Einsamer Widerstand - Kampagne TATORT Kurdistan

Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung
Betr.: Titel, Salgado, KulturSPIEGEL, SPIEGEL WISSEN
D
ie PKK, offiziell noch eine Terrororganisation, ist
zum wichtigsten Verbündeten
im Kampf gegen den „Islamischen Staat“ (IS) geworden.
Ihre etwa 15 000 Kämpfer sind
die einzige politische Kraft, die
willens und in der Lage zu sein
scheint, den Vormarsch der
Dschihadisten zu stoppen. Es
ist eine verwirrende Allianz in
Stock (r.), Werner (3. v. r.) mit PKK-Kämpfern
einem verworrenen Konflikt.
Vier Redakteure des SPIEGEL
waren in der vergangenen Woche unterwegs, um sich vor Ort ein Bild zu machen.
Maximilian Popp stattete dem Bruder des inhaftierten PKK-Anführers Abdullah
Öcalan in der Osttürkei einen Besuch ab. Christoph Reuter schlug sich zur kurdischen Enklave Afrin in Syrien durch, wo die Kurden einem eigenen Staat
schon sehr nahe gekommen sind, ohne ihn zu fordern. Jonathan Stock und Ralf
Hoppe schließlich bereisten mit Fotograf Christian Werner die Front zwischen
IS und Kurden, in der Nähe der nordirakischen Ölstadt Kirkuk. Hier kämpfen
die irakischen Kurden der Peschmerga und die türkischen der PKK im Schichtdienst, die Peschmerga tagsüber, die besser organisierten PKK-Kämpfer in der
Nacht. Drei-Sterne-General Dadawan Roshid Tofich bat, Folgendes auszurichten: „Vielen Dank für die Hilfe aus Deutschland, aber wir brauchen dringend
schwere Waffen.“
Seite 82
S
FOTOS: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL (O.); DIRK EUSTERBROCK (U.)
PIEGEL-Redakteur Philipp Oehmke erwartete,
ein Interview mit dem weltberühmten Fotografen
Sebastião Salgado, 70, in New York führen zu können, doch Salgado erschien ein paar Stunden vor
dem vereinbarten Termin und erklärte Oehmke und
einigen anderen Gästen seine Fotos. Während des
Rundgangs beschlich Oehmke ein seltsames Gefühl.
Oehmke, Salgado
Salgado schwärmte von der Natur, die er in den vergangenen Jahren vornehmlich fotografiert hatte,
und sprach immer wieder resigniert über den Menschen. Oehmke warf sein Interviewkonzept über den Haufen und fragte Salgado, wo die Enttäuschung herrühre. Im Gespräch gab Salgado dann erschreckende Antworten.
Seite 110
D
er neuen Macht der Fans und dem Auto der Zukunft widmen sich in dieser
Woche die Ausgaben von KulturSPIEGEL und SPIEGEL WISSEN. Wenn Fans
ihren Pophelden fotografieren, Selfies posten, sind sie auf Augenhöhe mit dem
Star, und das ist symptomatisch: Früher wurden Stars angehimmelt, heute entscheiden die Fans auf Facebook über Karrieren. „Ich war immer überzeugt, dass
man den Fans eine wichtige Rolle zukommen lassen sollte“,
sagt die US-Popmusikerin Taylor Swift im Interview mit
dem KulturSPIEGEL. Swift hat sich inzwischen mehr als
45 Millionen Follower auf Twitter erarbeitet.
Mitten in einer Revolution, deren Wendungen schwer abzusehen sind, steckt auch die Automobilindustrie. Neue Technologien verändern das Auto fundamental, erschaffen umweltfreundlichere, vernetzte, selbststeuernde Fahrzeuge. Was die
Hersteller planen, wie sie sich vortasten in die Zukunft, beschreibt das neue SPIEGEL WISSEN, das am Dienstag erscheint.
DER SPIEGEL 44 / 2014
5
Titel Die kurdische PKK ist die
wohl schlagkräftigste Truppe im
Kampf gegen den „Islamischen
Staat“ – und gilt doch selbst
als Terrororganisation. Darf der
Westen mit ihr kooperieren
und einen Konflikt mit der Türkei riskieren? Eine Reise durch
das Gebiet der Geächteten, die
für viele nun zu einsamen Helden geworden sind. Seite 82
Am Menschen
verzweifelt
Reporter Sebastião Salgado
wurde berühmt für seine
elegischen Bilder menschlichen
Leids: Minenarbeiter in
Brasilien, Hungernde in Niger,
Flüchtlinge aus Ruanda. Heute
fotografiert er fast nur noch
Urvölker und Tiere. Im SPIEGELGespräch sagt er: „Ich habe
solche Brutalität gesehen, dass
ich den Glauben an uns Menschen verloren habe.“ Seite 110
Konsum statt
Kritik
Universitäten Ichbezogen,
materialistisch, nicht frei von
Ressentiments gegen Zuwanderer – eine unveröffentlichte Studie der Bundesregierung zeichnet das Bild der
neuen Studentengeneration,
die sich gern schöne Dinge
leistet und von Parteien und
Hochschulpolitik nicht viel
wissen will. Seite 44
6
Große Weine im Hitzestress
Winzer Bordeaux allein hat mehr Rebfläche als alle deutschen
Weingebiete zusammen, an der Rhône wird seit 2400 Jahren
Wein gekeltert – nun aber gerät Frankreichs grandiose Weinkultur unter Druck. Der Klimawandel verdirbt vielerorts
die Qualität der Reben, Weine werden plump, große Namen
blass. Die Winzer kämpfen. Seite 64
Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Fotos Action Press, Getty Images, Reuters, STR, Christian Werner
FOTOS S. 6: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL (O.); WIM WENDERS / NFP (M.L.); PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL (U.L.); MAURICE WEISS / OSTKREUZ (R.); S. 7: BUREAU233 / FACE TO FACE (O.); XXPOOL / ANDEAS REEG / AGENTUR FOCUS (M.); FIRO SPORTPHOTO (U.)
Einsamer
Widerstand
In diesem Heft
Titel
82 Kurden Wie ein verfemtes Volk im Krieg
Ausland
81 Spanien blockiert europäische Integration
gegen IS zum Partner des Westens wurde
90 Extremismus Junge Kurden aus Deutsch-
land kämpfen gegen die Milizen des IS
94
92 Essay Mely Kiyak über die Last, Kurde zu
sein
96
Deutschland
12 Leitartikel Frankreich und Deutschland
14
18
22
24
26
28
30
34
36
38
40
42
44
48
müssen sich auf einen
gemeinsamen Eurokurs besinnen
Merkel beklagt Widerstand gegen Russland-Sanktionen / Rentensatz soll
sinken / Chefermittler spricht über MH17Absturz / Kolumne: Im Zweifel links
Affären Die Bundesregierung will ein eigenes,
abhörsicheres Datennetz – und holt
sich eine Rüge vom Bundesrechnungshof
CSU Der Machtkampf zwischen
Ministerpräsident Horst Seehofer und
seinem Finanzminister eskaliert
Streiks Was die Regierung gegen
die Arbeitsniederlegung von Lokführern
und Piloten plant
Grüne Realos wollen Jürgen Trittin
loswerden
Karrieren Während sich AfD-Chef
Bernd Lucke in Brüssel müht, entgleitet
ihm daheim die Partei
Dschihadisten Was taugen die Gesetzesvorschläge von Justizminister Heiko Maas?
Parteien Warum die Thüringer SPD mit
den SED-Nachfolgern paktiert
Europa Jean-Claude Juncker sucht 300 Milliarden Euro – aber er findet sie nicht
Asse Die Vorbereitungen für die Bergung
des Atommülls stocken
Strafvollzug Der dramatische Hungertod
eines Häftlings
Verkehr Unfallrisiko Smartphone-Nutzer
Universitäten Wie Deutschlands Studenten
ticken
Bayern Investoren machen sich den
Tegernsee zur Beute
Serie
52 Sieben Tage, die die Welt veränderten
(Teil VII) Die DDR wird demokratisch –
97
100
106
Kultur
108 Restitutionsstreit um zwei Gemälde von
110
116
118
122
124
Körner / Vom Elend des Aufschiebens
ner erobern ein Dorf in Nordpolen
64 Winzer Frankreichs weltberühmte Weine
leiden unter dem Klimawandel
69 Homestory Warum ich meine Kinder beim
Oscar-Preisträgerin und
Frankreichs glamouröser
Kinostar, wagt sich an eine
Rolle von großer Wucht –
als kranke Mutter, die um
den Erhalt ihres Jobs betteln
muss. Seite 116
Wissenschaft
128
132
134
136
137
Ebola wirklich aus? / Vandalismus durch
Pilzsammler
Archäologie Schiffsfriedhof in der Ostsee –
Forscher rekonstruieren die Grausamkeiten des Großen Nordischen Krieges
Landwirtschaft Wie Bakterien aus dem Erdreich den Pflanzenanbau revolutionieren
Ethik SPIEGEL-Gespräch mit dem
Palliativmediziner Gian Domenico Borasio
über Sterbehilfe für Todkranke
Internet Eine neue App macht Handys
unabhängig von Mobilfunkstationen
Kommentar Warum die Ebola-Hysterie in
Europa absurd ist
Jürgen Fitschen,
Co-Chef der Deutschen Bank,
droht ein Gerichtsverfahren
wegen Prozessbetrugs. Die
Anklageschrift zeigt, wie die
Staatsanwaltschaft den zaudernden Manager in die Enge
treibt. Doch der Aufsichtsrat
steht hinter ihm. Seite 72
Sport
Gesellschaft
63 Eine Meldung und ihre Geschichte Amerika-
Egon Schiele / Die Ente von der Verhaftung des Street-Art-Künstlers Banksy /
Kolumne: Mein Leben als Frau
Reporter SPIEGEL-Gespräch mit dem
Starfotografen Sebastião Salgado
Film Die französische Schauspielerin Marion
Cotillard in „Zwei Tage, eine Nacht“
Zeitgeist Die Zentralbibliothek von San
Francisco bietet Obdachlosen Unterschlupf
Fernsehen Die Serie „Lilyhammer“ erzählt
von einem New Yorker Mafioso,
der in Norwegen ein neues Leben beginnt
Theaterkritik Kristin Scott Thomas
als Elektra auf einer Londoner Bühne
Marion Cotillard,
126 Reichen drei Wochen Quarantäne bei
und stimmt für die Einheit
62 Sechserpack: Weltkulturerbe mit und ohne
Großbritanniens / Polen und
Russland streiten über Mahnmal
Chile Präsidentin Michelle Bachelet
über ihren Kampf gegen
die Reste der Pinochet-Diktatur
USA Die Demokraten müssen um ihre
Mehrheit im Senat bangen
Republikaner Wie zwei Milliardärsbrüder
die Konservativen dirigieren
China Zwei Jahre nach den ersten
demokratischen Wahlen im Dorf Wukan
sind viele Bürger enttäuscht
Global Village Warum ein Amerikaner in
der Schweiz nicht eingebürgert wird
139 Tennisstar Martina Hingis über ihr zweites
Comeback als Doppelspezialistin / Wettskandal erschüttert Österreichs Profifußball
140 Fußball Der Volltreffer – Bayern Münchens
neuer Stürmer Robert Lewandowski
146 Affären Sechs Professoren aus der Freiburger
Sportmedizin unter Plagiatsverdacht
Fußball in Amerika nicht anfeuern darf
Medien
Wirtschaft
70 Verfahren gegen Kinoportal /
72
75
76
78
80
Teure Stromhilfe für die Industrie /
Draghi-Gegner im Aufwind
Prozesse Wie die Staatsanwälte den
Vorstand der Deutschen Bank in die
Zange nehmen
Soziales Unternehmer fürchtet die
Rente mit 63
Geldanlage Luxemburgs neue Steueroase
Japan Rückenwind für Ökoenergien
Gastronomie Die Deutschen entdecken
den Edel-Burger
Farbige Seitenzahlen markieren die Themen auf der Titelseite.
149 Verfahren gegen „Berliner Morgenpost“
eingestellt / Buchhändler gegen
Amazon / Absage an „Wetten, dass ..?“
150 Entertainer SPIEGEL-Gespräch mit
Jürgen von der Lippe über die Wiederauflage seiner „Geld oder Liebe“-Show
8
121
154
155
156
158
Briefe
Bestseller
Impressum, Leserservice
Nachrufe
Personalien
Hohlspiegel / Rückspiegel
Wegweiser für
Informanten:
www.spiegel.de/
briefkasten
Robert Lewandowski,
einer der besten Stürmer der
Welt, spielt beim FC Bayern
schon jetzt, kurz nach dem
Wechsel, eine tragende Rolle.
Willkommener Nebeneffekt
für die Münchner: Borussia
Dortmund kann den Verlust
schwer verkraften. Seite 140
DER SPIEGEL 44 / 2014
7
Das verlassene Volk
Kurden Die Terrororganisation PKK ist die letzte Hoffnung des Westens im Kampf gegen den
„Islamischen Staat“. Wie wird ihr einsamer Widerstand die Region verändern?
Eine Reise in die Kandil-Berge, die Südosttürkei und den syrischen Ministaat Afrin
82
DER SPIEGEL 44 / 2014
Titel
M
PKK-Kämpfer im Einsatz gegen IS bei Kirkuk
itten in den Bergen nordöstlich
von Arbil liegt das Hauptquartier
einer der schlagkräftigsten Terrororganisationen der Welt. Oder des derzeit
wichtigsten Verbündeten des Westens. Es
kommt ganz darauf an, wie man sie sehen
will, die kurdische Arbeiterpartei PKK.
In ihre Herzkammer in den nordirakischen Kandil-Bergen kommt man nur mit
Genehmigung der Führung. Nach Tagen
des Wartens klingelt das Telefon: „Haltet
euch bereit. Wir schicken unseren Fahrer.“
Am Vormittag erscheint ein schwarzhaariger Bauernsohn, der schweigend die kurvige Straße in die Berge hinauffährt. Am
Straßenrand liegt das ausgebrannte Auto
einer Familie, die hier vor drei Jahren bei
einem türkischen Bombardement getötet
wurde, das Wrack ist ein Mahnmal aus
Schrott. Der Fahrer zeigt darauf und sagt:
„Erdoğan ist verrückt geworden.“
Hinter dem letzten Checkpoint der kurdischen Autonomieregierung biegt das
Auto um eine Straßenecke. Und dann ist
da der Schnurrbart Abdullah Öcalans, ein
riesiges Porträt aus farbigen Steinen auf
dem gegenüberliegenden Bergrücken. Die
Männer mit den Sturmgewehren tragen
den gleichen Schnurrbart. „Habt ihr eine
Genehmigung, Genossen?“, fragen sie.
Offiziell ist hier die kurdische Autonomieregion im Nordirak, aber eigentlich ist
dies der Staat der PKK. 50 Quadratkilometer schroffes Bergland, Sitz der Führung,
Ausbildungslager für die Kämpfer, sogar
eine eigene Polizei und eigene Gerichte
gibt es. Grüne Hänge mit Granatapfelbäumen, Schafhirten, kleine Steinhütten am
Wegesrand, dazwischen stehen amerikanische Humvees, erbeutet von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die sie von
der irakischen Armee gestohlen hatte.
Hier, in den Kandil-Bergen, koordiniert
die Führung der PKK ihren Kampf – gegen
IS im syrischen Kobane, im irakischen Kirkuk und im Sindschar-Gebirge. Und vielleicht bald auch wieder gegen die Türkei?
Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass der Westen mit der
Partiya Karkeren Kurdistan, kurz PKK, zusammenarbeitet. Sie steht nicht zu Unrecht
auf der Liste der Terrororganisationen, in
der Türkei hat sie in drei Jahrzehnten Tausende Zivilisten ermordet. Doch für viele
im Westen sind die einst Geächteten nun
zu einsamen Helden geworden, die den
Nahen Osten vor IS retten sollen. Denn
die etwa 15 000 PKK-Kämpfer sind die
schlagkräftigste Truppe in der Region und
die einzige Kraft, die willens und in der
Lage scheint, IS zu bekämpfen. Sie sind
diszipliniert und effizient, noch dazu prowestlich und säkular.
Lieber hätte der Westen auf die traditionellen kurdischen Gegenspieler der
PKK gesetzt, die Peschmerga, die über
100 000 Mann starke Armee der nordira-
kischen Autonomieregion. Doch die Peschmerga wurden von der Stärke von IS
überrumpelt; sie haben wenig Kampferfahrung, kaum moderne Waffen, keine
einheitliche Ausbildung, kein zentrales
Kommando. Sie sind nicht mal eine richtige Armee, eher eine Mischung aus Feierabendverein, Partisanentruppe und Spezialeinheiten. Praktisch kampflos überließen
sie IS im August das Sindschar-Gebirge,
Tausende kurdische Jesiden mussten fliehen. Auch anderswo zogen sich die Peschmerga zurück, sobald IS näher rückte.
Die „Demokratische Partei Kurdistans“
von Massud Barsani, dem Präsidenten des
Nordirak, ist im Prinzip ein Familienunternehmen mit angegliedertem Kleinstaat, ebenso korrupt wie konservativ.
Die PKK mit ihrem syrischen Ableger
YPG dagegen ist das Gegenteil: eine straffe Kaderorganisation, die zwar ebenfalls
nicht demokratisch, aber auch nicht korrupt ist. In Kobane verteidigt sie sich hartnäckig gegen eine Übermacht der Dschihadisten. Sie war es, die in Sindschar
einen Schutzkorridor für Zehntausende
Jesiden schuf und ihnen die Flucht ermöglichte. Und sie ist es auch, die die
irakischen Städte Machmur und Kirkuk
gegen IS verteidigt.
Die US-Luftwaffe wirft jetzt über Kobane Waffen für die YPG ab; die Bundeswehr liefert Panzerfäuste an die Peschmerga, aber nicht nach Kobane, wo sie viel
dringender gebraucht werden. Und alle
versichern dabei, dass diese Waffen natürlich nicht in die Hände der PKK gelangen
würden. Politiker in Europa und den USA
überlegen unterdessen zaghaft, die PKK
von der Terrorliste zu streichen. Denn
müsste man das nicht tun, wenn man mit
ihr zusammenarbeitet – auch wenn man
damit den Konflikt mit der Türkei riskiert?
Es ist eine verwirrende Allianz in einem
verworrenen Konflikt. Und sie wirft unbequeme Fragen auf: Darf der Westen den
Kurden Waffen liefern – oder muss er es
sogar, um ein Massaker zu vermeiden?
Und was passiert, wenn sie jene Waffen
eines Tages einsetzen, um gegen die Türkei
zu kämpfen? Wenn ihr wachsendes politisches und militärisches Selbstbewusstsein
am Ende doch in die Forderung nach einem eigenen Staat mündet?
Für den Westen ist das ein schwieriger
Balanceakt: Er muss sicherstellen, dass die
Kurden die Schlacht um Kobane gewinnen – um IS aufzuhalten, aber auch, um
den Friedensprozess zwischen PKK und
der türkischen Regierung zu retten. Und
gleichzeitig muss er verhindern, dass ein
Triumph der Kurden die gesamte Region
destabilisiert.
Denn mit dem syrischen Bürgerkrieg
und dem Kampf gegen IS hat möglicherweise ein Kurdischer Frühling begonnen,
der die Verhältnisse im Nahen Osten radiDER SPIEGEL 44 / 2014
83
Titel
PKK-Mitgründer Ok
„Die junge Generation ist radikaler“
kal verändern könnte. Von fremden Mächten unterjocht, kämpften die etwa 30 Millionen Kurden, in ihrer Mehrheit sunnitische Muslime, in der Türkei, in Syrien, in
Iran und im Irak lange vergebens um Anerkennung und einen eigenen Staat. Nur
einmal, im 19. Jahrhundert, gab es für rund
20 Jahre eine Provinz Kurdistan, Teil des
Osmanischen Reichs. Die westlichen Alliierten versprachen den Kurden dann nach
dem Ersten Weltkrieg einen Staat, doch
der türkische Staatsgründer Atatürk hielt
sich nicht daran. Die Türkei erkannte die Kurden nicht
als ethnische Minderheit an, ihre Sprache
und Traditionen wurden verboten. Auch
in Iran, Syrien und im Irak wurden sie diskriminiert und unterdrückt. Einer der traurigen Tiefpunkte dieser Verfolgung war
das Massaker im irakischen Halabdscha.
Damals, im März 1988, ließ Saddam Hus-
sein seine Luftwaffe Giftgas auf die Stadt
abwerfen, bis zu 5000 Kurden starben.
Heute genießen die Kurden im Nordirak
weitgehende Autonomie, mit eigener Regierung und Armee. Der Nordirak ist Vorbild und Konkurrenzprojekt für die Kurden der Region. Ein überkonfessionelles
Erfolgsmodell, weil hier Sunniten, Alawiten, Jesiden und Christen friedlich nebeneinanderleben; gleichzeitig das stabilste,
am stärksten prosperierende Gebiet des
Irak. Und mit den Umwälzungen im Nahen Osten hoffen die Kurden in Syrien und
in der Türkei auf ein ähnliches Modell.
