Wollen wirklich alle den “mündigen Verbraucher”? Wie - BMEL

Wollen wirklich alle den “mündigen Verbraucher”?
Wie Interessengruppen ein Leitbild instrumentalisieren
Stellungnahme des Wissenschaftlichen Beirats Verbraucher- und
Ernährungspolitik beim BMELV
Dezember 2010
Hauptautor: Christoph Strünck
mit Anmerkungen von
Tilman Becker, Helmut Jungermann, Ingrid-Ute Leonhäuser, Hans-W. Micklitz,
Andreas Oehler, Michael-Burkhard Piorkowsky, Lucia A. Reisch
Zusammenfassung:
Die Verbraucherpolitik beruft sich auf das Leitbild des „mündigen Verbrauchers“. Allerdings gibt es unterschiedliche Interpretationen, was unter Mündigkeit zu verstehen ist. Außerdem ist die Wirklichkeit häufig weit entfernt vom Ideal
des „mündigen Verbrauchers“. Diese Unschärfe nutzen Verbände und Organisationen, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen und ihre Positionen zu legitimieren. Das gilt sowohl für Wirtschaftsverbände als auch für Verbraucherorganisationen, die stellvertretend die Interessen der Konsumenten wahrnehmen. Welche
Widersprüche und Probleme entstehen, wenn Interessengruppen das Leitbild des
mündigen Verbrauchers für sich nutzen, wird im vorliegenden Diskussionspapier
erörtert. Dazu werden zunächst einige konkrete Thesen und daraus abgeleitete
Empfehlungen präsentiert. Im Hauptteil des Papiers wird die Instrumentalisierung des Leitbilds grundsätzlich erörtert.
I.
Der „mündige Verbraucher“ als Vehikel des
Lobbyismus: Thesen und Empfehlungen
(1) Eine neutrale Position in der Verbraucherpolitik zu beziehen, ist praktisch kaum möglich. Wenn eine Regierung vor übertriebener Skandalisierung warnt, kann man ihr vorwerfen,
sich vor den Karren der Unternehmen spannen zu lassen. Tritt sie für höhere Sicherheitsstandards ein, steht sofort der Vorwurf im Raum, dass durch höhere Kosten das Wirtschaftswachstum und damit die Arbeitsplätze bedroht seien.
(2) Aufgrund dieses Dilemmas ist es wenig verwunderlich, dass sich sowohl Regierungen
als auch Interessengruppen stets auf den „mündigen Verbraucher“ berufen. Alles andere wäre
politisch ohnehin heikel, denn Paternalismus gilt inzwischen in weiten Teilen der Öffentlichkeit wie auch in der Wissenschaft als nicht mehr zeitgemäß. Doch nicht das Leitbild ist in
erster Linie problematisch, sondern seine Instrumentalisierung durch Interessengruppen.
(3) Die folgenden Thesen sollen zum Einstieg verdeutlichen, welche Probleme dabei auftauchen können. Sie werden ergänzt durch einige Empfehlungen an die staatliche Verbraucherpolitik.
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(4) Der „mündige Verbraucher“ als konsensfähiges Leitbild der Wirtschaftsverbände
lenkt von deren innerverbandlichen Konflikten ab.
• Erläuterung: Die Mitglieder von Spitzenverbänden der organisierten Wirtschaft haben sehr
unterschiedliche Vorstellungen von Verbraucherinteressen und -präferenzen. Wenn zum
Beispiel Möbelhersteller die Rabattschlachten von Möbelhäusern beklagen oder die Hersteller von Nachahmer-Präparaten den forschenden Arzneimittelherstellern unlautere Argumentation im Preiswettbewerb vorwerfen, verbergen sich dahinter typische Verteilungskonflikte innerhalb einer Branche. Und es verbergen sich dahinter auch unterschiedliche
Ansichten über die Präferenzen von Verbrauchern.
• Empfehlung: Bei der Gesetzesvorbereitung sollte vor allem danach gefragt werden, welche
Präferenzen die jeweiligen Wirtschaftsverbände den Verbrauchern unterstellen. Denn hierin zeigen sich die Interessenunterschiede zwischen Unternehmen und Branchen und ihre
unterschiedlichen Erwartungen an die Verbraucherpolitik.
(5) Der „mündige Verbraucher“ soll aktiv und frei entscheiden, doch Wirtschaftsverbände sprechen sich häufig für eine eher passive Rolle der Konsumenten aus, wenn es
dem wirtschaftlichen Interesse der Unternehmen nutzt.
• Erläuterung: Die Auseinandersetzung um die Alternativen „Zustimmung“ (opt-in) oder
„Widerspruch“ (opt-out) bei der Verwendung von persönlichen Daten für kommerzielle
Zwecke hat diesen Kontrast zwischen Leitbild und konkreten Positionen deutlich gemacht.
Wenn eine aktive Zustimmung (opt-in) von Verbrauchern vorgeschlagen wird, also eine
„mündige“ Entscheidung, dann sehen Verbände darin eher Nachteile für ihre Unternehmen. Denn Konsumenten folgen grundsätzlich dem „default“, also der voreingestellten Alternative. Wenn man etwa im Internet ohne einen gezielten Widerspruch automatisch Informationen bekommt und damit seine Daten preisgibt, werden die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher von ihrem Widerspruchsrecht keinen Gebrauch machen. Den Verbänden sind also die Grenzen und Undeutlichkeit des „mündigen Verbrauchers“ sehr wohl
bewusst; sie schätzen das Verhalten der Verbraucherinnen und Verbraucher durchaus realistisch ein.
• Empfehlung: Die Politik sollte grundsätzlich auf opt-in Klauseln drängen, wenn persönliche Daten zu kommerziellen Zwecken verwendet werden. Wenn man dem realistischen
Bild des „vertrauenden Verbrauchers“ folgt, wäre bei opt-out Klauseln ein Vertrauensmissbrauch wesentlich wahrscheinlicher.
(6) Verbandsklagemöglichkeiten sind mit dem Leitbild des „mündigen Verbrauchers“
vereinbar.
• Erläuterung: Streuschäden, bei denen der einzelne Verbraucher nur minimal betroffen ist,
würden gerade einen idealtypischen „mündigen Verbraucher“ nicht dazu bewegen, eine
Klage einzureichen. Ein solches Verhalten wäre angesichts der individuell geringen Kosten
irrational. Gerade das Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ legitimiert kollektive Klage2
möglichkeiten, um den hohen volkswirtschaftlichen Schaden abzuwenden. Der Rechtsweg
wird in Deutschland eher von halb-öffentlichen Organisationen wie den Verbraucherzentralen eingeschlagen als von neuen pressure groups wie Foodwatch, die stärker auf Kampagnen setzen. Daher stärken Klagemöglichkeiten eher diejenigen Verbraucherorganisationen1, die für die Unternehmen berechenbarer sind. Insofern ist es auch keineswegs unternehmensfeindlich, wenn die Politik solche rechtlichen Instrumente ausbaut.
• Empfehlung: Bei Streuschäden aufgrund wettbewerbswidrigem Verhaltens sollten die klageberechtigten Verbraucherzentralen und der vzbv die Interessen der Verbraucher in der
Form einer Verbandsklage vertreten können. Der geschätzte Schaden für die Verbraucher
wäre bei Erfolg der Klage der Stiftung Verbraucherschutz zuzuführen, aus der auch die
Kosten für die Klagen den Verbraucherzentralen erstattet werden.
(7) Gerade in komplexen Märkten ist es für Verbraucherorganisationen kaum möglich, im Namen „der“ Verbraucher zu sprechen, wie die Beispiele der Gesundheitsmärkte oder des Internets zeigen.
• Erläuterung: Auch wenn Qualität in der medizinischen Versorgung hohe Priorität genießt,
so mögen sich manche Patienten für eine intensivere Versorgung entscheiden, bei Abstrichen im Versorgungsniveau. Werden Mindeststandards eingehalten – etwa in der Pflege –
ist es das gute Recht der Betroffenen, zwischen solchen Optionen wählen zu können. Eine
Verbraucherorganisation, deren Priorität auf höchsten Qualitätsmerkmalen von Personal
und Ausstattung liegt, würde nicht die Interessen „aller“ Verbraucher vertreten. Und es ist
auch das Recht von Patienten, auf bestimmte Vorsorge-Untersuchungen zu verzichten.
Vorsorge auf breiter Basis verpflichtend zu machen, wäre ebenfalls keine Position, die im
Interesse „aller“ Verbraucher läge. Im Internet wiederum kollidieren die Interessen derjenigen Nutzer, die größtmöglichen und freien Zugang zu Daten als Fortschritt betrachten
und denjenigen, die prinzipielle Einschränkungen für richtig halten.
• Empfehlung: Verbraucherorganisationen sollten solche Interessenkonflikte kennzeichnen
und darauf hinweisen, dass es jenseits einer Grenze von Mindeststandards verschiedene
Präferenzen der Verbraucher und damit verschiedene Ziele der Verbraucherpolitik geben
kann.
1
Es gibt keinen wissenschaftlich anerkannten und handhabbaren Oberbegriff für diejenigen Organisationen, die in erster
Linie Verbraucherinteressen repräsentieren sowie Verbraucherinnen und Verbraucher informieren und beraten. Im vorliegenden Papier wird der Begriff „Verbraucherorganisationen“ als Sammelbezeichnung verwendet, da er sich im politischen Sprachgebrauch eingebürgert hat. Allerdings suggeriert dieser Begriff, dass Verbraucher in freiwilligen Mitgliedsorganisationen zusammen geschlossen sind. Das trifft aber weder auf die Verbraucherzentralen zu (Mitglieder sind dort
nur indirekt durch Mitgliedsorganisationen wie den Deutschen Mieterbund oder die Gewerkschaften organisiert) noch auf
kleine Kampagnenorganisationen wie Foodwatch. „Verbraucherorganisationen“ als Oberbegriff bezeichnet im vorliegenden Papier daher diejenigen Organisationen, die nach ihrem Selbstverständnis die Interessen von Verbraucherinnen und
Verbrauchern in der Öffentlichkeit, im Rechtssystem und gegenüber Politik und Wirtschaft vertreten sowie Konsumenten
mobilisieren, beraten und informieren.
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(8) Das Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ orientiert sich an den Interessen und
Ressourcen der Mittelschichten; die sozialpolitische Dimension der Verbraucherpolitik
bleibt unterbelichtet.
• Erläuterung: Verbraucherpolitische Konzepte sowie Medienkampagnen von Verbraucherorganisationen zielen häufig auf die Mittelschicht. Angehörige der Mittelschicht verfügen
über mehr Ressourcen und Kompetenzen, sich ausführlich zu informieren, sind aber zugleich von vielen Problemen weniger betroffen als sozial schwache Haushalte. An den Bedürfnissen und Möglichkeiten einkommensschwacher Haushalte geht das Leitbild des
„mündigen Verbrauchers“ daher vorbei.
• Empfehlung: Die Verbraucherpolitik sollte ihre Aufmerksamkeit u. a. auch auf die Ausgaben und das Konsumverhalten von armen Haushalten lenken, da die klassische Sozialpolitik meist auf die Einnahmen fixiert ist. Ein gutes Beispiel ist die in Deutschland vernachlässigte Diskussion über „Energiearmut“ (mehr als 10 Prozent des Einkommens wird für
Energiekosten verwendet). Hier sind politische Lösungsansätze möglich, die auch den Unternehmen Vorteile bieten und marktkonform sind (z. B. Alternativen zu Stromsperren in
Privathaushalten wie beim Projekt „Cariteam“ der Caritas in Frankfurt am Main).
(9) Das für Regierungen und Verbraucherorganisationen attraktive Vorsorgeprinzip
widerspricht teilweise dem Leitbild vom „mündigen Verbraucher“.
• Erläuterung: Die Kosten des Vorsorgeprinzips für Verbraucher und Volkswirtschaft werden politisch meist unterschlagen und sind auch schwer zu berechnen. Gerade bei Skandalen führt dies jedoch häufig zu Aktionismus, aber keineswegs immer zu Lösungen im Interesse der meisten Verbraucher. Die mit dem Vorsorgeprinzip verbundenen Regulierungen
müssen im Rahmen einer rationalen und realistischen Verbraucherpolitik im Sinne des
„vertrauenden Verbrauchers“ auch immer wieder kritisch überprüft werden.
• Empfehlung: Um die Regierung zu entlasten und das aktuelle Risikomanagement stärker
zu „rationalisieren“, sollte das BfR eine Task Force aufbauen, die in schwierigen Situationen nicht nur Risiken bewertet, sondern konkrete Kosten-Nutzen-Analysen von möglichen
Maßnahmen liefert. Das BfR sollte im Sinne einer aufgeklärten Verbraucherpolitik auch
die Kosten-Nutzen-Bilanz des Vorsorgeprinzips bei verschiedenen Maßnahmen berechnen,
soweit dies möglich ist, und damit einen eigenständigen Beitrag zum Risikomanagement
leisten.
(10) Die Instrumentalisierung des Leitbilds „mündiger Verbraucher“ stellt auch die
ökonomische Bildung an Schulen vor neue Herausforderungen.
• Erläuterung: Es ist ein wichtiges Ziel der ökonomischen Bildung, Kindern und Heranwachsenden das Wissen und die Werte für verantwortlichen Konsum zu vermitteln und sie
in dieser Hinsicht zu „mündigen Verbrauchern“ zu machen. Dies darf jedoch nicht dazu
führen, dass neues Wissen über die Grenzen der Eigenverantwortung, etwa durch regelmäßig auftretende Verhaltensirrtümer, im Unterricht vernachlässigt werden.
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• Empfehlung: Angesichts dieses Dilemmas sollte die Verbraucherpolitik stärker mit eigenen Positionen Einfluss auf die curriculare Entwicklung des Schulfachs „Wirtschaft“ bzw.
„Politik und Wirtschaft“ nehmen. Es besteht die Gefahr, dass den Vorstellungen einiger
Wirtschaftsverbände und Verbraucherorganisationen folgend ein vereinfachtes und veraltetes Bild von Wirtschaft und Wirtschaften vermittelt wird. Dies beträfe auch die Bedeutung
und Probleme des Konsums.
II. „Mündige Verbraucher“ und Interessenpolitik: eine
Vorbemerkung
(11) Verbraucherpolitik ist inzwischen zum politischen Tagesgeschäft geworden: Bereichern
sich Energiekonzerne auf Kosten der Konsumenten? Wem nutzt die Gentechnik? Können
Banken solide beraten? Was bewirkt eine Lebensmittel-Kennzeichnung? Missachten
Facebook und Google den Datenschutz?
(12) Der Schutz von Verbraucherinteressen scheint ein Gewinnerthema zu sein, zu dem auch
alle etablierten Verbände eine klare Position beziehen müssen. Einige Unternehmen und
Wirtschaftsverbände entdecken Verbraucherpolitik als ein probates Mittel, schwarze Schafe
aus dem Markt auszusondern, Qualitätsstandards zu verteidigen und für ihre Mitglieder gleiche Wettbewerbsbedingungen zu erreichen. Ähnlich argumentiert etwa der Bundesverband
der Deutschen Industrie in seinem jüngsten Grundlagenpapier zur Verbraucherpolitik (vgl.
BDI 2008). Für andere bedeuten weitergehende Rechte für die Verbraucher und Regeln für
die Unternehmen in erster Linie zusätzliche Kosten. Gegen vermeintliche Zumutungen aus
Politik und Medien bringen manche Unternehmen und Wirtschaftsverbände den „mündigen
Verbraucher“ in Stellung, der inzwischen informiert genug sei, um selbst entscheiden zu können. Doch statt mehr Transparenz bei Finanzdienstleistungen, Versicherungen, Telefonverträgen und anderen Produkten entstehen eher neue Unübersichtlichkeiten. Statt besserer Informationen bekommen Konsumenten immer häufiger Pseudo-Informationen. Viele Verbraucherinnen und Verbraucher sind damit überfordert. Oftmals entsteht eine „als-ob-Situation“: Die
Konsumenten geben vor, die Informationen zu verstehen und die Anbieter oder Berater suggerieren, dass sie die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden kennen. Das normative Leitbild
des „mündigen Verbrauchers“ wird gern dazu verwendet, um die eigenen Interessen zu verteidigen.
(13) Die Interessen der Konsumenten werden von einer wachsenden Zahl unterschiedlicher
Organisationen vertreten. Die meisten davon entsprechen allerdings nicht dem Typus der
„Selbstorganisation“, denn die Verbraucherinnen und Verbraucher sind dort nur selten als
Mitglieder organisiert. Vielmehr treten „Fremdorganisationen“ auf den Plan, die für sich in
Anspruch nehmen, die Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern stellvertretend
5
wahrzunehmen. Dazu zählen sehr unterschiedliche Arten von Organisationen. Zum einen
können das private Spendenorganisationen wie Foodwatch sein. Zum anderen stellen aber
auch die Verbraucherzentralen und ihr Dachverband, der vzbv, einen Typus der „Fremdorganisation“ dar, der allerdings öffentlich gefördert wird.
(14) Traditionell befassen sich die Verbraucherzentralen mit den Problemen der Verbraucher. Sie haben sich in jahrzehntelanger Arbeit als unabhängige Ansprechpartner bei den Verbrauchern ein sehr hohes Maß an Vertrauen erworben. Wenn Verbraucher gefragt werden,
welchen Institutionen sie vertrauen, so stehen die Verbraucherzentralen in der Regel an erster
Stelle. Die einzelnen Verbraucherzentralen unterscheiden sich teilweise in ihren Leitbildern,
haben jedoch alle als primäre Aufgabe die Information und Beratung der Verbraucher. Trotz
der Finanzierung durch die Länder (regelmäßige Zuwendungen und Projektförderung) und
ansatzweise durch den Bund (Projektförderung) sehen sich die Verbraucherzentralen als politisch unabhängige Institution bzw. sind bestrebt, die Unabhängigkeit zu wahren. Dabei ist das
Spektrum der Positionen sehr breit gefasst. Einzelne Verbraucherzentralen lehnen z. B. jede
Form der Finanzierung der eigenen Arbeit durch Anbieter ab. Andere experimentieren mit
Formen der Projektförderung, in die auch Unternehmen eingebunden sind.
(15) Vor einer Dekade etablierte sich außerdem der Verbraucherzentrale Bundesverband
(vzbv) als neuer Dachverband der Verbraucherzentralen. In ihm haben sich die frühere Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherbände, der Verbraucherschutzverein sowie die Stiftung
Verbraucherinstitut zusammengeschlossen. Stärker als die einzelnen Verbraucherzentralen
setzt der vzbv auch auf Kampagnen und Lobbyismus in der Politik.
(16) Vor wenigen Jahren betrat dann Foodwatch als private Kampagnen-Organisation die
Bühne. Mit ihrer aus der Umweltbewegung importierten Strategie füllt diese Organisation
offenbar eine Marktlücke, die durch die Schwerpunkte und den anderen Stil der Verbraucherzentralen entstanden ist.
(17) Es ist nicht immer deutlich, wer mit welcher Legitimität im Namen der Verbraucher
seine Stimme erhebt und wer auf welcher Grundlage und mit welcher Intention die Verbraucher mit mehr oder weniger neutraler Information versorgt und berät. Verschiedene OnlinePortale sind zu bekannten Organisationen wie Stiftung Warentest oder den Verbraucherzentralen hinzugekommen, Blogs machen die Runde, und Organisationen wie „Foodwatch“ fordern mit ihrem aggressiven Kampagnenstil heraus. Auch einige dieser Organisationen reklamieren für sich, das normative Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ zu verfolgen. Dies unterstreicht beispielsweise der Geschäftsführer von Foodwatch, Thilo Bode, in vielen seiner
öffentlichen Äußerungen, etwa zur grünen Gentechnik und der Wahlfreiheit der Konsumenten. Allerdings haben alle Organisationen auch ihre Eigeninteressen, die nicht automatisch
identisch sind mit den Interessen der Konsumenten.
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(18) Hinzu kommt, dass die vorgelagerten, unorganisierten Verbraucherinteressen alles andere als homogen sind; den oder die Verbraucher gibt es in dieser allgemeinen Form gar
nicht: Je nach sozialer Herkunft und ökonomischer Lebenslage sind Konsumstile und
-präferenzen völlig unterschiedlich. