FACE TO FACE (O.); XXPOOL / ANDEAS REEG / AGENTUR FOCUS (M.); FIRO SPORTPHOTO (U.) Einsamer Widerstand In diesem Heft Titel 82 Kurden Wie ein verfemtes Volk im Krieg Ausland 81 Spanien blockiert europäische Integration gegen IS zum Partner des Westens wurde 90 Extremismus Junge Kurden aus Deutsch- land kämpfen gegen die Milizen des IS 94 92 Essay Mely Kiyak über die Last, Kurde zu sein 96 Deutschland 12 Leitartikel Frankreich und Deutschland 14 18 22 24 26 28 30 34 36 38 40 42 44 48 müssen sich auf einen gemeinsamen Eurokurs besinnen Merkel beklagt Widerstand gegen Russland-Sanktionen / Rentensatz soll sinken / Chefermittler spricht über MH17Absturz / Kolumne: Im Zweifel links Affären Die Bundesregierung will ein eigenes, abhörsicheres Datennetz – und holt sich eine Rüge vom Bundesrechnungshof CSU Der Machtkampf zwischen Ministerpräsident Horst Seehofer und seinem Finanzminister eskaliert Streiks Was die Regierung gegen die Arbeitsniederlegung von Lokführern und Piloten plant Grüne Realos wollen Jürgen Trittin loswerden Karrieren Während sich AfD-Chef Bernd Lucke in Brüssel müht, entgleitet ihm daheim die Partei Dschihadisten Was taugen die Gesetzesvorschläge von Justizminister Heiko Maas? Parteien Warum die Thüringer SPD mit den SED-Nachfolgern paktiert Europa Jean-Claude Juncker sucht 300 Milliarden Euro – aber er findet sie nicht Asse Die Vorbereitungen für die Bergung des Atommülls stocken Strafvollzug Der dramatische Hungertod eines Häftlings Verkehr Unfallrisiko Smartphone-Nutzer Universitäten Wie Deutschlands Studenten ticken Bayern Investoren machen sich den Tegernsee zur Beute Serie 52 Sieben Tage, die die Welt veränderten (Teil VII) Die DDR wird demokratisch – 97 100 106 Kultur 108 Restitutionsstreit um zwei Gemälde von 110 116 118 122 124 Körner / Vom Elend des Aufschiebens ner erobern ein Dorf in Nordpolen 64 Winzer Frankreichs weltberühmte Weine leiden unter dem Klimawandel 69 Homestory Warum ich meine Kinder beim Oscar-Preisträgerin und Frankreichs glamouröser Kinostar, wagt sich an eine Rolle von großer Wucht – als kranke Mutter, die um den Erhalt ihres Jobs betteln muss. Seite 116 Wissenschaft 128 132 134 136 137 Ebola wirklich aus? / Vandalismus durch Pilzsammler Archäologie Schiffsfriedhof in der Ostsee – Forscher rekonstruieren die Grausamkeiten des Großen Nordischen Krieges Landwirtschaft Wie Bakterien aus dem Erdreich den Pflanzenanbau revolutionieren Ethik SPIEGEL-Gespräch mit dem Palliativmediziner Gian Domenico Borasio über Sterbehilfe für Todkranke Internet Eine neue App macht Handys unabhängig von Mobilfunkstationen Kommentar Warum die Ebola-Hysterie in Europa absurd ist Jürgen Fitschen, Co-Chef der Deutschen Bank, droht ein Gerichtsverfahren wegen Prozessbetrugs. Die Anklageschrift zeigt, wie die Staatsanwaltschaft den zaudernden Manager in die Enge treibt. Doch der Aufsichtsrat steht hinter ihm. Seite 72 Sport Gesellschaft 63 Eine Meldung und ihre Geschichte Amerika- Egon Schiele / Die Ente von der Verhaftung des Street-Art-Künstlers Banksy / Kolumne: Mein Leben als Frau Reporter SPIEGEL-Gespräch mit dem Starfotografen Sebastião Salgado Film Die französische Schauspielerin Marion Cotillard in „Zwei Tage, eine Nacht“ Zeitgeist Die Zentralbibliothek von San Francisco bietet Obdachlosen Unterschlupf Fernsehen Die Serie „Lilyhammer“ erzählt von einem New Yorker Mafioso, der in Norwegen ein neues Leben beginnt Theaterkritik Kristin Scott Thomas als Elektra auf einer Londoner Bühne Marion Cotillard, 126 Reichen drei Wochen Quarantäne bei und stimmt für die Einheit 62 Sechserpack: Weltkulturerbe mit und ohne Großbritanniens / Polen und Russland streiten über Mahnmal Chile Präsidentin Michelle Bachelet über ihren Kampf gegen die Reste der Pinochet-Diktatur USA Die Demokraten müssen um ihre Mehrheit im Senat bangen Republikaner Wie zwei Milliardärsbrüder die Konservativen dirigieren China Zwei Jahre nach den ersten demokratischen Wahlen im Dorf Wukan sind viele Bürger enttäuscht Global Village Warum ein Amerikaner in der Schweiz nicht eingebürgert wird 139 Tennisstar Martina Hingis über ihr zweites Comeback als Doppelspezialistin / Wettskandal erschüttert Österreichs Profifußball 140 Fußball Der Volltreffer – Bayern Münchens neuer Stürmer Robert Lewandowski 146 Affären Sechs Professoren aus der Freiburger Sportmedizin unter Plagiatsverdacht Fußball in Amerika nicht anfeuern darf Medien Wirtschaft 70 Verfahren gegen Kinoportal / 72 75 76 78 80 Teure Stromhilfe für die Industrie / Draghi-Gegner im Aufwind Prozesse Wie die Staatsanwälte den Vorstand der Deutschen Bank in die Zange nehmen Soziales Unternehmer fürchtet die Rente mit 63 Geldanlage Luxemburgs neue Steueroase Japan Rückenwind für Ökoenergien Gastronomie Die Deutschen entdecken den Edel-Burger Farbige Seitenzahlen markieren die Themen auf der Titelseite. 149 Verfahren gegen „Berliner Morgenpost“ eingestellt / Buchhändler gegen Amazon / Absage an „Wetten, dass ..?“ 150 Entertainer SPIEGEL-Gespräch mit Jürgen von der Lippe über die Wiederauflage seiner „Geld oder Liebe“-Show 8 121 154 155 156 158 Briefe Bestseller Impressum, Leserservice Nachrufe Personalien Hohlspiegel / Rückspiegel Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/ briefkasten Robert Lewandowski, einer der besten Stürmer der Welt, spielt beim FC Bayern schon jetzt, kurz nach dem Wechsel, eine tragende Rolle. Willkommener Nebeneffekt für die Münchner: Borussia Dortmund kann den Verlust schwer verkraften. Seite 140 DER SPIEGEL 44 / 2014 7 Das verlassene Volk Kurden Die Terrororganisation PKK ist die letzte Hoffnung des Westens im Kampf gegen den „Islamischen Staat“. Wie wird ihr einsamer Widerstand die Region verändern? Eine Reise in die Kandil-Berge, die Südosttürkei und den syrischen Ministaat Afrin 82 DER SPIEGEL 44 / 2014 Titel M PKK-Kämpfer im Einsatz gegen IS bei Kirkuk itten in den Bergen nordöstlich von Arbil liegt das Hauptquartier einer der schlagkräftigsten Terrororganisationen der Welt. Oder des derzeit wichtigsten Verbündeten des Westens. Es kommt ganz darauf an, wie man sie sehen will, die kurdische Arbeiterpartei PKK. In ihre Herzkammer in den nordirakischen Kandil-Bergen kommt man nur mit Genehmigung der Führung. Nach Tagen des Wartens klingelt das Telefon: „Haltet euch bereit. Wir schicken unseren Fahrer.“ Am Vormittag erscheint ein schwarzhaariger Bauernsohn, der schweigend die kurvige Straße in die Berge hinauffährt. Am Straßenrand liegt das ausgebrannte Auto einer Familie, die hier vor drei Jahren bei einem türkischen Bombardement getötet wurde, das Wrack ist ein Mahnmal aus Schrott. Der Fahrer zeigt darauf und sagt: „Erdoğan ist verrückt geworden.“ Hinter dem letzten Checkpoint der kurdischen Autonomieregierung biegt das Auto um eine Straßenecke. Und dann ist da der Schnurrbart Abdullah Öcalans, ein riesiges Porträt aus farbigen Steinen auf dem gegenüberliegenden Bergrücken. Die Männer mit den Sturmgewehren tragen den gleichen Schnurrbart. „Habt ihr eine Genehmigung, Genossen?“, fragen sie. Offiziell ist hier die kurdische Autonomieregion im Nordirak, aber eigentlich ist dies der Staat der PKK. 50 Quadratkilometer schroffes Bergland, Sitz der Führung, Ausbildungslager für die Kämpfer, sogar eine eigene Polizei und eigene Gerichte gibt es. Grüne Hänge mit Granatapfelbäumen, Schafhirten, kleine Steinhütten am Wegesrand, dazwischen stehen amerikanische Humvees, erbeutet von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die sie von der irakischen Armee gestohlen hatte. Hier, in den Kandil-Bergen, koordiniert die Führung der PKK ihren Kampf – gegen IS im syrischen Kobane, im irakischen Kirkuk und im Sindschar-Gebirge. Und vielleicht bald auch wieder gegen die Türkei? Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass der Westen mit der Partiya Karkeren Kurdistan, kurz PKK, zusammenarbeitet. Sie steht nicht zu Unrecht auf der Liste der Terrororganisationen, in der Türkei hat sie in drei Jahrzehnten Tausende Zivilisten ermordet. Doch für viele im Westen sind die einst Geächteten nun zu einsamen Helden geworden, die den Nahen Osten vor IS retten sollen. Denn die etwa 15 000 PKK-Kämpfer sind die schlagkräftigste Truppe in der Region und die einzige Kraft, die willens und in der Lage scheint, IS zu bekämpfen. Sie sind diszipliniert und effizient, noch dazu prowestlich und säkular. Lieber hätte der Westen auf die traditionellen kurdischen Gegenspieler der PKK gesetzt, die Peschmerga, die über 100 000 Mann starke Armee der nordira- kischen Autonomieregion. Doch die Peschmerga wurden von der Stärke von IS überrumpelt; sie haben wenig Kampferfahrung, kaum moderne Waffen, keine einheitliche Ausbildung, kein zentrales Kommando. Sie sind nicht mal eine richtige Armee, eher eine Mischung aus Feierabendverein, Partisanentruppe und Spezialeinheiten. Praktisch kampflos überließen sie IS im August das Sindschar-Gebirge, Tausende kurdische Jesiden mussten fliehen. Auch anderswo zogen sich die Peschmerga zurück, sobald IS näher rückte. Die „Demokratische Partei Kurdistans“ von Massud Barsani, dem Präsidenten des Nordirak, ist im Prinzip ein Familienunternehmen mit angegliedertem Kleinstaat, ebenso korrupt wie konservativ. Die PKK mit ihrem syrischen Ableger YPG dagegen ist das Gegenteil: eine straffe Kaderorganisation, die zwar ebenfalls nicht demokratisch, aber auch nicht korrupt ist. In Kobane verteidigt sie sich hartnäckig gegen eine Übermacht der Dschihadisten. Sie war es, die in Sindschar einen Schutzkorridor für Zehntausende Jesiden schuf und ihnen die Flucht ermöglichte. Und sie ist es auch, die die irakischen Städte Machmur und Kirkuk gegen IS verteidigt. Die US-Luftwaffe wirft jetzt über Kobane Waffen für die YPG ab; die Bundeswehr liefert Panzerfäuste an die Peschmerga, aber nicht nach Kobane, wo sie viel dringender gebraucht werden. Und alle versichern dabei, dass diese Waffen natürlich nicht in die Hände der PKK gelangen würden. Politiker in Europa und den USA überlegen unterdessen zaghaft, die PKK von der Terrorliste zu streichen. Denn müsste man das nicht tun, wenn man mit ihr zusammenarbeitet – auch wenn man damit den Konflikt mit der Türkei riskiert? Es ist eine verwirrende Allianz in einem verworrenen Konflikt. Und sie wirft unbequeme Fragen auf: Darf der Westen den Kurden Waffen liefern – oder muss er es sogar, um ein Massaker zu vermeiden? Und was passiert, wenn sie jene Waffen eines Tages einsetzen, um gegen die Türkei zu kämpfen? Wenn ihr wachsendes politisches und militärisches Selbstbewusstsein am Ende doch in die Forderung nach einem eigenen Staat mündet? Für den Westen ist das ein schwieriger Balanceakt: Er muss sicherstellen, dass die Kurden die Schlacht um Kobane gewinnen – um IS aufzuhalten, aber auch, um den Friedensprozess zwischen PKK und der türkischen Regierung zu retten. Und gleichzeitig muss er verhindern, dass ein Triumph der Kurden die gesamte Region destabilisiert. Denn mit dem syrischen Bürgerkrieg und dem Kampf gegen IS hat möglicherweise ein Kurdischer Frühling begonnen, der die Verhältnisse im Nahen Osten radiDER SPIEGEL 44 / 2014 83 Titel PKK-Mitgründer Ok „Die junge Generation ist radikaler“ kal verändern könnte. Von fremden Mächten unterjocht, kämpften die etwa 30 Millionen Kurden, in ihrer Mehrheit sunnitische Muslime, in der Türkei, in Syrien, in Iran und im Irak lange vergebens um Anerkennung und einen eigenen Staat. Nur einmal, im 19. Jahrhundert, gab es für rund 20 Jahre eine Provinz Kurdistan, Teil des Osmanischen Reichs. Die westlichen Alliierten versprachen den Kurden dann nach dem Ersten Weltkrieg einen Staat, doch der türkische Staatsgründer Atatürk hielt sich nicht daran. Die Türkei erkannte die Kurden nicht als ethnische Minderheit an, ihre Sprache und Traditionen wurden verboten. Auch in Iran, Syrien und im Irak wurden sie diskriminiert und unterdrückt. Einer der traurigen Tiefpunkte dieser Verfolgung war das Massaker im irakischen Halabdscha. Damals, im März 1988, ließ Saddam Hus- sein seine Luftwaffe Giftgas auf die Stadt abwerfen, bis zu 5000 Kurden starben. Heute genießen die Kurden im Nordirak weitgehende Autonomie, mit eigener Regierung und Armee. Der Nordirak ist Vorbild und Konkurrenzprojekt für die Kurden der Region. Ein überkonfessionelles Erfolgsmodell, weil hier Sunniten, Alawiten, Jesiden und Christen friedlich nebeneinanderleben; gleichzeitig das stabilste, am stärksten prosperierende Gebiet des Irak. Und mit den Umwälzungen im Nahen Osten hoffen die Kurden in Syrien und in der Türkei auf ein ähnliches Modell. Doch IS bekämpft die Kurden besonders erbittert, obwohl sie sunnitische Glaubensbrüder sind. Es ist gerade ihre neue Stärke, die sie für IS zum Ziel macht. Beobachten lässt sich das neue kurdische Selbstbewusstsein in den irakischen Kandil-Bergen, wo sich die PKK-Führung versteckt. Es ist zu erspüren in der Südosttürkei, im Heimatdorf ihres Anführers Abdullah Öcalan, und in Diyarbakır; an der Front in Kirkuk, wo die PKK die ISTruppen abwehrt; und im syrischen „Nachbarkanton“ von Kobane, der alle Anzeichen eines Staates aufweist. Kandil-Berge, Irak: bei der PKK-Führung Nachdem der Fahrer den Öcalan aus Stein passiert hat, bremst er irgendwann vor einer Bauernhütte. Wenig später trifft PKKSprecher Zagros Hiwa ein, er kontrolliert Kameras, sammelt Handys ein, zieht Gardinen zu. Dann holt er aus einer Plastiktüte die PKK-Flaggen und hängt sie an die Wand. Die PKK nutzt oft zivile Häuser, ständig wechseln ihre Anführer den Ort. Die wichtigsten kurdischen Akteure im Kampf gegen IS sind die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, und ihr syrisches Pendant, die PYD. Beide betrachten Abdullah Öcalan als ihren Führer und sind enge Verbündete. Ihre Kämpfer sind in eigenen militärischen Guerillagruppen organisiert, der militärische Arm der syrischen PYD nennt sich YPG, der militärische Ableger der türkischen PKK heißt HPG. Verwirrend wird das Ganze noch zusätzlich dadurch, traditionelle kurdische Siedlungsgebiete unter Kontrolle der IS-Milizen und ihrer Verbündeten Kurz darauf betritt Sabri Ok den Raum, mit seiner Leibgarde von fünf Kämpfern. Der 58-Jährige ist seit der Gründung der PKK 1978 dabei, er gehört zur obersten Führungsebene. Insgesamt 22 Jahre lang war er in türkischer Haft und monatelang im Hungerstreik. Und natürlich hat er gegen den türkischen Staat gekämpft. Seit 2012 laufen Friedensverhandlungen, aber falls Kobane fallen sollte, sagt Ok, sei es mit dem Frieden vorbei. Dann werde es wieder Anschläge und Gewalt in der Türkei geben. Viele junge PKK-Anhänger wollen zurück in den Kampf. „Die neue Generation ist anders als wir Alten, sie ist radikaler“, sagt Sabri Ok sorgenvoll. „Sie haben den Krieg in Kurdistan gesehen, ihre Brüder und Schwestern sind in Syrien gestorben. Es wird schwer, sie zu kontrollieren.“ Er ist ohnehin der Meinung, dass die türkische Regierung mit den Gesprächen nur Zeit schinden will. An eine friedliche Lösung glaubt er nicht. „Wir lieben den Krieg nicht, aber die kurdische Frage muss gelöst werden“, sagt er. „Es ist absurd, wenn Nordkurdistan Friedensverhandlungen führt, während dieselben Kurden von IS in Kobane mit Unterstützung der Türkei ermordet werden.“ Die Türken, sagt er, gäben IS Artillerie und Geld, behandelten Verletzte, ließen Kämpfer die Grenze passieren. Für Artillerie und Geld gibt es keine Belege; die anderen Vorwürfe stimmen. Seit 37 Tagen, sagt er, verteidige die YPG die Stadt. „Und ohne sie“, sagt er, „wäre Kobane schon 37-mal gefallen.“ Und die 200 Peschmerga aus dem Irak, die jetzt Kobane unterstützen sollen? „Welche Peschmerga?“, fragt Ok grinsend. „Ich dass sich beide Gruppen auch im nordirakischen Kurdistan aufhalten. Unabhängig von PKK und PYD sind die Peschmerga, die offiziellen Streitkräfte der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Sie sind berühmt durch ihren Unabhängigkeitskampf gegen die Zentralregierung in Bagdad, vor allem gegen den früheren Diktator Saddam Hussein. Die Peschmerga sind der PKK zahlenmäßig überlegen, gelten aber als wenig schlagkräftig. ARMENIEN ASERBAIDSCHAN Ankara TURKMENISTAN TÜRKEI Ka s p i s c h e s Meer Diyarbakır Ömerli Afrin Kobane Aleppo ZYPERN M i t te l m e e r 250 km Damaskus SYRIEN KandilBerge Mossul Arbil AutonomeRegion Machmur Kurdistan Sindschar- Kirkuk Halabdscha Dakuk Gebirge Kamischli Eu ph ris Tig Gebiete der syrischen Kurden Hakkari IRAK Teheran IRAN rat Bagdad Quellen: Thomas van Linge; Stand: 5. Oktober; BPB 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 FOTOS S. 82: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL; S. 84/85: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL (L.); FERDI LIMANI / LE JOURNAL / DER SPIEGEL (R.) Kurdische Kämpferinnen beim Training im syrischen Afrin: „Die Türken unterstützen IS, die Amerikaner unterstützen uns“ habe mit den Peschmerga gekämpft, vor 30 Jahren war das. Aber das ist nicht mehr dieselbe Armee, sie sind schwach geworden. Wenn Leute nur rumsitzen, dann verlieren sie den Willen zu kämpfen.“ Kobane, sagt er, brauche keine Peschmerga. Sondern Waffen, Medikamente und Munition. Dass die PKK in Deutschland noch immer verboten ist, hält Ok für ungerecht. Habe man nicht die gleichen Prinzipien wie der Westen? Frauenrechte, Schutz der Umwelt, Demokratie? Die dunkle Seite der PKK lässt er nicht gelten; den Vorwurf von Auftragsmorden, Drogenhandel, Kidnapping und Terroranschlägen. Dann lädt Ok zum Essen ein, es gibt wilden Honig, Hähnchen und Salat. Kirkuk, Irak: an der Front gegen IS Rund um Kirkuk verlaufen noch die alten Verteidigungsanlagen aus der Zeit Saddam Husseins, die er als Bollwerke gegen die Kurden bauen ließ. Jetzt stehen hier gemeinsam die Einheiten von Peschmerga und PKK und blicken auf die schwarze Flagge des IS, die gegenüber weht. Die irakische Armee hat Kirkuk vor Monaten verlassen, nur die Kurden schützen die Ölstadt gegen die wenige Kilometer entfernten Dschihadisten. Obwohl PKK und Peschmerga sich bisweilen bekämpften, arbeiten sie nun zusammen. Tagsüber bewachen die 150 Peschmerga die Front, zum Sonnenuntergang kommen die 300 PKK-Kämpfer, die entscheidenden Gefechte finden nachts statt. Etwas südlich, bei Dakuk, sitzt ihr Kommandant Agid Kellary. Der PKK-Mann hat sich in den halb fertigen Wohnungen einer Baufirma eingerichtet. Über das Lager rattert ein Hubschrauber der irakischen Armee, Schüsse sind zu hören. Kellary, ein freundlicher Mann mit leiser Stimme, der früher Literatur studiert hat, erklärt: „Wir haben hier die Kontrolle. Wenn du keine Stärke zeigst, respektiert dich niemand.“ Kirkuk liegt an der wichtigen Verbindungsstraße zwischen Arbil und Bagdad, die Gegend ist flach, wer die Stadt kontrolliert, kontrolliert auch das Umland. Bulldozer schieben große Wälle um das Lager auf, Arbeiter heben metertiefe Gräben hinter der Front aus. Man hat sich darauf eingestellt, lange zu bleiben. Kellary hofft auf den Winter, dann sei die Ebene verschneit oder verschlammt, sodass IS sich nur auf den großen Straßen fortbewegen könne, und die seien einfacher zu halten. Doch IS ist ein starker Gegner. Er verfügt über mehr als 30 000 Kämpfer, schier unerschöpfliche Mittel und modernste schwere Waffen, viele davon hat er in den vergangenen Monaten erbeutet: vor allem von der irakischen Armee, die von den USA aufgerüstet worden war, aber auch vom syrischen Regime. Vorvergangene Woche präsentierte IS sogar drei Kampfflugzeuge samt Piloten, doch das war wohl Propaganda. Auch diese beherrschen die Dschihadisten hervorragend. Als Nächstes sagt Kommandant Kellary einen Satz, der vor ein paar Monaten noch undenkbar gewesen wäre: „Wir danken den Amerikanern für ihre Hilfe. Wenn sie uns helfen, helfen sie sich auch selbst. Wir haben denselben Feind.“ Auch die Waffenhilfe von Deutschland an die Peschmerga sei schön. Wichtiger wäre es allerdings, wenn die Deutschen endlich aufhörten, die Türkei zu unterstützen. Während der Kampf um Kobane in alle Welt übertragen wird, nehme den neuerlichen Kampf im Sindschar-Gebirge kaum jemand wahr, sagt Kellary. „Unsere Einheiten sind eingeschlossen, unter Dauerfeuer, das ist das schwerste Gefecht, an das ich mich erinnern kann.“ Der Korridor, durch den sie vor einigen Wochen Nahrung und Hilfsgüter zu den Jesiden ins Gebirge gebracht haben, ist nun von IS besetzt, es droht ein erneutes Massaker. Heydar Shesho, der Kommandeur der jesidischen Armee in den Bergen, klingt am Telefon verzweifelt: „Wir sind von allen Seiten umzingelt, IS greift uns mit Panzern und Artillerie an. Hier sind immer noch 2000 Familien. Wenn uns keiner hilft, werden wir alle getötet.“ Es gebe keine Luftunterstützung der USA, keine Hilfslieferungen, dabei brauchten sie dringend schwere Waffen. Auch etwa hundert Peschmerga wurden von der kurdischen Regierung per HubDER SPIEGEL 44 / 2014 85 schrauber auf den Berg geflogen. „Aber die kann man vergessen“, sagt Shesho. „Die warten hier nur und kämpfen nicht, dann sollen sie lieber nach Hause fliegen.“ Ömerli, Türkei: beim Bruder Öcalans Der Ort, an dem man dem PKK-Anführer am nächsten kommt, ist das Dorf Ömerli an der türkisch-syrischen Grenze, 70 Kilometer von Kobane entfernt. Hier wurde Abdullah Öcalan geboren, hier wuchs er auf, und hier lebt noch immer sein jüngerer Bruder Mehmet. Der Weg führt durch Pistazienplantagen, bis man vor einem schlichten Steinhaus steht. Vom Dach hängen Girlanden im kurdischen Grün-Gelb-Rot mit dem Porträt Kinder zur Schule zu schicken. Mehmet hat deshalb nie lesen und schreiben gelernt; Abdullah aber war ein guter Schüler, er schaffte es auf eine höhere Schule in Ankara. Politik sei im Elternhaus nie ein Thema gewesen, sagt Mehmet Öcalan, auch die kurdische Herkunft habe keine Rolle gespielt. Der Staat leugnete die Existenz der Kurden, sie wurden eine Zeit lang „Bergtürken“ genannt. Ihre Sprache war verboten. Die Öcalans passten sich an. Doch Abdullah Öcalan suchte nach Orientierung, eine Weile glaubte er, sie im Islam gefunden zu haben. Er ging oft in die Moschee in Diyarbakır, wo er zwei Jahre lang im Grundbuchamt arbeitete. Er sparte seinen Lohn und schrieb sich An- Ein Generationenkonflikt spaltet die kurdische Bewegung. Die Jungen wollen den Konflikt auf der Straße austragen. Abdullah Öcalans. Darunter sitzt Mehmet Öcalan, 63, auf einem Plastikstuhl, die Ähnlichkeit mit dem Bruder ist unverkennbar: die gleiche gedrungene Statur mit den hängenden Schultern, die gleichen groben Gesichtszüge, der gleiche breite Schnauzer. Er ist Bauer, seine Hände sind zerschunden von der Feldarbeit, seine Kleidung ist einfach: blaues Hemd, Stoffhose, Sandalen. Er führt ins Wohnzimmer, auch hier sind die Wände voller Bilder des Bruders und anderer PKK-Kommandanten. Die Geschichte der Familie Öcalan ist eng verwoben mit der Geschichte ihres Volkes. Es ist eine Geschichte voller Hoffnungen, Enttäuschungen und Gewalt. Die Familie Öcalan war arm, die Eltern konnten es sich nicht leisten, alle sieben Bauer Mehmet Öcalan in seinem Haus „Abdullah hat getan, was er tun musste“ 86 DER SPIEGEL 44 / 2014 fang der Siebzigerjahre an der Universität Ankara für Politikwissenschaften ein. Es war eine Zeit, in der linke und rechte Gruppen aufeinander losgingen, Tausende Menschen starben bei Straßenschlachten. Abdullah Öcalan wurde vom frommen Muslim zum Sozialisten, der Marx und Mao bewunderte. Er engagierte sich in einer linksextremen Bewegung und wurde zu monatelanger Haft verurteilt. Die Zeit im Gefängnis radikalisierte ihn, er sah, wie politische Gefangene gefoltert wurden. Und er begann, sich mit der Unterdrückung seines Volkes zu beschäftigen. Nach seiner Freilassung gründete Abdullah Öcalan eine Gruppe, aus der 1978 die PKK hervorging. Er propagierte einen unabhängigen kurdischen Staat durch den bewaffneten Kampf, seine Truppen verübten Anschläge, nahmen Geiseln, ermordeten Soldaten, aber auch Tausende Zivilisten. Europa und die USA setzten die PKK auf die Terrorliste. Mehmet Öcalan hat seinen Bruder von 1977 an mehr als zwei Jahrzehnte nicht gesehen; er blieb in seinem Heimatdorf, der PKK schloss er sich nicht an. Trotzdem litt er unter der Verfolgung durch den türkischen Staat. Immer wieder stürmten Polizisten sein Haus, er wurde verhaftet und im Gefängnis geschlagen. Der türkische Staat ließ in den Achtzigerjahren Tausende Kurden foltern. Vor allem im Militärgefängnis in Diyarbakır, der „Hölle Nr. 5“, wurden Insassen brutal misshandelt. Die Wärter zwangen die Gefangenen, sich gegenseitig zu vergewaltigen und in einer Badewanne mit Fäkalien zu verharren. Sie rissen ihnen Haare und Nägel aus, quälten sie mit Elektroschocks. Die PKK hatte der Türkei den Krieg erklärt. Und der türkische Staat bekämpfte die Kurden. Soldaten setzten Dörfer in Brand, erschossen Bauern und vergewaltigten deren Frauen. Hunderttausende Kurden flohen aus ihren Dörfern. Auch Mehmet Öcalan musste Ömerli verlassen, er verdingte sich als Erntehelfer am Golf von İskenderun und konnte erst einige Jahre später in seine Heimat zurückkehren. Dabei war die PKK unter Kurden zunächst umstritten, mit ihrer marxistischleninistischen Befreiungsideologie konnten viele der Bauern wenig anfangen. Zudem ging Abdullah Öcalan brutal gegen Dissidenten vor. Er verfolgte vermeintliche Kollaborateure bis ins Ausland und ließ selbst Frauen und Kinder hinrichten. Die Grausamkeit des Militärs jedoch trieb der PKK massenhaft Unterstützer in die Arme. Mehmet Öcalan hält ein Foto seines Bruders in Camouflage in der Hand. Er sagt, er mache dem Bruder keinen Vorwurf für all das, was geschehen sei. „Abdullah hat getan, was er tun musste.“ Er selbst sei kein politischer Mensch, sagt er, aber er unterstütze den Kampf seines Bruders. Erst 1999 wurde der PKK-Führer vom türkischen Geheimdienst in Kenia gefasst, mithilfe der CIA. Er wurde wegen der Gründung einer terroristischen Vereinigung, wegen Mordes und Hochverrats zum Tode verurteilt und später zu lebenslanger Haft begnadigt. Seit 15 Jahren sitzt er im Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel İmralı im Marmarameer. Er darf seine Zelle nur einmal am Tag für eine Stunde verlassen. Lange war ein Radio sein einziger Zugang zur Außenwelt; seit zwei Jahren besitzt er auch einen Fernseher. Er leide unter Migräne, das Atmen falle ihm schwer, berichtet einer seiner Anwälte. Beim ersten Treffen der Brüder habe der PKK-Gründer blass ausgesehen und abwesend gewirkt, erinnert sich Mehmet Öcalan. Die beiden konnten lediglich eine Viertelstunde lang miteinander sprechen. Abdullah habe gesagt: „Du weißt, ich habe all das für das kurdische Volk getan.“ Inzwischen ist Mehmet Öcalan die wichtigste Verbindung seines Bruders zur Außenwelt. Er selbst tritt so gut wie nie öffentlich in Erscheinung, aber er empfängt kurdische Politiker, um über die Ideen seines Bruders zu diskutieren. Ungestört reden könnten sie bei ihren Treffen auf İmralı nie, immer säßen Sicherheitskräfte mit im Raum, erzählt Mehmet Öcalan. Die Unterhaltungen liefen stets gleich ab: Abdullah Öcalan erkundige sich zunächst nach der Familie, dann diskutierten sie über politische Fragen. Beim letzten Treffen Anfang Oktober sei der Bruder aufgebracht gewesen, erzählt Mehmet Öcalan. Er befürchte, dass die Regierung den Friedensprozess torpediere. Die türkische Regierung hatte 2009 in Oslo geheime Gespräche mit der PKK aufgenommen. Im Herbst 2011 wandte sich die Regierung an den Mann auf İmralı, denn nur mit seiner Zustimmung schien ein Friedensvertrag umsetzbar. Sein Bruder, sagt Mehmet Öcalan, habe den Verhandlungen mit der Regierung zugestimmt, FOTO: EMIN OZMEN / DER SPIEGEL Titel FOTO: FERDI LIMANI / LE JOURNAL FOR DER SPIEGEL Straßenszene in der syrischen Kurden-Enklave Afrin: Von einem eigenen Staat wird nicht geredet, er wird einfach geschaffen weil er erkannt habe, dass der Guerillakrieg den Kurden nicht zu mehr Rechten und mehr Freiheit verholfen habe. Seither hat sich für die Kurden tatsächlich viel verbessert: An den Schulen wird ihre Sprache unterrichtet, es gibt kurdische Fernsehsender und Zeitungen. Vielen Kurden geht es heute wirtschaftlich besser, sie profitieren vom Wirtschaftsboom und von den Investitionen der Regierung im bisher vernachlässigten Südosten. Im Sommer verabschiedete das Parlament in Ankara ein Gesetz, das PKK-Kämpfern die Rückkehr aus den Kandil-Bergen erleichtern sollte. Abdullah Öcalan sprach von einer „historischen Initiative“. Ein Ende des jahrzehntelangen Konflikts schien nah. Nun aber, sagt Mehmet Öcalan, stehe die PKK am Scheideweg. Sein Bruder habe gesagt, er könne die Verhandlungen nur fortsetzen, wenn Erdoğan die Unterstützung für IS einstelle. Die türkische Regierung verfolgt eine schizophrene Politik gegenüber den Kurden; vor Kurzem verglich Erdoğan die PKK mit IS, noch immer verweigert er Hilfslieferungen für Kobane. Es scheint, als setze Erdoğan darauf, dass sich die Kurden mit einem Minimalkompromiss zufriedengeben – den Abdullah Öcalan durchsetzt, allein schon, um aus dem Gefängnis zu kommen. Und vielleicht auch, um nicht als Terrorist, sondern als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen. Doch es ist ein riskantes Spiel, das die Ra- dikalen stärkt. „Einzig meinem Bruder ist es zu verdanken, dass der Konflikt noch nicht eskaliert ist“, sagt Mehmet Öcalan. Aber es ist fraglich, wie lange sie noch auf ihn hören. Diyarbakır, Türkei: die junge Generation In einem Betonbau am Stadtrand von Diyarbakır sitzt Ulaş Yasak, ein junger PKK-Aktivist, in einem fensterlosen Raum, raucht Zigaretten ohne Filter und wartet. „Ich bin bereit zuzuschlagen“, sagt er. Vor ihm auf dem Tisch liegen Zeitungen in kurdischer Sprache, an der Wand hängen Poster von Abdullah Öcalan. Yasak ist 30, doch er sieht älter aus: hager, die Wangen eingefallen, Dreitagebart. Er hat lange für die PKK im Nordirak gekämpft, nun kommandiert er die „Union der Gemeinschaften Kurdistans“, kurz KCK, eine Untergruppe der PKK. Die Gruppe baut ein Parallelsystem auf, mit eigenen Schulen, Sicherheitskräften, Richtern. Yasaks wirklicher Name soll deshalb geheim bleiben. Ein Generationenkonflikt spaltet die kurdische Bewegung. Die Jungen scheinen entschlossen, den Konflikt auf der Straße auszutragen. In den vergangenen Wochen lieferten sich Yasak und seine Kameraden Schlachten mit türkischen Sicherheitskräften. Bei landesweiten Ausschreitungen starben Anfang Oktober mehr als 20 Menschen. Die Szenen erinnerten an die Neun- zigerjahre, als der Konflikt zwischen Türken und Kurden die Region verwüstete. Am Vorabend, erzählt Yasak, habe er sich mit seinen Kameraden getroffen. Man habe beraten, was zu tun sei, falls die Türkei weiter dabei zusehe, wie die Kurden in Kobane von IS massakriert würden. „Unsere Führung rät uns, ruhig zu bleiben. Aber meine Leute verlieren die Geduld.“ Erdoğan, habe die Verhandlungen mit der PKK dazu benutzt, kurdische Wähler zu gewinnen. Kobane zeige, dass ihm nicht an Versöhnung gelegen sei. Denn Kobane, sagt er, verkörpere all das, wofür sie seit Jahren kämpften. Die Stadt sei Vorbild für die gesamte Region: eine von Kurden selbstverwaltete Enklave, demokratisch und säkular. Falls Kobane untergehe, warnt Yasak, werde auch die Türkei einen hohen Preis bezahlen. „Dann setzen wir das Land in Brand.“ 40 000 Menschen verloren in der Türkei in den vergangenen drei Jahrzehnten ihr Leben im Kampf zwischen PKK und Staat. Auch Yasaks Onkel und seine Cousine starben. Als Kind war es Yasak verboten, Kurdisch zu sprechen; als Student der Soziologie wurde er verhaftet, der Vorwurf: Propaganda für die PKK. Fünf Jahre saß er im Gefängnis, als er freikam, schloss er sich der PKK an. Mit dem Beginn des Friedensprozesses kehrte er zurück – und stellte fest, dass sich Diyarbakır veränderte. Seither haben DER SPIEGEL 44 / 2014 87 etliche türkische Firmen Filialen in Diyarbakır eröffnet. In Cafés sitzen junge Männer und Frauen mit Smartphones, die Läden haben rund um die Uhr geöffnet, der Flughafen wird derzeit zu einem der größten des Landes ausgebaut. Die Kurden profitierten wirtschaftlich vom Frieden, es gibt viele neue Unternehmer. Doch all das könnte in Gefahr sein. Afrin, Syrien: im kurdischen Ministaat Mehr als vor den Kurden im eigenen Land fürchtet sich die türkische Regierung vor den Kurden im Nachbarland Syrien. Sie bewohnen drei auseinanderliegende Gebiete, eines davon ist das umkämpfte Kobane. Ein anderes ist Kamischli, wo die Kurden mit Damaskus kooperieren und von wo aus die Luftwaffe des Assad-Regimes weiterhin zu ihren Vernichtungsflügen startet. Und dann gibt es noch Afrin, das einem kurdischen Miniaturstaat am nächsten kommt. Die Kurden nennen ihre drei Gebiete „Kantone“, und zumindest in Afrin ist die Namensanleihe aus der Schweiz treffend. Denn mitten in diesem verwüsteten Land existiert hier eine heile Welt. Knapp 2000 Quadratkilometer misst die Enklave, grün im Tal des Flusses Afrin, ansonsten schroff. Über die amtlich gezählten 1,2 Millionen Einwohner, 300 000 Flüchtlinge, 366 Dörfer, sechs Kleinstädte und das Zentrum von Afrin herrscht die PYD, der syrische 88 DER SPIEGEL 44 / 2014 Ableger der PKK. Es gibt eine funktionierende Verwaltung, Gerichte, Polizei und Geheimdienst. Die Regierung siedelt Firmen an, produziert Strom und hat sogar einen Wirtschaftsförderungsrat etabliert. Befreundete Rebellengruppen dürfen zum Shoppen kommen und ihre Verletzten hier behandeln lassen. Überall wird gebaut, noch abends um zehn sind Familien auf der Straße, neue Cafés haben aufgemacht, darunter eine Starbucks-Kopie. So sicher ist Afrin, dass mehr als hundert Textilfabriken aus der Trümmerstadt Aleppo hierhergezogen sind. Eine Abfüllanlage produziert seit drei Monaten die ersten Mineralwasser aus Afrin, „Kalos“ und „Hana“. Es gibt Seifenfabriken, Druckereien, Baufirmen; es werden Tomatenmark, Wasserschläuche und Toilettenpapier hergestellt. Was die türkische Regierung wohl am meisten beunruhigt, ist, wie geräuscharm dieses Experiment in Eigenstaatlichkeit funktioniert. Der kettenrauchende Bürgermeister Abdulrahman Ibo nennt als größte Errungenschaft: die Verlegung des Minibus-Bahnhofs aus der Stadtmitte. Der Energieminister, ein Goldhändler aus Aleppo, arbeitet an einem Gesetz zum Kiesabbau und wartet auf die Rückkehr seiner Mitarbeiterin aus Helsinki, die der Regierung dort ein Projekt zur Wind- und Solarenergie vorgeschlagen hat. Und Afrins Premierministerin Hevin Ibrahim, eine alawitische Chemie- und Physiklehrerin, telefoniert den neuen Schulbüchern hinterher, die von einem türkischen Verlag gedruckt wurden und über die Grenze geschmuggelt werden müssen. „Wir wollen keine Unabhängigkeit und keinen eigenen Staat“, beteuert die Premierministerin in ihrem Büro. „Wir wollen keine Feinde und versuchen unser Bestes, damit Syrien nicht zerfällt.“ Was sie täten, sei keine Staatsgründung, sondern „Selbstmanagement“. Niemand müsse Angst haben, „wir sind Technokraten“, sagt sie freundlich und gänzlich ungefährlich aussehend, mit Sakko und Rüschenbluse. Immer geht es entlang der feinen Linie, weder den völligen Bruch mit Damaskus zu wagen, noch die türkische Regierung mit allzu lautem Reden über die Abspaltung zu verprellen. Doch der Termin mit Hevin Ibrahim scheitert fast daran, dass selbst die Uhren hier anders gehen als im Rest Syriens: Die Regierung hat beschlossen, dass die Uhren um eine Stunde zurückgestellt werden, auf Winterzeit, wie in Europa. In einem geradezu ironischen Akt imitieren die Kurden in Afrin sogar einen der wichtigsten Schritte der Staatsgründung ihres ewigen Widersachers Türkei: Sie führen die lateinische Schrift ein. Kemal Atatürk hatte das vor etwa hundert Jahren genauso gemacht, um die Türkei aus der Konkursmasse des Osmanischen Reiches zu lösen. Im Schul- FOTO: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL Kurdische Milizionäre südlich von Kirkuk: Tagsüber kämpfen die Peschmerga, nachts, wenn es ernst wird, kämpft die PKK Titel unterricht, auf Ortsschildern, im Wochenblatt, überall wird nun nicht mehr in arabischer, sondern lateinischer Schrift geschrieben. „Das passt einfach besser zu unseren kurdischen Lauten“, erklärt Hevin Ibrahim in linguistischer Unschuld. Gründlicher kann man sich kaum abkoppeln von dem Staat, den man zu erhalten vorgibt. Aber mit genau dieser Strategie, leise und pragmatisch eigene Strukturen aufzubauen, sind die syrischen Kurden weit gekommen. Anfangs taten sie es, um das Vakuum nach dem Abzug der Truppen Assads zu füllen, doch inzwischen geht es weit darüber hinaus. „Wir bereiten jetzt einen Wahlrat für alle drei Kantone vor“, sagt die Premierministerin, „um schrittweise die Demokratie einzuführen.“ Falls der syrische Staat irgendwann doch implodieren sollte – die Kurden von Afrin sind vorbereitet. Vom eigenen Staat wird nicht geredet, er wird einfach geschaffen. Sabri Ok, der PKK-Führer in den Kandil-Bergen, ist da weniger diplomatisch, angesprochen auf Afrin ruft er begeistert: „Diese Selbstbestimmung wünschen wir uns für ganz Nordkurdistan und für alle kurdischen Gemeinschaften in der Welt.“ Man wolle auch gern mit der Türkei ins Gespräch kommen, erzählt Afrins Außenminister Suleyman Jafer: „Wir haben denen sogar einen Brief geschickt, dass wir gern friedliche Beziehungen mit ihnen hätten, aber es kam keine Antwort.“ Ansonsten habe er mit richtigen Staaten noch nicht so viel Kontakt gehabt, räumt Jafer ein. Es hat etwas von Europa zu Zeiten nach Perspektive könnte man sagen: Sie ernten, ohne die Opfer der anderen erbracht zu haben. Oder sie haben einfach das Beste aus dem Krieg gemacht. Dennoch ist allen in Afrin klar: Sollte Kobane trotz Hilfe aus der Luft den Horden von IS unterliegen, wäre ihre friedliche Welt das nächste Ziel der Radikalen. Im Visier der Dschihadisten ist Afrin längst: Vor Kurzem flog ein 17-Jähriger auf, der von IS angeworben, in der Türkei trainiert und dann als Ein-Mann-Schläferzelle nach Hause geschickt worden war. Er solle zur YPG gehen und auf weitere Befehle warten, sagte ihm sein Instrukteur. Auch Anschläge auf Kontrollpunkte um Afrin gab es bereits. Und alle drei, vier Monate tauschen YPG und IS Gefangene aus, Dschihadisten gegen Kurden. Doch der wirkliche Herrscher von Afrin ist nicht Premierministerin Hevin Ibrahim mit ihrem lustigen Kabinett, sondern Sipan, der Kommandeur der YPG, die mit geschätzt 30 000 Männern und Frauen in Kobane, Kamischli, in Kirkuk und im Sindschar-Gebirge kämpft. Um Sipan zu treffen, muss man stundenlang von Posten zu Posten fahren, bis zu einer Holzhütte im Wald. Aus der tritt nach ein paar Minuten der Kommandeur mit drei Begleitern. Er trägt Kampfanzug und Lederjacke, raucht Slims, trinkt Tee mit wenig Zucker, hat ein offenes Gesicht und aufmerksame Augen. Sipan sagt, er sei 40 Jahre alt, mehr als seinen Kampfnamen gibt er von sich nicht preis. Dann will er erst mal wissen, wie die deutsche Regierung den Krieg um Kobane Es mischen sich zwei Dinge, der Einsatz für die kurdische Nation und zugleich für ein wenig eigene Freiheit als Frau. des Dreißigjährigen Krieges, doch Jafers Sehnsucht ist das Europa von heute: „Wir sollten einfach miteinander auskommen. Wie die EU. Eine Welt ohne Grenzen!“ Ihre eigenen Grenzen allerdings haben die Regierenden gründlich befestigt: Auf allen Hügelspitzen des Kantons wächst seit vier Monaten eine Art kurdische MaginotLinie, mit Wehrtürmen, die durch unterirdische Laufgänge mit Stahlbetondecken verbunden sind. Rund um den Kanton wird überdies ein vier Meter tiefer und breiter Graben ausgebaggert, 50 Kilometer lang. Keine Grenze, natürlich, sondern nur eine Schutzmaßnahme. Im Moment ist es ruhig an den Rändern von Afrin. Aber fast ein Jahr lang, bis Anfang 2014, war der Kanton belagert von IS und anderen syrischen Rebellengruppen, die den Kurden ihre Kooperation mit dem Assad-Regime übelnahmen. Denn im Windschatten des Bürgerkriegs haben die Kurden ihre Gebiete übernommen, ohne dafür so maßlose Zerstörung zu erleiden wie die arabischen Dörfer und Städte. Je und die Rolle der Türkei sehe. Dass Deutschland nur an die Peschmerga Waffen liefere und nicht an die YPG, die doch den Kampf um Sindschar anführe, sei widersinnig, sagt er. „Sie könnten uns auch direkt Waffen geben.“ Mit den Amerikanern gebe es seit September Treffen in Europa und im Nordirak. „Dabei haben wir besprochen, wie unsere Kämpfer in Kobane Zielkoordinaten ermitteln und weiterleiten können.“ Offenbar erfolgreich, denn seitdem bombardiert die Luftwaffe IS deutlich zielsicherer. Dass der türkische Präsident Erdoğan nun zugesagt habe, irakische Peschmerga nach Kobane gehen zu lassen, aber weiterhin den Zugang für die YPG blockiere, sei ein „türkisches PR-Manöver“. Die Peschmerga würden nicht kommen, „außerdem sollten die erst mal bei sich im Irak die Lage unter Kontrolle bringen“. Die Schlacht um Kobane werde immer mehr zum Stellvertreterkrieg, sagt der Kommandeur: „Die Türken unterstützen IS, die Amerikaner unterstützen uns. Es wird eine prägende Erfahrung für die USA und Europa sein, wer eigentlich ihr Freund und wer ihr Feind ist.“ Die YPG jedenfalls gibt sich große Mühe, ein Freund des Westens zu sein. Und dabei spielen die Frauen eine wichtige Rolle. Während IS verschleppte Frauen versklavt, ziehen die kurdischen Frauen an die Front. Im Trainingslager in Afrin treten 34 junge Frauen in Kampfanzug an, ihre Kommandeurin Saria ist gerade mal 24 Jahre alt. Anfangs wirkt die Szenerie eher beklemmend, aber nach einer Weile löst sich die Anspannung, wiederholen die Frauen nicht nur die Propagandaphrasen. Auf die Frage, wer von ihnen gekämpft habe, gehen zögerlich zehn Hände nach oben. Wie war es? Tuscheln, Kichern, schließlich meldet sich Bafri, 21, zarte Stimme, seit zwei Jahren ist sie dabei: „Egal, wie viel ich vorher trainiert hatte, es war doch anders gegen IS.“ Sie habe getötet, sagt sie: „Ich wusste, wofür ich es tat.“ Danach erzählen alle, sie diskutieren die Unterschiede zwischen Krieg in den Bergen und Häuserkampf, und sie tun etwas, was sehr ungewöhnlich ist für junge Frauen in diesem Teil der Welt: Sie sprechen frei vor einer Gruppe, vor Fremden. Später, beim Training, balancieren sie über einen zwei Meter hohen Balken, robben unter Stacheldraht durch und machen mitten im Lauf eine Rolle vorwärts über einen halbmeterhohen Block. Auch das ist etwas, was Frauen in der traditionellen kurdischen wie arabischen Welt selten tun. Und in der „Ideologiestunde“ wird es nicht um Kurdistan gehen, sondern darum, dass auch eine Frau ein Wesen mit Rechten ist. Es mischen sich zwei Dinge, der Einsatz für die kurdische Nation und zugleich für ein wenig eigene Freiheit als Frau. Die PKK hat in ihren Gebieten die starren Familienverhältnisse verändert, denn jeder Vater kann seiner Tochter zwar so gut wie alles verbieten – aber nicht, dass sie „in die Berge geht“, zur PKK. Aus diesem Trainingslager in Afrin sind acht junge Frauen nach Kobane gegangen; eine Mission ohne Wiederkehr, falls die Stadt fällt. Aber der Kampf gegen die Dschihadisten von IS sei nicht nur eine rein militärische Angelegenheit, ergreift die Kommandeurin das Wort: „Das ist mehr, das ist auch ein Kampf gegen dieses machohafte Gebaren.“ Gelächter steigt auf. „Das gibt es auch hier, unter Kurden. Diese Mentalität müssen wir beseitigen, dass wir den Männern einfach gehören.“ Ralf Hoppe, Maximilian Popp, Christoph Reuter, Jonathan Stock Video: Ein PKK-Kommandeur über die IS-Strategie spiegel.de/sp442014pkk oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 44 / 2014 89 Heimatfront in Syrien Extremismus Junge Kurden aus Deutschland ziehen für die verbotene Arbeiterpartei PKK in den Kampf – gegen die Milizen des „Islamischen Staats“. K urz vor der Grenze versteckten sie sich in einem ausgetrockneten Bachbett. Wenn Berdi Akpolat* und sein Cousin über den Rand lugten, sahen sie die Scheinwerferkegel der türkischen Patrouillenfahrzeuge. Sie passten die Lücke zwischen zwei Jeeps ab, rannten zum Zaun, legten ein Brett über den Nato-Stacheldraht und liefen hinüber nach Syrien. Dort erwartete sie eine Gruppe von knapp 20 bewaffneten Männern und Frauen. Ihr Anführer umarmte Akpolat. „Welcome to Rojava“, sagte er, bevor der Panzerbeschuss von der türkischen Seite begann. Die Kämpfer hätten zurückgefeuert, so erzählt es Akpolat, und seien mit ihm und seinem Cousin in ein Haus gelaufen, * Name von der Redaktion geändert. 90 DER SPIEGEL 44 / 2014 in dem einst Abdullah Öcalan, der Gründer der verbotenen Arbeiterpartei PKK, genächtigt haben soll. Es war weit nach Mitternacht, und die beiden Männer aus Deutschland hörten die Salven und Einschläge von den Gefechten zwischen den Guerillatruppen der PKK und den Terrormilizen des „Islamischen Staats“ (IS). Akpolat, 21, Stuttgarter Kurde mit deutschem Pass, sprach mit bewaffneten Frauen, die ihm sagten, er sei ideologisch schon so weit, dass er zum Kämpfen in die Region Kobane gehen könne. Als ein Pick-up-Geländewagen kam, seien sie aufgestiegen und hätten einen Platz für ihn frei gelassen, erzählt er. „Komm!“, riefen sie. Akpolat trat seine Reise im August an. Die deutschen Sicherheitsbehörden vermuten, dass er zu einer wachsenden Zahl junger Kurden aus Deutschland gehört, die dasselbe tun, was bislang vor allem von Salafisten bekannt war: Sie ziehen in den Bürgerkrieg nach Syrien. Nicht auf die Seite der Islamisten, sondern in die Reihen der kurdischen Arbeiterpartei PKK – einer in der Bundesrepublik als terroristische Vereinigung verbotenen Organisation, die für einen unabhängigen kurdischen Staat kämpft. Derzeit gehen deutsche Sicherheitskreise von rund 50 ausgereisten Männern und Frauen aus, doch die tatsächliche Zahl liegt womöglich höher. Denn anders als IS ist die PKK auch in Deutschland eine straff FOTO: UWE MÜLLER / VISUM Kurden-Demonstration gegen IS am 11. Oktober in Düsseldorf geführte Organisation, die seit Jahrzehnten für hiesige Ermittler kaum greifbar im Verborgenen agiert. Ihre Kämpfer reisen meist unbemerkt aus – und kehren zur Erholung zurück in die Bundesrepublik. Akpolat bestreitet, in Syrien gekämpft zu haben. Er sei nur wenige Tage dort gewesen. Drei Tage, in denen er Menschen sterben sah, Verletzungen betrachten musste, von Gräueltaten und Heldenmomenten hörte. Dann sei er wieder gegangen – weil sein Cousin seiner Mutter versprochen habe, ihn heil zurückzubringen. Klar habe er in Syrien eine Kalaschnikow mit sich getragen. „Man darf in Kobane nicht ohne Waffe herumlaufen“, behauptet er. Doch er habe nur seinen Cousin begleitet, der PKK-Kämpfer aus der Türkei in die Kurdengebiete im Norden Syriens schmuggle – „mehr als 500 bislang“, sagt Akpolat stolz. Natürlich kenne er Leute, die nun kämpften. Ein Freund vom Bodensee sei dort, aber auch andere, darunter Frauen. „Es sind viele“, sagt er. Der junge Mann sitzt ganz in Schwarz gekleidet im Wohnzimmer seiner Eltern. Seine Augen leuchten, wenn er vom Kampf der Kurden erzählt. Er kennt die Daten in der Geschichte der PKK auf den Tag genau. Sein Großvater soll zu den Mitbegründern des militärischen Flügels der Partei gehört haben. Neben dem Fernseher steht ein jüngeres Foto des PKK-Chefs Öcalan. Ein Strassstein im goldenen Bilderrahmen funkelt wie ein Stern über Öcalans ergrautem Schopf. „Ohne die PKK gäbe es uns Kurden nicht mehr“, sagt Akpolat, „unsere Sprache, unsere kulturelle Identität wären verloren.“ Die Wände des kurdischen Kulturzentrums im Stuttgarter Ostend, in das der junge Mann geht, zieren überlebensgroße Porträts von drei 2013 in Paris ermordeten PKK-Aktivistinnen. Ein vergilbtes Poster zeigt angeblich die Konterfeis von zwölf PKK-Leuten aus der Region Stuttgart, die im Kampf gegen die Türkei gefallen sind. Auf einem Tischchen stehen zwei Fotos wie auf einem Altar aufgebaut, eines von einem Mann, das andere von einer Frau. „Das sind die aktuellen Gefallenen“, sagt Akpolat. Er zeigt auf die Frau: „Sie hat 71 IS-Kämpfer mit in den Tod gerissen.“ Zwei ältere Männer betreten die Räume des Kulturzentrums. Angeblich Funktionsträger in „der Bewegung“, wie sie sagen. Reisen junge Menschen aus Deutschland als Kämpfer für die PKK nach Syrien? „Wir heißen es nicht gut, wenn zu junge Leute kommen“, sagt einer der Männer, „sie müssen über 18 sein.“ Aber natürlich: „Es passiert jeden Tag, dass Männer und Frauen sich auf den Weg machen.“ Deutsche Sicherheitsbehörden wissen das. Seit Jahren wirbt die PKK nach den Erkenntnissen der Ermittler Freischärler für ihren Kampf gegen die Türkei. Speziell Titel geschulte Rekrutierer sprechen zumeist junge Männer an und versuchen, sie mit Abenteuerlust, Idealismus oder Heimatliebe zu ködern. Die Zahl potenzieller Freiwilliger scheint groß. Die Sicherheitsbehörden gehen aktuell von rund 13 000 PKK-Anhängern in Deutschland aus. Die Bundesrepublik dient der seit mehr als zehn Jahren verbotenen Organisation vor allem als Rückzugs- und Rekrutierungsraum. Ausgestattet mit Decknamen und falschen Biografien führen stets rotierende Kader die vier Regionen der PKK in Deutschland, „Sahas“ genannt: Nord, Mitte, Süd 1 und Süd 2. Einmal angeworben, erhalten Freiwillige zumeist eine ideologische Erstschulung für den Kampf in Camps in den Niederlanden oder in Belgien; danach reisen sie in die Kurdengebiete. Seit dem Herbst vergangenen Jahres bemerken Ermittler und Geheimdienste, dass die PKK zunehmend für den Bürgerkrieg in Syrien rekrutiert. „Es fing langsam an, aber jetzt ist richtig Druck im Kessel“, sagt ein Beamter. Insbesondere die Bilder aus dem Kampf um Kobane wirkten auf die jungen Menschen. Im Grenzgebiet der Türkei und des Iraks würden die Männer und Frauen, so heißt es in einem internen Papier aus Sicherheitsbehörden, militärisch ausgebildet – um für den PKK-Ableger YPG in Syrien zu kämpfen. Es machen sich so viele Kurden aus Deutschland auf, dass die Behörden versuchen, sie an der Ausreise in die Krisenregion zu hindern, sollten sie sich an den bewaffneten Kämpfen dort beteiligen wollen. Doch schon bei den gewaltbereiten Islamisten tut sich der Staat mit diesem Unter- ten und Nachrichtendiensten. Für die Sicherheitslage hierzulande sind zwar besonders die Rückkehrer relevant, jedoch aus anderem Grund. Kurdische Kämpfer, die heimkehren, tun dies zur Erholung. Kommen Salafisten über die Grenze nach Deutschland, gelten sie als potenzielle Attentäter. Die Behörden treibt bei den kurdischen Rückkehrern daher die Sorge um, dass deren Präsenz die Spannung zum salafis- Die Präsenz der Rückkehrer heizt die Stimmung zwischen Kurden und Salafisten in Deutschland an. fangen schwer, bei den Kurden scheint das tischen Milieu verschärft. Bereits vor zwei nahezu unmöglich. „Diese Leute sind nicht Wochen warnte das Bundeskriminalamt so blöd wie die Dschihadisten“, sagt ein nach Krawallen in Hamburg und Celle vor Geheimdienstler. „Man kann sie von ganz der „starken Emotionalisierung“ beider normalen Reisenden nicht unterscheiden; Parteien. So sieht es auch Akpolat, der nun jeden wenn sie für die PKK aktiv sind, dann im Verborgenen.“ Und einmal im Krisengebiet Tag die Mahnwache am Stuttgarter angekommen, schicken sie anders als die Schlossplatz besucht. Er redet, er will für IS-Kämpfer keine Fotos mit abgeschlage- Aufmerksamkeit sorgen, und er beobachnen Köpfen und treten kaum in Webvideos tet eine sich allmählich aufheizende Stimauf. „Wir stochern da ziemlich im Nebel“, mung zwischen Salafisten und Kurden. räumt ein anderer Sicherheitsbeamter ein. „Wenn es so weitergeht“, sagt er, „ist es Das mag dem Geschick der PKK-Anhän- nur eine Frage der Zeit, bis es hier zur weiger geschuldet sein – oder der Ressourcen- teren Eskalation kommt.“ verteilung bei Polizei, StaatsanwaltschafJörg Diehl, Fidelius Schmid Kurden auf dem Weg zur Neujahrsfeier in DiyarbakIr Ihr werdet nie in Sicherheit sein Kiyak, 38, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, ließ sich in der Abtei Fulda als Klostergärtnerin ausbilden und arbeitet als Publizistin. Ab November läuft ihr erstes Bühnenstück „Aufstand“ – über einen kurdischen Künstler in der Türkei – am Maxim Gorki Theater in Berlin. D ieses eine Mal schämte ich mich nicht, Teil des kurdischen Volkes zu sein. Der in der Türkei lange verbotene Sänger Şivan Perwer sang erstmals im Londoner Wembley-Stadion auf Englisch einen Song. Sein Akzent war lausig, und er hatte wie so oft diese unfassbar schlecht geschnittene Peschmerga-Hose an. Sein Kopf war mit einem Tuch bedeckt, das sich wie eine Serpentine zu einem kurdischen Bergmassiv auftürmte. Aber, und das war das Wichtigste, wir waren angekommen in der großen, glitzernden Welt von MTV. Wir, das kurdische Volk, waren endlich offiziell Opfer. Und es kümmerten sich höchstpersönlich um uns: Chris de Burgh, Madonna und Rod Stewart. Das war 1991. Das Konzert hieß „The Simple Truth“ und sollte Spendengelder für kurdische Flüchtlinge aus dem Irak zusammentrommeln, die im Winter unter erbärmlichen Umständen vor Saddam Hussein und seiner Vernichtungspolitik in Richtung Türkei flohen. Zuvor waren die irakischen Kurden 1988 in Halabdscha mit Giftgas angegriffen worden. Kleine Videoclips versuchten, die lange Vertreibungsgeschichte der Kurden für MTV-Zuschauer weltweit in einer pompösen Fünf-Stunden-Show so anschaulich wie nötig zu zeigen. Meine Eltern weinten während der Ausstrahlung lange und oft. Besonders heftig schüttelte es meine Mutter, als Chris de Burgh „Lady in Red“ für uns Kurden sang. Besonders heftig schüttelte es meinen Vater, als der kleine, stämmige Şivan Perwer mit seiner Saz, einem Zupfinstrument, auf die Bühne stapfte und sie wie eine Widerstandsfahne hochhielt. Ich kannte Şivan Perwer von den alljährlichen Newroz-Feiern im März. Newroz bedeutet übersetzt „neuer Tag“ und markiert den Jahresanfang, es ist also unser Silvester, eigentlich ein unpolitisches Fest. Aber wir feierten es in riesigen deutschen Stadthallen als politisches Festival, mit kurdischer Musik, Lyrik, Folk92 DER SPIEGEL 44 / 2014 lore, Agitation. Je nach politischer Lage wurden die Namen prominenter kurdischer Todesopfer verlesen sowie die aktuellen Foltermethoden aus den türkischen Gefängnissen. Der Höhepunkt war jedes Mal erreicht, wenn Şivan Perwer seinen größten Hit vortrug. Es handelt sich um eine Vertonung des kurdischen Gedichts „kîne em“ („Wer sind wir?“) von Cegerxwîn. Şivan setzte langsam an, ließ seine Stimme beben, bis er zum Schluss des Textes fast verzweifelt schrie. Wer sind wir? / Bauern und Arbeiter / Dörfler und Proletarier / Kurdisches Volk. Revolution und Vulkan / Dynamit. Wir sind der Osten / im Sternzeichen / auf der Burg / in jeder Stadt / in jedem Dorf / auf dem Gleitflug, auf der Klippe / in der Hand des Feindes. Die Krönung seines Auftritts war stets, dass mindestens eine Saite der Saz riss und Helfer unter tosendem Applaus ein Ersatzinstrument herbeischafften. Danach fuhren wir erschöpft in Bussen nach Hause in unsere Städte, am nächsten Tag wurde in den deutschen Fabriken weitergearbeitet, neben türkischen Kollegen, deren Staat man am Abend zuvor die Pest an den Hals gewünscht hatte. Die NewrozFestivals waren mir peinlich (nie erzählte ich an einem Montag, dass wir Neujahr in einer Stadthalle gefeiert hatten), das „Simple Truth“-Konzert nicht. Jahrzehnte später schäme ich mich für „Lady in Red“ und dafür, dass Şivan sich gezwungen sah, „kîne em“ auf Englisch zu singen. Zu Hause bekamen wir eingehämmert, dass wir auf die Frage, welche Nationalität wir hätten, deutschen Lehrern, Nachbarn oder Freunden antworten sollten: Wir sind Kurden. Das erschien mir merkwürdig, denn wir waren damals, später änderte sich das, Staatsbürger der Türkischen Republik. Wie konnte man den Pass eines Landes tragen, aber jemand anderes sein? Waren wir aber in der Türkei, sollten wir auf dieselbe Frage antworten: Wir sind Türken. Mein Vater brachte uns bei, etwas Stolz und Erhabenheit in die Stimme einfließen zu lassen. „Türken“, nicht „türkische Staatsbürger“, die Unterscheidung war sehr wichtig! Letzteres hätte signalisiert, dass man nur dem Papier nach Türke sei, in Wahrheit aber Kurde. Ist klar, dass man da etwas durcheinanderkommt. Als ich an der Grenze gefragt wurde, was meine Eltern seien, antwortete FOTOS: KURSAT BAYHAN / ZAMAN / SIPA / DDP IMAGES (O.); UTE LANGKAFEL (L.) Essay Warum es ungünstig ist, auf dieser Welt Kurde zu sein Von Mely Kiyak Titel ich dem türkischen Grenzpolizisten aus Versehen: „Sie sind Kurden!“ Ich ließ Stolz und Erhabenheit in meine Stimme fließen. Mein Vater bekam einen Schweißausbruch, und meine Mutter antwortete geistesgegenwärtig, ich sei klinisch schwachsinnig (ein Merkmal, sagte sie, sei dieses ganze „Geschwätz mit den Kurden“: „Woher sie das bloß hat, bestimmt von den Terroristen! Gott stehe uns bei!“). Man bringe mich gerade zur Behandlung in die Hände ordentlicher türkischer Psychiater. Sie machte das so gut, dass der Grenzbeamte meine Mutter tröstete und viel Geduld mit ihrem schlimmen Schicksal wünschte. Wir lebten in einer deutschen Kleinstadt, in der es kaum Kurden gab. Erst in den Neunzigerjahren kamen in großer Zahl Kurden als politische Flüchtlinge nach Deutschland. Sie bildeten die zweite große Einwandererwelle aus der Türkei. Meine Mutter arbeitete als Übersetzerin für das Gericht, bei Ärzten, in Krankenhäusern, in Gefängnissen. Weil die Asylbewerber meine Mutter nicht bezahlen konnten (die Kommune übrigens nahm ihre Dienste als selbstverständlichen Beitrag für ihre „Landsleute“ umsonst in Anspruch, ihr Geld verdiente meine Mutter als Putzfrau), wurden wir von den Flüchtlingen oft eingeladen. Ich sah Männer, die durch Folternarben ihre Arme nicht an den Körper drücken konnten, ich hörte von grausamen Foltermethoden. Und noch etwas. Ich war damals sexuell unerfahren, aber ich wusste en détail, wie man Frauen und Männer sexuell erniedrigt, ich erlernte die Fachbegriffe, die es dafür im Türkischen gibt. Noch bevor ich die körperliche Liebe selbst erfuhr, lernte ich, was man mit Körpern nur zum Zwecke der Misshandlung anstellen kann. Ich hörte diese Dinge samstags und sonntags auf den Sofas fremder Menschen beim Teetrinken und Nüsschenknabbern. Ich verstand, dass es ungünstig ist, auf dieser Welt ein Kurde zu sein. I J ahrzehntelang wurden die Titelseiten türkischer Medien mit Fotos von Särgen türkischer Soldaten geschmückt. Fotos von Zehntausenden zivilen kurdischen Opfern und 3000 zerstörten kurdischen Dörfern haben es nie auf die Titelseiten geschafft. Bis heute begreift die türkische Bevölkerung nicht, dass die kurdische Bevölkerung unter einer brutalen Politik litt. Bis heute findet man kaum einen Türken, der in Kurdistan war. Bis heute weiß kaum jemand, was es praktisch bedeutet, ein „normaler Kurde“ zu sein und nicht politischer Aktivist oder gar Mitglied der PKK. Nicht ein einziges Mal habe ich gehört, dass ein deutschtürkischer Kollege zu mir gesagt hätte: „Ist schade, was im Osten geschieht.“ Erst seit der Protestbewegung in Istanbul 2013 merken meine Altersgenossen, dass ihre Weltsicht korrekturbedürftig ist. Als sich die Waffen und Wasserwerfer gegen sie selbst richteten, da sagten die Mittelschichtstürken: „Jetzt glauben wir euch, dass die Zeitungen lügen, die Polizei korrupt ist, die Staatsanwälte klüngeln und die Regierung brutal ist.“ Aber so ist es wohl. Die Diktatur stört immer nur den, der davon betroffen ist. Das alles geht mir durch den Kopf, wenn ich fliehende Kurden aus Syrien sehe, Episode reiht sich an Episode. Ich blicke auf Kurdistan, ratlos und wild. Wütend. Nun ist die Situation in einer so verfahrenen Lage, weil auch die westlichen Politiker schwiegen: Wenn es nicht gerade akut um den EU-Beitritt der Türkei ging, wurde die Menschenrechtsfrage der Kurden nicht behandelt. Als ich voriges Jahr mehrere Monate in der Türkei verbrachte und auch im Süden an der syrischen Grenze war, sah ich islamistische Kämpfer durch die Städte spazieren. Anwohner erzählten mir, dass die Grenzen durch Milizen der Nusra-Front gesichert würden. Wo gibt es denn das, dass fremde Islamisten die eigenen Grenzsoldaten ersetzen? Wieso hat Deutschland die türkische Regierung nicht bereits 2013 unter Druck gesetzt? Sind wir nicht Nato-Partner? Islamisten versuchten, im Süden der Türkei Kurden zu vertreiben; die Einzigen, die darüber schrieben, waren kurdische Medien. Der Rest der Weltöffentlichkeit war damit beschäftigt, die Gezi-Bewegung zu diskutieren. Die Kurdenfrage jedoch wurde bei den Protesten in Istanbul so gut wie nicht thematisiert. Es war absurd: Die Türken im Westen gingen auf die Straße, um gegen Repressalien seitens der Regierung zu kämpfen, und die Kurden, die davon jahrzehntelang betroffen waren, trauten sich nicht mitzumachen, um Friedensgespräche nicht zu blockieren. Es war, so meine ich, im Juli 2013, als ich Diyarbakır besuchte, eine kurdische Millionenstadt im Südosten Anatoliens. Der Friedensprozess zwischen der PKK und der Türkei war wenige Wochen alt, als Militärhubschrauber über der Stadt kreisten. Wenn man sich zu lange auf der Straße aufhielt und sich eine kleine Ansammlung formierte, flogen die Helikopter tiefer, um die Menschen zu filmen. Der Staat misstraute seinen Friedenspartnern so sehr, dass er sie beobachtete, wohlgemerkt nicht die PKK, sondern die zivile kurdische Bevölkerung. Nun höre ich, dass in Diyarbakır wieder Ausgangsperren verhängt worden sind. Wieder sitzen also Kinder zu Hause und fürchten um ihre Eltern, diese alte Angst – sie hört wohl nie auf in diesem Land. Ich war dieses Jahr dabei, als die ersten jesidischen Flüchtlinge in Diyarbakır ankamen und sagten: Endlich sind wir in Sicherheit. Ich dachte: Ihr seid Kurden, ihr werdet nie in Sicherheit sein. Nicht wenn Mitbürger euch weiter als Feinde betrachten. Nicht wenn Türken den Freiheitskampf der Kurden als Aufstand gegen „ihr“ Land missverstehen – statt als Engagement für eine friedliche Türkei. Nicht, wenn Nato-Partner die Türkei gewähren lassen – statt dafür zu sorgen, dass endlich die kurdische Bevölkerung innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen geschützt wird. Muss denn immer erst ein Chris de Burgh kommen und sich für Kurden einsetzen? I „Jetzt glauben wir euch, dass die Polizei korrupt ist, die Staatsanwälte klüngeln und die Regierung brutal ist.“ ch möchte noch etwas anderes erzählen, bevor ich auf die Gegenwart komme. Wenn wir in die Türkei fuhren, hatte ich Angst. Einmal ist mein Vater von einem Besuch in den kurdischen Bergen nicht zurückgekehrt. Er wurde verhaftet, weil man ihm vorwarf, kurdische Terroristen versorgt zu haben. Ich erinnere mich, wie ich im Wohnzimmer meiner Großmutter saß und es keine Möglichkeit gab zu intervenieren. Keine Anwälte, keine Lokalzeitung, die man hätte informieren können, nichts. Man konnte nur hoffen, dass er während des Verhörs nicht so gefoltert wurde, dass dauerhaft Schäden bleiben würden. Ein anderes Mal, das liegt noch weiter zurück, kam jemand ins Haus meiner Familie und flüsterte: „Schnell, versteckt Hasan, sie kommen ihn holen.“ Mein Vater sagte: „Sollen sie doch kommen, ich habe nichts getan“; da flehte meine Großmutter: „Bitte verstecke dich, tue es ihr zuliebe, damit sie es nicht mit ansehen muss.“ Mit „ihr“ war ich gemeint, mit „ansehen“ das Verhaftungsprozedere. Meine Großmutter hatte gerade einen Kühlschrank bekommen. Sie sagte: „Schnell hinein mit ihm!“ Doch die Zeit war zu knapp, mein Vater schaffte es bloß, sich hinter den Kühlschrank zu hocken. Die Onkel taten so, als würden sie das Ding gerade anschließen, als die Geheimpolizei auftauchte. Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, weshalb ich die Details nicht mehr erinnere. Nur dass die Beamten verschwanden, meine Verwandten wieder gemütlich und cool beisammensaßen, Melone aßen und ich dachte: „Scheiß-Kurdisch-Sein!“. Ich könnte stundenlang so weitererzählen. Wie die türkischen Freunde nach den Ferien mit ihren Urlauben an der türkischen Riviera prahlten und ich mich nicht traute zu sagen: „Dieses Jahr hat ein Kühlschrank meinem Vater das Leben gerettet.“ Und in einem anderen Jahr: „Dieses Mal ist es schiefgegangen, er wurde verhaftet“, weil Kurdisch-Sein, damals wie heute, in der türkischen Bevölkerung mit Terrorismus gleichgesetzt wird. DER SPIEGEL 44 / 2014 93
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