Doch IS bekämpft die Kurden besonders
erbittert, obwohl sie sunnitische Glaubensbrüder sind. Es ist gerade ihre neue Stärke,
die sie für IS zum Ziel macht.
Beobachten lässt sich das neue kurdische Selbstbewusstsein in den irakischen
Kandil-Bergen, wo sich die PKK-Führung
versteckt. Es ist zu erspüren in der Südosttürkei, im Heimatdorf ihres Anführers
Abdullah Öcalan, und in Diyarbakır; an
der Front in Kirkuk, wo die PKK die ISTruppen abwehrt; und im syrischen
„Nachbarkanton“ von Kobane, der alle
Anzeichen eines Staates aufweist. Kandil-Berge, Irak: bei der PKK-Führung
Nachdem der Fahrer den Öcalan aus Stein
passiert hat, bremst er irgendwann vor einer Bauernhütte. Wenig später trifft PKKSprecher Zagros Hiwa ein, er kontrolliert
Kameras, sammelt Handys ein, zieht Gardinen zu. Dann holt er aus einer Plastiktüte die PKK-Flaggen und hängt sie an die
Wand. Die PKK nutzt oft zivile Häuser,
ständig wechseln ihre Anführer den Ort.
Die wichtigsten kurdischen Akteure im Kampf gegen IS sind die Arbeiterpartei Kurdistans, die PKK, und ihr syrisches Pendant, die PYD. Beide betrachten
Abdullah Öcalan als ihren Führer und sind enge Verbündete. Ihre Kämpfer
sind in eigenen militärischen Guerillagruppen organisiert, der militärische
Arm der syrischen PYD nennt sich YPG, der militärische Ableger der türkischen PKK heißt HPG. Verwirrend wird das Ganze noch zusätzlich dadurch,
traditionelle
kurdische
Siedlungsgebiete
unter Kontrolle der
IS-Milizen und
ihrer Verbündeten
Kurz darauf betritt Sabri Ok den Raum,
mit seiner Leibgarde von fünf Kämpfern.
Der 58-Jährige ist seit der Gründung der
PKK 1978 dabei, er gehört zur obersten Führungsebene. Insgesamt 22 Jahre lang war
er in türkischer Haft und monatelang im
Hungerstreik. Und natürlich hat er gegen
den türkischen Staat gekämpft. Seit 2012
laufen Friedensverhandlungen, aber falls
Kobane fallen sollte, sagt Ok, sei es mit
dem Frieden vorbei. Dann werde es wieder
Anschläge und Gewalt in der Türkei geben.
Viele junge PKK-Anhänger wollen zurück in den Kampf. „Die neue Generation
ist anders als wir Alten, sie ist radikaler“,
sagt Sabri Ok sorgenvoll. „Sie haben den
Krieg in Kurdistan gesehen, ihre Brüder
und Schwestern sind in Syrien gestorben.
Es wird schwer, sie zu kontrollieren.“
Er ist ohnehin der Meinung, dass die türkische Regierung mit den Gesprächen nur
Zeit schinden will. An eine friedliche Lösung glaubt er nicht. „Wir lieben den Krieg
nicht, aber die kurdische Frage muss gelöst
werden“, sagt er. „Es ist absurd, wenn
Nordkurdistan Friedensverhandlungen
führt, während dieselben Kurden von IS in
Kobane mit Unterstützung der Türkei ermordet werden.“ Die Türken, sagt er, gäben IS Artillerie und Geld, behandelten
Verletzte, ließen Kämpfer die Grenze passieren. Für Artillerie und Geld gibt es keine
Belege; die anderen Vorwürfe stimmen.
Seit 37 Tagen, sagt er, verteidige die
YPG die Stadt. „Und ohne sie“, sagt er,
„wäre Kobane schon 37-mal gefallen.“
Und die 200 Peschmerga aus dem Irak,
die jetzt Kobane unterstützen sollen? „Welche Peschmerga?“, fragt Ok grinsend. „Ich
dass sich beide Gruppen auch im nordirakischen Kurdistan aufhalten. Unabhängig von PKK und PYD sind die Peschmerga, die offiziellen Streitkräfte
der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Sie sind berühmt durch ihren
Unabhängigkeitskampf gegen die Zentralregierung in Bagdad, vor allem
gegen den früheren Diktator Saddam Hussein. Die Peschmerga sind der PKK
zahlenmäßig überlegen, gelten aber als wenig schlagkräftig.
ARMENIEN
ASERBAIDSCHAN
Ankara
TURKMENISTAN
TÜRKEI
Ka s p i s c h e s
Meer
Diyarbakır
Ömerli
Afrin
Kobane
Aleppo
ZYPERN
M i t te l m e e r
250 km
Damaskus
SYRIEN
KandilBerge
Mossul
Arbil
AutonomeRegion
Machmur
Kurdistan
Sindschar- Kirkuk
Halabdscha
Dakuk
Gebirge
Kamischli
Eu
ph
ris
Tig
Gebiete der
syrischen Kurden
Hakkari
IRAK
Teheran
IRAN
rat
Bagdad
Quellen: Thomas van Linge; Stand: 5. Oktober; BPB
30
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33
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FOTOS S. 82: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL; S. 84/85: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL (L.); FERDI LIMANI / LE JOURNAL / DER SPIEGEL (R.)
Kurdische Kämpferinnen beim Training im syrischen Afrin: „Die Türken unterstützen IS, die Amerikaner unterstützen uns“
habe mit den Peschmerga gekämpft, vor
30 Jahren war das. Aber das ist nicht mehr
dieselbe Armee, sie sind schwach geworden. Wenn Leute nur rumsitzen, dann verlieren sie den Willen zu kämpfen.“ Kobane, sagt er, brauche keine Peschmerga. Sondern Waffen, Medikamente und Munition.
Dass die PKK in Deutschland noch immer verboten ist, hält Ok für ungerecht.
Habe man nicht die gleichen Prinzipien
wie der Westen? Frauenrechte, Schutz der
Umwelt, Demokratie? Die dunkle Seite
der PKK lässt er nicht gelten; den Vorwurf
von Auftragsmorden, Drogenhandel, Kidnapping und Terroranschlägen.
Dann lädt Ok zum Essen ein, es gibt
wilden Honig, Hähnchen und Salat.
Kirkuk, Irak: an der Front gegen IS
Rund um Kirkuk verlaufen noch die alten
Verteidigungsanlagen aus der Zeit Saddam
Husseins, die er als Bollwerke gegen die
Kurden bauen ließ. Jetzt stehen hier gemeinsam die Einheiten von Peschmerga
und PKK und blicken auf die schwarze
Flagge des IS, die gegenüber weht.
Die irakische Armee hat Kirkuk vor Monaten verlassen, nur die Kurden schützen
die Ölstadt gegen die wenige Kilometer
entfernten Dschihadisten. Obwohl PKK
und Peschmerga sich bisweilen bekämpften, arbeiten sie nun zusammen.
Tagsüber bewachen die 150 Peschmerga
die Front, zum Sonnenuntergang kommen
die 300 PKK-Kämpfer, die entscheidenden
Gefechte finden nachts statt.
Etwas südlich, bei Dakuk, sitzt ihr Kommandant Agid Kellary. Der PKK-Mann hat
sich in den halb fertigen Wohnungen einer
Baufirma eingerichtet. Über das Lager rattert ein Hubschrauber der irakischen Armee, Schüsse sind zu hören. Kellary, ein
freundlicher Mann mit leiser Stimme, der
früher Literatur studiert hat, erklärt: „Wir
haben hier die Kontrolle. Wenn du keine
Stärke zeigst, respektiert dich niemand.“
Kirkuk liegt an der wichtigen Verbindungsstraße zwischen Arbil und Bagdad,
die Gegend ist flach, wer die Stadt kontrolliert, kontrolliert auch das Umland.
Bulldozer schieben große Wälle um das
Lager auf, Arbeiter heben metertiefe Gräben hinter der Front aus. Man hat sich darauf eingestellt, lange zu bleiben. Kellary
hofft auf den Winter, dann sei die Ebene
verschneit oder verschlammt, sodass IS sich
nur auf den großen Straßen fortbewegen
könne, und die seien einfacher zu halten.
Doch IS ist ein starker Gegner. Er verfügt über mehr als 30 000 Kämpfer, schier
unerschöpfliche Mittel und modernste
schwere Waffen, viele davon hat er in den
vergangenen Monaten erbeutet: vor allem
von der irakischen Armee, die von den
USA aufgerüstet worden war, aber auch
vom syrischen Regime. Vorvergangene
Woche präsentierte IS sogar drei Kampfflugzeuge samt Piloten, doch das war wohl
Propaganda. Auch diese beherrschen die
Dschihadisten hervorragend.
Als Nächstes sagt Kommandant Kellary
einen Satz, der vor ein paar Monaten noch
undenkbar gewesen wäre: „Wir danken
den Amerikanern für ihre Hilfe. Wenn sie
uns helfen, helfen sie sich auch selbst. Wir
haben denselben Feind.“ Auch die Waffenhilfe von Deutschland an die Peschmerga sei schön. Wichtiger wäre es allerdings,
wenn die Deutschen endlich aufhörten,
die Türkei zu unterstützen.
Während der Kampf um Kobane in alle
Welt übertragen wird, nehme den neuerlichen Kampf im Sindschar-Gebirge kaum
jemand wahr, sagt Kellary. „Unsere Einheiten sind eingeschlossen, unter Dauerfeuer, das ist das schwerste Gefecht, an das
ich mich erinnern kann.“ Der Korridor,
durch den sie vor einigen Wochen Nahrung und Hilfsgüter zu den Jesiden ins Gebirge gebracht haben, ist nun von IS besetzt, es droht ein erneutes Massaker.
Heydar Shesho, der Kommandeur der jesidischen Armee in den Bergen, klingt am
Telefon verzweifelt: „Wir sind von allen Seiten umzingelt, IS greift uns mit Panzern und
Artillerie an. Hier sind immer noch 2000 Familien. Wenn uns keiner hilft, werden wir
alle getötet.“ Es gebe keine Luftunterstützung der USA, keine Hilfslieferungen, dabei
brauchten sie dringend schwere Waffen.
Auch etwa hundert Peschmerga wurden
von der kurdischen Regierung per HubDER SPIEGEL 44 / 2014
85
schrauber auf den Berg geflogen. „Aber
die kann man vergessen“, sagt Shesho.
„Die warten hier nur und kämpfen nicht,
dann sollen sie lieber nach Hause fliegen.“
Ömerli, Türkei: beim Bruder Öcalans
Der Ort, an dem man dem PKK-Anführer
am nächsten kommt, ist das Dorf Ömerli
an der türkisch-syrischen Grenze, 70 Kilometer von Kobane entfernt. Hier wurde
Abdullah Öcalan geboren, hier wuchs er
auf, und hier lebt noch immer sein jüngerer Bruder Mehmet.
Der Weg führt durch Pistazienplantagen,
bis man vor einem schlichten Steinhaus
steht. Vom Dach hängen Girlanden im kurdischen Grün-Gelb-Rot mit dem Porträt
Kinder zur Schule zu schicken. Mehmet
hat deshalb nie lesen und schreiben gelernt; Abdullah aber war ein guter Schüler,
er schaffte es auf eine höhere Schule in
Ankara. Politik sei im Elternhaus nie ein
Thema gewesen, sagt Mehmet Öcalan,
auch die kurdische Herkunft habe keine
Rolle gespielt. Der Staat leugnete die Existenz der Kurden, sie wurden eine Zeit lang
„Bergtürken“ genannt. Ihre Sprache war
verboten. Die Öcalans passten sich an. Doch Abdullah Öcalan suchte nach
Orientierung, eine Weile glaubte er, sie im
Islam gefunden zu haben. Er ging oft in
die Moschee in Diyarbakır, wo er zwei
Jahre lang im Grundbuchamt arbeitete. Er
sparte seinen Lohn und schrieb sich An-
Ein Generationenkonflikt spaltet die kurdische Bewegung.
Die Jungen wollen den Konflikt auf der Straße austragen.
Abdullah Öcalans. Darunter sitzt Mehmet
Öcalan, 63, auf einem Plastikstuhl, die
Ähnlichkeit mit dem Bruder ist unverkennbar: die gleiche gedrungene Statur mit den
hängenden Schultern, die gleichen groben
Gesichtszüge, der gleiche breite Schnauzer.
Er ist Bauer, seine Hände sind zerschunden
von der Feldarbeit, seine Kleidung ist einfach: blaues Hemd, Stoffhose, Sandalen.
Er führt ins Wohnzimmer, auch hier sind
die Wände voller Bilder des Bruders und
anderer PKK-Kommandanten. Die Geschichte der Familie Öcalan ist
eng verwoben mit der Geschichte ihres
Volkes. Es ist eine Geschichte voller Hoffnungen, Enttäuschungen und Gewalt.
Die Familie Öcalan war arm, die Eltern
konnten es sich nicht leisten, alle sieben
Bauer Mehmet Öcalan in seinem Haus
„Abdullah hat getan, was er tun musste“
86
DER SPIEGEL 44 / 2014
fang der Siebzigerjahre an der Universität
Ankara für Politikwissenschaften ein. Es
war eine Zeit, in der linke und rechte
Gruppen aufeinander losgingen, Tausende
Menschen starben bei Straßenschlachten.
Abdullah Öcalan wurde vom frommen
Muslim zum Sozialisten, der Marx und
Mao bewunderte. Er engagierte sich in einer linksextremen Bewegung und wurde
zu monatelanger Haft verurteilt. Die Zeit
im Gefängnis radikalisierte ihn, er sah, wie
politische Gefangene gefoltert wurden.
Und er begann, sich mit der Unterdrückung seines Volkes zu beschäftigen. Nach seiner Freilassung gründete Abdullah Öcalan eine Gruppe, aus der 1978
die PKK hervorging. Er propagierte einen
unabhängigen kurdischen Staat durch den
bewaffneten Kampf, seine Truppen verübten Anschläge, nahmen Geiseln, ermordeten Soldaten, aber auch Tausende Zivilisten. Europa und die USA setzten die PKK
auf die Terrorliste. Mehmet Öcalan hat seinen Bruder von 1977 an mehr als zwei Jahrzehnte nicht gesehen; er blieb in seinem
Heimatdorf, der PKK schloss er sich nicht
an. Trotzdem litt er unter der Verfolgung
durch den türkischen Staat. Immer wieder
stürmten Polizisten sein Haus, er wurde
verhaftet und im Gefängnis geschlagen. Der türkische Staat ließ in den Achtzigerjahren Tausende Kurden foltern. Vor
allem im Militärgefängnis in Diyarbakır,
der „Hölle Nr. 5“, wurden Insassen brutal
misshandelt. Die Wärter zwangen die Gefangenen, sich gegenseitig zu vergewaltigen und in einer Badewanne mit Fäkalien
zu verharren. Sie rissen ihnen Haare und
Nägel aus, quälten sie mit Elektroschocks.
Die PKK hatte der Türkei den Krieg erklärt. Und der türkische Staat bekämpfte
die Kurden. Soldaten setzten Dörfer in
Brand, erschossen Bauern und vergewaltigten deren Frauen. Hunderttausende Kurden flohen aus ihren Dörfern. Auch Mehmet Öcalan musste Ömerli verlassen, er
verdingte sich als Erntehelfer am Golf von
İskenderun und konnte erst einige Jahre
später in seine Heimat zurückkehren.
Dabei war die PKK unter Kurden zunächst umstritten, mit ihrer marxistischleninistischen Befreiungsideologie konnten
viele der Bauern wenig anfangen. Zudem
ging Abdullah Öcalan brutal gegen Dissidenten vor. Er verfolgte vermeintliche Kollaborateure bis ins Ausland und ließ selbst
Frauen und Kinder hinrichten. Die Grausamkeit des Militärs jedoch trieb der PKK
massenhaft Unterstützer in die Arme.
Mehmet Öcalan hält ein Foto seines Bruders in Camouflage in der Hand. Er sagt,
er mache dem Bruder keinen Vorwurf für
all das, was geschehen sei. „Abdullah hat
getan, was er tun musste.“ Er selbst sei
kein politischer Mensch, sagt er, aber er
unterstütze den Kampf seines Bruders.
Erst 1999 wurde der PKK-Führer vom
türkischen Geheimdienst in Kenia gefasst,
mithilfe der CIA. Er wurde wegen der
Gründung einer terroristischen Vereinigung, wegen Mordes und Hochverrats zum
Tode verurteilt und später zu lebenslanger
Haft begnadigt. Seit 15 Jahren sitzt er im
Hochsicherheitsgefängnis auf der Insel İmralı im Marmarameer. Er darf seine Zelle
nur einmal am Tag für eine Stunde verlassen. Lange war ein Radio sein einziger Zugang zur Außenwelt; seit zwei Jahren besitzt er auch einen Fernseher. Er leide unter Migräne, das Atmen falle ihm schwer,
berichtet einer seiner Anwälte.
Beim ersten Treffen der Brüder habe
der PKK-Gründer blass ausgesehen und
abwesend gewirkt, erinnert sich Mehmet
Öcalan. Die beiden konnten lediglich eine
Viertelstunde lang miteinander sprechen.
Abdullah habe gesagt: „Du weißt, ich habe
all das für das kurdische Volk getan.“
Inzwischen ist Mehmet Öcalan die
wichtigste Verbindung seines Bruders zur
Außenwelt. Er selbst tritt so gut wie nie
öffentlich in Erscheinung, aber er empfängt kurdische Politiker, um über die
Ideen seines Bruders zu diskutieren.
Ungestört reden könnten sie bei ihren
Treffen auf İmralı nie, immer säßen Sicherheitskräfte mit im Raum, erzählt Mehmet Öcalan. Die Unterhaltungen liefen
stets gleich ab: Abdullah Öcalan erkundige
sich zunächst nach der Familie, dann diskutierten sie über politische Fragen. Beim
letzten Treffen Anfang Oktober sei der
Bruder aufgebracht gewesen, erzählt Mehmet Öcalan. Er befürchte, dass die Regierung den Friedensprozess torpediere.
Die türkische Regierung hatte 2009 in
Oslo geheime Gespräche mit der PKK aufgenommen. Im Herbst 2011 wandte sich
die Regierung an den Mann auf İmralı,
denn nur mit seiner Zustimmung schien
ein Friedensvertrag umsetzbar. Sein Bruder, sagt Mehmet Öcalan, habe den Verhandlungen mit der Regierung zugestimmt,
FOTO: EMIN OZMEN / DER SPIEGEL
Titel
FOTO: FERDI LIMANI / LE JOURNAL FOR DER SPIEGEL
Straßenszene in der syrischen Kurden-Enklave Afrin: Von einem eigenen Staat wird nicht geredet, er wird einfach geschaffen
weil er erkannt habe, dass der Guerillakrieg den Kurden nicht zu mehr Rechten
und mehr Freiheit verholfen habe.
Seither hat sich für die Kurden tatsächlich viel verbessert: An den Schulen wird
ihre Sprache unterrichtet, es gibt kurdische
Fernsehsender und Zeitungen. Vielen Kurden geht es heute wirtschaftlich besser, sie
profitieren vom Wirtschaftsboom und von
den Investitionen der Regierung im bisher
vernachlässigten Südosten. Im Sommer
verabschiedete das Parlament in Ankara
ein Gesetz, das PKK-Kämpfern die Rückkehr aus den Kandil-Bergen erleichtern
sollte. Abdullah Öcalan sprach von einer
„historischen Initiative“. Ein Ende des
jahrzehntelangen Konflikts schien nah.
Nun aber, sagt Mehmet Öcalan, stehe
die PKK am Scheideweg. Sein Bruder habe
gesagt, er könne die Verhandlungen nur
fortsetzen, wenn Erdoğan die Unterstützung für IS einstelle. Die türkische Regierung verfolgt eine schizophrene Politik gegenüber den Kurden; vor Kurzem verglich
Erdoğan die PKK mit IS, noch immer verweigert er Hilfslieferungen für Kobane. Es
scheint, als setze Erdoğan darauf, dass sich
die Kurden mit einem Minimalkompromiss
zufriedengeben – den Abdullah Öcalan
durchsetzt, allein schon, um aus dem Gefängnis zu kommen. Und vielleicht auch,
um nicht als Terrorist, sondern als Friedensstifter in die Geschichte einzugehen.
Doch es ist ein riskantes Spiel, das die Ra-
dikalen stärkt. „Einzig meinem Bruder ist
es zu verdanken, dass der Konflikt noch
nicht eskaliert ist“, sagt Mehmet Öcalan.
Aber es ist fraglich, wie lange sie noch auf
ihn hören.
Diyarbakır, Türkei: die junge Generation
In einem Betonbau am Stadtrand von
Diyarbakır sitzt Ulaş Yasak, ein junger
PKK-Aktivist, in einem fensterlosen
Raum, raucht Zigaretten ohne Filter und
wartet. „Ich bin bereit zuzuschlagen“, sagt
er. Vor ihm auf dem Tisch liegen Zeitungen
in kurdischer Sprache, an der Wand hängen Poster von Abdullah Öcalan.
Yasak ist 30, doch er sieht älter aus: hager, die Wangen eingefallen, Dreitagebart.
Er hat lange für die PKK im Nordirak gekämpft, nun kommandiert er die „Union
der Gemeinschaften Kurdistans“, kurz
KCK, eine Untergruppe der PKK. Die
Gruppe baut ein Parallelsystem auf, mit
eigenen Schulen, Sicherheitskräften, Richtern. Yasaks wirklicher Name soll deshalb
geheim bleiben.
Ein Generationenkonflikt spaltet die kurdische Bewegung. Die Jungen scheinen entschlossen, den Konflikt auf der Straße auszutragen. In den vergangenen Wochen lieferten sich Yasak und seine Kameraden
Schlachten mit türkischen Sicherheitskräften.
Bei landesweiten Ausschreitungen starben Anfang Oktober mehr als 20 Menschen. Die Szenen erinnerten an die Neun-
zigerjahre, als der Konflikt zwischen Türken und Kurden die Region verwüstete.
Am Vorabend, erzählt Yasak, habe er
sich mit seinen Kameraden getroffen. Man
habe beraten, was zu tun sei, falls die Türkei weiter dabei zusehe, wie die Kurden in
Kobane von IS massakriert würden. „Unsere Führung rät uns, ruhig zu bleiben.
Aber meine Leute verlieren die Geduld.“
Erdoğan, habe die Verhandlungen mit der
PKK dazu benutzt, kurdische Wähler zu
gewinnen. Kobane zeige, dass ihm nicht
an Versöhnung gelegen sei.
Denn Kobane, sagt er, verkörpere all
das, wofür sie seit Jahren kämpften. Die
Stadt sei Vorbild für die gesamte Region:
eine von Kurden selbstverwaltete Enklave,
demokratisch und säkular. Falls Kobane
untergehe, warnt Yasak, werde auch die
Türkei einen hohen Preis bezahlen. „Dann
setzen wir das Land in Brand.“
40 000 Menschen verloren in der Türkei
in den vergangenen drei Jahrzehnten ihr
Leben im Kampf zwischen PKK und
Staat. Auch Yasaks Onkel und seine Cousine starben. Als Kind war es Yasak verboten, Kurdisch zu sprechen; als Student
der Soziologie wurde er verhaftet, der
Vorwurf: Propaganda für die PKK. Fünf
Jahre saß er im Gefängnis, als er freikam,
schloss er sich der PKK an.
Mit dem Beginn des Friedensprozesses
kehrte er zurück – und stellte fest, dass
sich Diyarbakır veränderte. Seither haben
DER SPIEGEL 44 / 2014
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etliche türkische Firmen Filialen in Diyarbakır eröffnet. In Cafés sitzen junge Männer
und Frauen mit Smartphones, die Läden
haben rund um die Uhr geöffnet, der Flughafen wird derzeit zu einem der größten
des Landes ausgebaut. Die Kurden profitierten wirtschaftlich vom Frieden, es gibt
viele neue Unternehmer. Doch all das
könnte in Gefahr sein.
Afrin, Syrien: im kurdischen Ministaat
Mehr als vor den Kurden im eigenen Land
fürchtet sich die türkische Regierung vor
den Kurden im Nachbarland Syrien. Sie
bewohnen drei auseinanderliegende Gebiete, eines davon ist das umkämpfte Kobane. Ein anderes ist Kamischli, wo die
Kurden mit Damaskus kooperieren und
von wo aus die Luftwaffe des Assad-Regimes weiterhin zu ihren Vernichtungsflügen startet. Und dann gibt es noch
Afrin, das einem kurdischen Miniaturstaat
am nächsten kommt.
Die Kurden nennen ihre drei Gebiete
„Kantone“, und zumindest in Afrin ist die
Namensanleihe aus der Schweiz treffend.
Denn mitten in diesem verwüsteten Land
existiert hier eine heile Welt. Knapp 2000
Quadratkilometer misst die Enklave, grün
im Tal des Flusses Afrin, ansonsten schroff.
Über die amtlich gezählten 1,2 Millionen
Einwohner, 300 000 Flüchtlinge, 366 Dörfer, sechs Kleinstädte und das Zentrum
von Afrin herrscht die PYD, der syrische
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Ableger der PKK. Es gibt eine funktionierende Verwaltung, Gerichte, Polizei und
Geheimdienst. Die Regierung siedelt Firmen an, produziert Strom und hat sogar
einen Wirtschaftsförderungsrat etabliert.
Befreundete Rebellengruppen dürfen zum
Shoppen kommen und ihre Verletzten hier
behandeln lassen.
Überall wird gebaut, noch abends um
zehn sind Familien auf der Straße, neue
Cafés haben aufgemacht, darunter eine
Starbucks-Kopie. So sicher ist Afrin, dass
mehr als hundert Textilfabriken aus der
Trümmerstadt Aleppo hierhergezogen
sind. Eine Abfüllanlage produziert seit drei
Monaten die ersten Mineralwasser aus
Afrin, „Kalos“ und „Hana“. Es gibt Seifenfabriken, Druckereien, Baufirmen; es
werden Tomatenmark, Wasserschläuche
und Toilettenpapier hergestellt.
Was die türkische Regierung wohl am
meisten beunruhigt, ist, wie geräuscharm
dieses Experiment in Eigenstaatlichkeit
funktioniert.
Der kettenrauchende Bürgermeister Abdulrahman Ibo nennt als größte Errungenschaft: die Verlegung des Minibus-Bahnhofs
aus der Stadtmitte. Der Energieminister,
ein Goldhändler aus Aleppo, arbeitet an
einem Gesetz zum Kiesabbau und wartet
auf die Rückkehr seiner Mitarbeiterin aus
Helsinki, die der Regierung dort ein Projekt
zur Wind- und Solarenergie vorgeschlagen
hat. Und Afrins Premierministerin Hevin
Ibrahim, eine alawitische Chemie- und Physiklehrerin, telefoniert den neuen Schulbüchern hinterher, die von einem türkischen Verlag gedruckt wurden und über die
Grenze geschmuggelt werden müssen.
„Wir wollen keine Unabhängigkeit und
keinen eigenen Staat“, beteuert die Premierministerin in ihrem Büro. „Wir wollen
keine Feinde und versuchen unser Bestes,
damit Syrien nicht zerfällt.“ Was sie täten,
sei keine Staatsgründung, sondern „Selbstmanagement“. Niemand müsse Angst haben, „wir sind Technokraten“, sagt sie
freundlich und gänzlich ungefährlich aussehend, mit Sakko und Rüschenbluse.
Immer geht es entlang der feinen Linie,
weder den völligen Bruch mit Damaskus
zu wagen, noch die türkische Regierung
mit allzu lautem Reden über die Abspaltung zu verprellen.
Doch der Termin mit Hevin Ibrahim
scheitert fast daran, dass selbst die Uhren
hier anders gehen als im Rest Syriens: Die
Regierung hat beschlossen, dass die Uhren
um eine Stunde zurückgestellt werden, auf
Winterzeit, wie in Europa. In einem geradezu ironischen Akt imitieren die Kurden
in Afrin sogar einen der wichtigsten Schritte der Staatsgründung ihres ewigen Widersachers Türkei: Sie führen die lateinische Schrift ein. Kemal Atatürk hatte das
vor etwa hundert Jahren genauso gemacht,
um die Türkei aus der Konkursmasse des
Osmanischen Reiches zu lösen. Im Schul-
FOTO: CHRISTIAN WERNER / DER SPIEGEL
Kurdische Milizionäre südlich von Kirkuk: Tagsüber kämpfen die Peschmerga, nachts, wenn es ernst wird, kämpft die PKK
Titel
unterricht, auf Ortsschildern, im Wochenblatt, überall wird nun nicht mehr in
arabischer, sondern lateinischer Schrift
geschrieben. „Das passt einfach besser zu
unseren kurdischen Lauten“, erklärt Hevin
Ibrahim in linguistischer Unschuld.
Gründlicher kann man sich kaum abkoppeln von dem Staat, den man zu erhalten vorgibt. Aber mit genau dieser Strategie, leise und pragmatisch eigene Strukturen aufzubauen, sind die syrischen
Kurden weit gekommen. Anfangs taten sie
es, um das Vakuum nach dem Abzug der
Truppen Assads zu füllen, doch inzwischen geht es weit darüber hinaus. „Wir
bereiten jetzt einen Wahlrat für alle drei
Kantone vor“, sagt die Premierministerin,
„um schrittweise die Demokratie einzuführen.“ Falls der syrische Staat irgendwann doch implodieren sollte – die Kurden
von Afrin sind vorbereitet. Vom eigenen
Staat wird nicht geredet, er wird einfach
geschaffen.
Sabri Ok, der PKK-Führer in den Kandil-Bergen, ist da weniger diplomatisch,
angesprochen auf Afrin ruft er begeistert:
„Diese Selbstbestimmung wünschen wir
uns für ganz Nordkurdistan und für alle
kurdischen Gemeinschaften in der Welt.“
Man wolle auch gern mit der Türkei ins
Gespräch kommen, erzählt Afrins Außenminister Suleyman Jafer: „Wir haben denen sogar einen Brief geschickt, dass wir
gern friedliche Beziehungen mit ihnen hätten, aber es kam keine Antwort.“ Ansonsten habe er mit richtigen Staaten noch
nicht so viel Kontakt gehabt, räumt Jafer
ein. Es hat etwas von Europa zu Zeiten
nach Perspektive könnte man sagen: Sie
ernten, ohne die Opfer der anderen erbracht zu haben. Oder sie haben einfach
das Beste aus dem Krieg gemacht.
Dennoch ist allen in Afrin klar: Sollte
Kobane trotz Hilfe aus der Luft den Horden von IS unterliegen, wäre ihre friedliche Welt das nächste Ziel der Radikalen.
Im Visier der Dschihadisten ist Afrin
längst: Vor Kurzem flog ein 17-Jähriger
auf, der von IS angeworben, in der Türkei
trainiert und dann als Ein-Mann-Schläferzelle nach Hause geschickt worden war.
Er solle zur YPG gehen und auf weitere
Befehle warten, sagte ihm sein Instrukteur.
Auch Anschläge auf Kontrollpunkte um
Afrin gab es bereits. Und alle drei, vier
Monate tauschen YPG und IS Gefangene
aus, Dschihadisten gegen Kurden.
Doch der wirkliche Herrscher von Afrin
ist nicht Premierministerin Hevin Ibrahim
mit ihrem lustigen Kabinett, sondern Sipan, der Kommandeur der YPG, die mit
geschätzt 30 000 Männern und Frauen in
Kobane, Kamischli, in Kirkuk und im Sindschar-Gebirge kämpft.
Um Sipan zu treffen, muss man stundenlang von Posten zu Posten fahren, bis
zu einer Holzhütte im Wald. Aus der tritt
nach ein paar Minuten der Kommandeur
mit drei Begleitern. Er trägt Kampfanzug
und Lederjacke, raucht Slims, trinkt Tee
mit wenig Zucker, hat ein offenes Gesicht
und aufmerksame Augen. Sipan sagt, er
sei 40 Jahre alt, mehr als seinen Kampfnamen gibt er von sich nicht preis.
Dann will er erst mal wissen, wie die
deutsche Regierung den Krieg um Kobane
Es mischen sich zwei Dinge, der Einsatz für die kurdische
Nation und zugleich für ein wenig eigene Freiheit als Frau.
des Dreißigjährigen Krieges, doch Jafers
Sehnsucht ist das Europa von heute: „Wir
sollten einfach miteinander auskommen.
Wie die EU. Eine Welt ohne Grenzen!“
Ihre eigenen Grenzen allerdings haben
die Regierenden gründlich befestigt: Auf
allen Hügelspitzen des Kantons wächst seit
vier Monaten eine Art kurdische MaginotLinie, mit Wehrtürmen, die durch unterirdische Laufgänge mit Stahlbetondecken
verbunden sind. Rund um den Kanton
wird überdies ein vier Meter tiefer und
breiter Graben ausgebaggert, 50 Kilometer
lang. Keine Grenze, natürlich, sondern nur
eine Schutzmaßnahme.
Im Moment ist es ruhig an den Rändern
von Afrin. Aber fast ein Jahr lang, bis Anfang 2014, war der Kanton belagert von IS
und anderen syrischen Rebellengruppen,
die den Kurden ihre Kooperation mit dem
Assad-Regime übelnahmen. Denn im
Windschatten des Bürgerkriegs haben die
Kurden ihre Gebiete übernommen, ohne
dafür so maßlose Zerstörung zu erleiden
wie die arabischen Dörfer und Städte. Je
und die Rolle der Türkei sehe. Dass
Deutschland nur an die Peschmerga Waffen liefere und nicht an die YPG, die doch
den Kampf um Sindschar anführe, sei widersinnig, sagt er. „Sie könnten uns auch
direkt Waffen geben.“ Mit den Amerikanern gebe es seit September Treffen in
Europa und im Nordirak. „Dabei haben
wir besprochen, wie unsere Kämpfer in
Kobane Zielkoordinaten ermitteln und
weiterleiten können.“ Offenbar erfolgreich, denn seitdem bombardiert die Luftwaffe IS deutlich zielsicherer.
Dass der türkische Präsident Erdoğan
nun zugesagt habe, irakische Peschmerga
nach Kobane gehen zu lassen, aber weiterhin den Zugang für die YPG blockiere,
sei ein „türkisches PR-Manöver“. Die
Peschmerga würden nicht kommen, „außerdem sollten die erst mal bei sich im Irak
die Lage unter Kontrolle bringen“.
Die Schlacht um Kobane werde immer
mehr zum Stellvertreterkrieg, sagt der
Kommandeur: „Die Türken unterstützen
IS, die Amerikaner unterstützen uns. Es
wird eine prägende Erfahrung für die USA
und Europa sein, wer eigentlich ihr Freund
und wer ihr Feind ist.“
Die YPG jedenfalls gibt sich große
Mühe, ein Freund des Westens zu sein.
Und dabei spielen die Frauen eine wichtige
Rolle. Während IS verschleppte Frauen
versklavt, ziehen die kurdischen Frauen
an die Front.
Im Trainingslager in Afrin treten 34 junge Frauen in Kampfanzug an, ihre Kommandeurin Saria ist gerade mal 24 Jahre
alt. Anfangs wirkt die Szenerie eher beklemmend, aber nach einer Weile löst sich
die Anspannung, wiederholen die Frauen
nicht nur die Propagandaphrasen. Auf die
Frage, wer von ihnen gekämpft habe, gehen zögerlich zehn Hände nach oben.
Wie war es? Tuscheln, Kichern, schließlich meldet sich Bafri, 21, zarte Stimme,
seit zwei Jahren ist sie dabei: „Egal, wie
viel ich vorher trainiert hatte, es war doch
anders gegen IS.“ Sie habe getötet, sagt
sie: „Ich wusste, wofür ich es tat.“
Danach erzählen alle, sie diskutieren
die Unterschiede zwischen Krieg in den
Bergen und Häuserkampf, und sie tun etwas, was sehr ungewöhnlich ist für junge
Frauen in diesem Teil der Welt: Sie sprechen frei vor einer Gruppe, vor Fremden.
Später, beim Training, balancieren sie
über einen zwei Meter hohen Balken, robben unter Stacheldraht durch und machen
mitten im Lauf eine Rolle vorwärts über
einen halbmeterhohen Block. Auch das ist
etwas, was Frauen in der traditionellen
kurdischen wie arabischen Welt selten tun.
Und in der „Ideologiestunde“ wird es nicht
um Kurdistan gehen, sondern darum, dass
auch eine Frau ein Wesen mit Rechten ist.
Es mischen sich zwei Dinge, der Einsatz
für die kurdische Nation und zugleich für
ein wenig eigene Freiheit als Frau. Die
PKK hat in ihren Gebieten die starren Familienverhältnisse verändert, denn jeder
Vater kann seiner Tochter zwar so gut wie
alles verbieten – aber nicht, dass sie „in
die Berge geht“, zur PKK.
Aus diesem Trainingslager in Afrin sind
acht junge Frauen nach Kobane gegangen;
eine Mission ohne Wiederkehr, falls die
Stadt fällt. Aber der Kampf gegen die
Dschihadisten von IS sei nicht nur eine
rein militärische Angelegenheit, ergreift
die Kommandeurin das Wort: „Das ist
mehr, das ist auch ein Kampf gegen dieses
machohafte Gebaren.“ Gelächter steigt
auf. „Das gibt es auch hier, unter Kurden.
Diese Mentalität müssen wir beseitigen,
dass wir den Männern einfach gehören.“
Ralf Hoppe, Maximilian Popp,
Christoph Reuter, Jonathan Stock
Video: Ein PKK-Kommandeur
über die IS-Strategie
spiegel.de/sp442014pkk
oder in der App DER SPIEGEL
DER SPIEGEL 44 / 2014
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Heimatfront
in Syrien
Extremismus Junge Kurden aus
Deutschland ziehen für die
verbotene Arbeiterpartei PKK
in den Kampf – gegen die
Milizen des „Islamischen Staats“.
K
urz vor der Grenze versteckten sie
sich in einem ausgetrockneten Bachbett. Wenn Berdi Akpolat* und sein
Cousin über den Rand lugten, sahen sie
die Scheinwerferkegel der türkischen Patrouillenfahrzeuge. Sie passten die Lücke
zwischen zwei Jeeps ab, rannten zum Zaun,
legten ein Brett über den Nato-Stacheldraht und liefen hinüber nach Syrien.
Dort erwartete sie eine Gruppe von
knapp 20 bewaffneten Männern und Frauen. Ihr Anführer umarmte Akpolat. „Welcome to Rojava“, sagte er, bevor der Panzerbeschuss von der türkischen Seite begann. Die Kämpfer hätten zurückgefeuert,
so erzählt es Akpolat, und seien mit ihm
und seinem Cousin in ein Haus gelaufen,
* Name von der Redaktion geändert.
90
DER SPIEGEL 44 / 2014
in dem einst Abdullah Öcalan, der Gründer der verbotenen Arbeiterpartei PKK,
genächtigt haben soll.
Es war weit nach Mitternacht, und die
beiden Männer aus Deutschland hörten
die Salven und Einschläge von den Gefechten zwischen den Guerillatruppen der
PKK und den Terrormilizen des „Islamischen Staats“ (IS). Akpolat, 21, Stuttgarter
Kurde mit deutschem Pass, sprach mit bewaffneten Frauen, die ihm sagten, er sei
ideologisch schon so weit, dass er zum
Kämpfen in die Region Kobane gehen könne. Als ein Pick-up-Geländewagen kam,
seien sie aufgestiegen und hätten einen
Platz für ihn frei gelassen, erzählt er.
„Komm!“, riefen sie.
Akpolat trat seine Reise im August an.
Die deutschen Sicherheitsbehörden vermuten, dass er zu einer wachsenden Zahl junger Kurden aus Deutschland gehört, die
dasselbe tun, was bislang vor allem von Salafisten bekannt war: Sie ziehen in den Bürgerkrieg nach Syrien. Nicht auf die Seite
der Islamisten, sondern in die Reihen der
kurdischen Arbeiterpartei PKK – einer in
der Bundesrepublik als terroristische Vereinigung verbotenen Organisation, die für einen unabhängigen kurdischen Staat kämpft.
Derzeit gehen deutsche Sicherheitskreise von rund 50 ausgereisten Männern und
Frauen aus, doch die tatsächliche Zahl liegt
womöglich höher. Denn anders als IS ist
die PKK auch in Deutschland eine straff
FOTO: UWE MÜLLER / VISUM
Kurden-Demonstration gegen IS am 11. Oktober in Düsseldorf
geführte Organisation, die seit Jahrzehnten für hiesige Ermittler kaum greifbar im
Verborgenen agiert. Ihre Kämpfer reisen
meist unbemerkt aus – und kehren zur Erholung zurück in die Bundesrepublik.
Akpolat bestreitet, in Syrien gekämpft
zu haben. Er sei nur wenige Tage dort gewesen. Drei Tage, in denen er Menschen
sterben sah, Verletzungen betrachten musste, von Gräueltaten und Heldenmomenten
hörte. Dann sei er wieder gegangen – weil
sein Cousin seiner Mutter versprochen
habe, ihn heil zurückzubringen.
Klar habe er in Syrien eine Kalaschnikow mit sich getragen. „Man darf in Kobane nicht ohne Waffe herumlaufen“, behauptet er. Doch er habe nur seinen Cousin begleitet, der PKK-Kämpfer aus der
Türkei in die Kurdengebiete im Norden
Syriens schmuggle – „mehr als 500 bislang“, sagt Akpolat stolz. Natürlich kenne
er Leute, die nun kämpften. Ein Freund
vom Bodensee sei dort, aber auch andere,
darunter Frauen. „Es sind viele“, sagt er.
Der junge Mann sitzt ganz in Schwarz
gekleidet im Wohnzimmer seiner Eltern.
Seine Augen leuchten, wenn er vom
Kampf der Kurden erzählt. Er kennt die
Daten in der Geschichte der PKK auf den
Tag genau. Sein Großvater soll zu den Mitbegründern des militärischen Flügels der
Partei gehört haben. Neben dem Fernseher
steht ein jüngeres Foto des PKK-Chefs Öcalan. Ein Strassstein im goldenen Bilderrahmen funkelt wie ein Stern über Öcalans
ergrautem Schopf. „Ohne die PKK gäbe
es uns Kurden nicht mehr“, sagt Akpolat,
„unsere Sprache, unsere kulturelle Identität wären verloren.“
Die Wände des kurdischen Kulturzentrums im Stuttgarter Ostend, in das der
junge Mann geht, zieren überlebensgroße
Porträts von drei 2013 in Paris ermordeten
PKK-Aktivistinnen. Ein vergilbtes Poster
zeigt angeblich die Konterfeis von zwölf
PKK-Leuten aus der Region Stuttgart, die
im Kampf gegen die Türkei gefallen sind.
Auf einem Tischchen stehen zwei Fotos
wie auf einem Altar aufgebaut, eines von
einem Mann, das andere von einer Frau.
„Das sind die aktuellen Gefallenen“, sagt
Akpolat. Er zeigt auf die Frau: „Sie hat
71 IS-Kämpfer mit in den Tod gerissen.“
Zwei ältere Männer betreten die Räume
des Kulturzentrums. Angeblich Funktionsträger in „der Bewegung“, wie sie sagen.
Reisen junge Menschen aus Deutschland
als Kämpfer für die PKK nach Syrien? „Wir
heißen es nicht gut, wenn zu junge Leute
kommen“, sagt einer der Männer, „sie
müssen über 18 sein.“ Aber natürlich: „Es
passiert jeden Tag, dass Männer und Frauen sich auf den Weg machen.“
Deutsche Sicherheitsbehörden wissen
das. Seit Jahren wirbt die PKK nach den
Erkenntnissen der Ermittler Freischärler
für ihren Kampf gegen die Türkei. Speziell
Titel
geschulte Rekrutierer sprechen zumeist
junge Männer an und versuchen, sie mit
Abenteuerlust, Idealismus oder Heimatliebe zu ködern.
Die Zahl potenzieller Freiwilliger
scheint groß. Die Sicherheitsbehörden gehen aktuell von rund 13 000 PKK-Anhängern in Deutschland aus. Die Bundesrepublik dient der seit mehr als zehn Jahren
verbotenen Organisation vor allem als
Rückzugs- und Rekrutierungsraum. Ausgestattet mit Decknamen und falschen Biografien führen stets rotierende Kader die
vier Regionen der PKK in Deutschland,
„Sahas“ genannt: Nord, Mitte, Süd 1 und
Süd 2. Einmal angeworben, erhalten Freiwillige zumeist eine ideologische Erstschulung für den Kampf in Camps in den Niederlanden oder in Belgien; danach reisen
sie in die Kurdengebiete.
Seit dem Herbst vergangenen Jahres bemerken Ermittler und Geheimdienste, dass
die PKK zunehmend für den Bürgerkrieg
in Syrien rekrutiert. „Es fing langsam an,
aber jetzt ist richtig Druck im Kessel“, sagt
ein Beamter. Insbesondere die Bilder aus
dem Kampf um Kobane wirkten auf die
jungen Menschen. Im Grenzgebiet der Türkei und des Iraks würden die Männer und
Frauen, so heißt es in einem internen
Papier aus Sicherheitsbehörden, militärisch ausgebildet – um für den PKK-Ableger YPG in Syrien zu kämpfen.
Es machen sich so viele Kurden aus
Deutschland auf, dass die Behörden versuchen, sie an der Ausreise in die Krisenregion zu hindern, sollten sie sich an den
bewaffneten Kämpfen dort beteiligen
wollen.
Doch schon bei den gewaltbereiten Islamisten tut sich der Staat mit diesem Unter-
ten und Nachrichtendiensten. Für die
Sicherheitslage hierzulande sind zwar besonders die Rückkehrer relevant, jedoch
aus anderem Grund. Kurdische Kämpfer,
die heimkehren, tun dies zur Erholung.
Kommen Salafisten über die Grenze nach
Deutschland, gelten sie als potenzielle
Attentäter.
Die Behörden treibt bei den kurdischen
Rückkehrern daher die Sorge um, dass
deren Präsenz die Spannung zum salafis-
Die Präsenz der Rückkehrer heizt die Stimmung zwischen
Kurden und Salafisten in Deutschland an.
fangen schwer, bei den Kurden scheint das tischen Milieu verschärft. Bereits vor zwei
nahezu unmöglich. „Diese Leute sind nicht Wochen warnte das Bundeskriminalamt
so blöd wie die Dschihadisten“, sagt ein nach Krawallen in Hamburg und Celle vor
Geheimdienstler. „Man kann sie von ganz der „starken Emotionalisierung“ beider
normalen Reisenden nicht unterscheiden; Parteien.
So sieht es auch Akpolat, der nun jeden
wenn sie für die PKK aktiv sind, dann im
Verborgenen.“ Und einmal im Krisengebiet Tag die Mahnwache am Stuttgarter
angekommen, schicken sie anders als die Schlossplatz besucht. Er redet, er will für
IS-Kämpfer keine Fotos mit abgeschlage- Aufmerksamkeit sorgen, und er beobachnen Köpfen und treten kaum in Webvideos tet eine sich allmählich aufheizende Stimauf. „Wir stochern da ziemlich im Nebel“, mung zwischen Salafisten und Kurden.
räumt ein anderer Sicherheitsbeamter ein. „Wenn es so weitergeht“, sagt er, „ist es
Das mag dem Geschick der PKK-Anhän- nur eine Frage der Zeit, bis es hier zur weiger geschuldet sein – oder der Ressourcen- teren Eskalation kommt.“
verteilung bei Polizei, StaatsanwaltschafJörg Diehl, Fidelius Schmid
Kurden auf dem Weg zur Neujahrsfeier in DiyarbakIr
Ihr werdet nie in Sicherheit sein
Kiyak, 38, studierte am Deutschen Literaturinstitut
Leipzig, ließ sich in der Abtei Fulda als Klostergärtnerin ausbilden und arbeitet als Publizistin. Ab
November läuft ihr erstes Bühnenstück „Aufstand“ –
über einen kurdischen Künstler in der Türkei – am
Maxim Gorki Theater in Berlin.
D
ieses eine Mal schämte ich mich nicht, Teil des kurdischen
Volkes zu sein. Der in der Türkei lange verbotene Sänger
Şivan Perwer sang erstmals im Londoner Wembley-Stadion auf Englisch einen Song. Sein Akzent war lausig, und er
hatte wie so oft diese unfassbar schlecht geschnittene Peschmerga-Hose an. Sein Kopf war mit einem Tuch bedeckt, das sich wie
eine Serpentine zu einem kurdischen Bergmassiv auftürmte.
Aber, und das war das Wichtigste, wir waren angekommen in
der großen, glitzernden Welt von MTV. Wir, das kurdische Volk,
waren endlich offiziell Opfer. Und es kümmerten sich höchstpersönlich um uns: Chris de Burgh, Madonna und Rod Stewart. Das
war 1991. Das Konzert hieß „The Simple Truth“ und sollte Spendengelder für kurdische Flüchtlinge aus dem Irak zusammentrommeln, die im Winter unter erbärmlichen Umständen vor Saddam
Hussein und seiner Vernichtungspolitik in Richtung Türkei flohen.
Zuvor waren die irakischen Kurden 1988 in Halabdscha mit Giftgas
angegriffen worden. Kleine Videoclips versuchten, die lange Vertreibungsgeschichte der Kurden für MTV-Zuschauer weltweit in
einer pompösen Fünf-Stunden-Show so anschaulich wie nötig zu
zeigen. Meine Eltern weinten während der Ausstrahlung lange
und oft. Besonders heftig schüttelte es meine Mutter, als Chris de
Burgh „Lady in Red“ für uns Kurden sang. Besonders heftig schüttelte es meinen Vater, als der kleine, stämmige Şivan Perwer mit
seiner Saz, einem Zupfinstrument, auf die Bühne stapfte und sie
wie eine Widerstandsfahne hochhielt.
Ich kannte Şivan Perwer von den alljährlichen Newroz-Feiern
im März. Newroz bedeutet übersetzt „neuer Tag“ und markiert
den Jahresanfang, es ist also unser Silvester, eigentlich ein unpolitisches Fest. Aber wir feierten es in riesigen deutschen Stadthallen als politisches Festival, mit kurdischer Musik, Lyrik, Folk92
DER SPIEGEL 44 / 2014
lore, Agitation. Je nach politischer Lage wurden die Namen prominenter kurdischer Todesopfer verlesen sowie die aktuellen Foltermethoden aus den türkischen Gefängnissen. Der Höhepunkt
war jedes Mal erreicht, wenn Şivan Perwer seinen größten Hit
vortrug. Es handelt sich um eine Vertonung des kurdischen Gedichts „kîne em“ („Wer sind wir?“) von Cegerxwîn. Şivan setzte
langsam an, ließ seine Stimme beben, bis er zum Schluss des
Textes fast verzweifelt schrie. Wer sind wir? / Bauern und Arbeiter / Dörfler und Proletarier / Kurdisches Volk. Revolution und
Vulkan / Dynamit. Wir sind der Osten / im Sternzeichen / auf der
Burg / in jeder Stadt / in jedem Dorf / auf dem Gleitflug, auf der
Klippe / in der Hand des Feindes. Die Krönung seines Auftritts
war stets, dass mindestens eine Saite der Saz riss und Helfer
unter tosendem Applaus ein Ersatzinstrument herbeischafften.
Danach fuhren wir erschöpft in Bussen nach Hause in unsere
Städte, am nächsten Tag wurde in den deutschen Fabriken weitergearbeitet, neben türkischen Kollegen, deren Staat man am
Abend zuvor die Pest an den Hals gewünscht hatte. Die NewrozFestivals waren mir peinlich (nie erzählte ich an einem Montag,
dass wir Neujahr in einer Stadthalle gefeiert hatten), das „Simple
Truth“-Konzert nicht. Jahrzehnte später schäme ich mich für
„Lady in Red“ und dafür, dass Şivan sich gezwungen sah, „kîne
em“ auf Englisch zu singen.
Zu Hause bekamen wir eingehämmert, dass wir auf die Frage,
welche Nationalität wir hätten, deutschen Lehrern, Nachbarn
oder Freunden antworten sollten: Wir sind Kurden. Das erschien
mir merkwürdig, denn wir waren damals, später änderte sich
das, Staatsbürger der Türkischen Republik. Wie konnte man den
Pass eines Landes tragen, aber jemand anderes sein?
Waren wir aber in der Türkei, sollten wir auf dieselbe Frage
antworten: Wir sind Türken. Mein Vater brachte uns bei, etwas
Stolz und Erhabenheit in die Stimme einfließen zu lassen. „Türken“, nicht „türkische Staatsbürger“, die Unterscheidung war
sehr wichtig! Letzteres hätte signalisiert, dass man nur dem Papier
nach Türke sei, in Wahrheit aber Kurde.
Ist klar, dass man da etwas durcheinanderkommt. Als ich an
der Grenze gefragt wurde, was meine Eltern seien, antwortete
FOTOS: KURSAT BAYHAN / ZAMAN / SIPA / DDP IMAGES (O.); UTE LANGKAFEL (L.)
Essay Warum es ungünstig ist, auf dieser Welt Kurde zu sein
Von Mely Kiyak
Titel
ich dem türkischen Grenzpolizisten aus Versehen: „Sie sind Kurden!“ Ich ließ Stolz und Erhabenheit in meine Stimme fließen.
Mein Vater bekam einen Schweißausbruch, und meine Mutter
antwortete geistesgegenwärtig, ich sei klinisch schwachsinnig (ein
Merkmal, sagte sie, sei dieses ganze „Geschwätz mit den Kurden“:
„Woher sie das bloß hat, bestimmt von den Terroristen! Gott
stehe uns bei!“). Man bringe mich gerade zur Behandlung in die
Hände ordentlicher türkischer Psychiater. Sie machte das so gut,
dass der Grenzbeamte meine Mutter tröstete und viel Geduld
mit ihrem schlimmen Schicksal wünschte.
Wir lebten in einer deutschen Kleinstadt, in der es kaum Kurden gab. Erst in den Neunzigerjahren kamen in großer Zahl
Kurden als politische Flüchtlinge nach Deutschland. Sie bildeten
die zweite große Einwandererwelle aus der Türkei. Meine Mutter
arbeitete als Übersetzerin für das Gericht, bei Ärzten, in Krankenhäusern, in Gefängnissen. Weil die Asylbewerber meine
Mutter nicht bezahlen konnten (die Kommune übrigens nahm
ihre Dienste als selbstverständlichen Beitrag für ihre „Landsleute“ umsonst in Anspruch, ihr Geld verdiente meine Mutter als
Putzfrau), wurden wir von den Flüchtlingen oft eingeladen. Ich
sah Männer, die durch Folternarben ihre Arme nicht an den
Körper drücken konnten, ich hörte von grausamen Foltermethoden. Und noch etwas. Ich war damals sexuell unerfahren,
aber ich wusste en détail, wie man Frauen und Männer sexuell
erniedrigt, ich erlernte die Fachbegriffe, die es dafür im Türkischen gibt. Noch bevor ich die körperliche Liebe
selbst erfuhr, lernte ich, was man mit Körpern
nur zum Zwecke der Misshandlung anstellen
kann. Ich hörte diese Dinge samstags und sonntags auf den Sofas fremder Menschen beim Teetrinken und Nüsschenknabbern. Ich verstand,
dass es ungünstig ist, auf dieser Welt ein Kurde
zu sein.
I
J
ahrzehntelang wurden die Titelseiten türkischer Medien mit
Fotos von Särgen türkischer Soldaten geschmückt. Fotos von
Zehntausenden zivilen kurdischen Opfern und 3000 zerstörten kurdischen Dörfern haben es nie auf die Titelseiten geschafft.
Bis heute begreift die türkische Bevölkerung nicht, dass die kurdische Bevölkerung unter einer brutalen Politik litt. Bis heute
findet man kaum einen Türken, der in Kurdistan war. Bis heute
weiß kaum jemand, was es praktisch bedeutet, ein „normaler
Kurde“ zu sein und nicht politischer Aktivist oder gar Mitglied
der PKK. Nicht ein einziges Mal habe ich gehört, dass ein deutschtürkischer Kollege zu mir gesagt hätte: „Ist schade, was im Osten
geschieht.“ Erst seit der Protestbewegung in Istanbul 2013 merken
meine Altersgenossen, dass ihre Weltsicht korrekturbedürftig ist.
Als sich die Waffen und Wasserwerfer gegen sie selbst richteten,
da sagten die Mittelschichtstürken: „Jetzt glauben wir euch, dass
die Zeitungen lügen, die Polizei korrupt ist, die Staatsanwälte
klüngeln und die Regierung brutal ist.“ Aber so ist es wohl. Die
Diktatur stört immer nur den, der davon betroffen ist.
Das alles geht mir durch den Kopf, wenn ich fliehende Kurden
aus Syrien sehe, Episode reiht sich an Episode. Ich blicke auf
Kurdistan, ratlos und wild. Wütend. Nun ist die Situation in einer
so verfahrenen Lage, weil auch die westlichen Politiker schwiegen:
Wenn es nicht gerade akut um den EU-Beitritt der Türkei ging,
wurde die Menschenrechtsfrage der Kurden nicht behandelt. Als
ich voriges Jahr mehrere Monate in der Türkei verbrachte und
auch im Süden an der syrischen Grenze war, sah
ich islamistische Kämpfer durch die Städte spazieren. Anwohner erzählten mir, dass die Grenzen durch Milizen der Nusra-Front gesichert würden. Wo gibt es denn das, dass fremde Islamisten
die eigenen Grenzsoldaten ersetzen? Wieso hat
Deutschland die türkische Regierung nicht bereits 2013 unter Druck gesetzt? Sind wir nicht
Nato-Partner?
Islamisten versuchten, im Süden der Türkei
Kurden zu vertreiben; die Einzigen, die darüber
schrieben, waren kurdische Medien. Der Rest
der Weltöffentlichkeit war damit beschäftigt, die
Gezi-Bewegung zu diskutieren. Die Kurdenfrage
jedoch wurde bei den Protesten in Istanbul so gut wie nicht thematisiert. Es war absurd: Die Türken im Westen gingen auf die
Straße, um gegen Repressalien seitens der Regierung zu kämpfen,
und die Kurden, die davon jahrzehntelang betroffen waren, trauten sich nicht mitzumachen, um Friedensgespräche nicht zu blockieren.
Es war, so meine ich, im Juli 2013, als ich Diyarbakır besuchte,
eine kurdische Millionenstadt im Südosten Anatoliens. Der Friedensprozess zwischen der PKK und der Türkei war wenige Wochen alt, als Militärhubschrauber über der Stadt kreisten. Wenn
man sich zu lange auf der Straße aufhielt und sich eine kleine
Ansammlung formierte, flogen die Helikopter tiefer, um die Menschen zu filmen. Der Staat misstraute seinen Friedenspartnern
so sehr, dass er sie beobachtete, wohlgemerkt nicht die PKK,
sondern die zivile kurdische Bevölkerung. Nun höre ich, dass in
Diyarbakır wieder Ausgangsperren verhängt worden sind. Wieder
sitzen also Kinder zu Hause und fürchten um ihre Eltern, diese
alte Angst – sie hört wohl nie auf in diesem Land.
Ich war dieses Jahr dabei, als die ersten jesidischen Flüchtlinge
in Diyarbakır ankamen und sagten: Endlich sind wir in Sicherheit.
Ich dachte: Ihr seid Kurden, ihr werdet nie in Sicherheit sein.
Nicht wenn Mitbürger euch weiter als Feinde betrachten. Nicht
wenn Türken den Freiheitskampf der Kurden als Aufstand gegen
„ihr“ Land missverstehen – statt als Engagement für eine friedliche Türkei. Nicht, wenn Nato-Partner die Türkei gewähren lassen – statt dafür zu sorgen, dass endlich die kurdische Bevölkerung innerhalb und außerhalb der Landesgrenzen geschützt wird.
Muss denn immer erst ein Chris de Burgh kommen und sich für
Kurden einsetzen?
I
„Jetzt glauben
wir euch, dass
die Polizei korrupt
ist, die Staatsanwälte klüngeln
und die Regierung
brutal ist.“
ch möchte noch etwas anderes erzählen,
bevor ich auf die Gegenwart komme. Wenn
wir in die Türkei fuhren, hatte ich Angst. Einmal ist mein Vater von einem Besuch in den
kurdischen Bergen nicht zurückgekehrt. Er wurde verhaftet, weil man ihm vorwarf, kurdische Terroristen versorgt zu haben. Ich erinnere mich, wie ich im Wohnzimmer meiner Großmutter saß und es keine Möglichkeit gab zu intervenieren. Keine Anwälte, keine Lokalzeitung, die man hätte informieren können, nichts. Man konnte nur hoffen, dass er während
des Verhörs nicht so gefoltert wurde, dass dauerhaft Schäden
bleiben würden.
Ein anderes Mal, das liegt noch weiter zurück, kam jemand
ins Haus meiner Familie und flüsterte: „Schnell, versteckt Hasan,
sie kommen ihn holen.“ Mein Vater sagte: „Sollen sie doch kommen, ich habe nichts getan“; da flehte meine Großmutter: „Bitte
verstecke dich, tue es ihr zuliebe, damit sie es nicht mit ansehen
muss.“ Mit „ihr“ war ich gemeint, mit „ansehen“ das Verhaftungsprozedere. Meine Großmutter hatte gerade einen Kühlschrank bekommen. Sie sagte: „Schnell hinein mit ihm!“ Doch
die Zeit war zu knapp, mein Vater schaffte es bloß, sich hinter
den Kühlschrank zu hocken. Die Onkel taten so, als würden sie
das Ding gerade anschließen, als die Geheimpolizei auftauchte.
Ich wäre fast in Ohnmacht gefallen, weshalb ich die Details nicht
mehr erinnere. Nur dass die Beamten verschwanden, meine Verwandten wieder gemütlich und cool beisammensaßen, Melone
aßen und ich dachte: „Scheiß-Kurdisch-Sein!“.
Ich könnte stundenlang so weitererzählen. Wie die türkischen
Freunde nach den Ferien mit ihren Urlauben an der türkischen
Riviera prahlten und ich mich nicht traute zu sagen: „Dieses Jahr
hat ein Kühlschrank meinem Vater das Leben gerettet.“ Und in
einem anderen Jahr: „Dieses Mal ist es schiefgegangen, er wurde
verhaftet“, weil Kurdisch-Sein, damals wie heute, in der türkischen Bevölkerung mit Terrorismus gleichgesetzt wird.
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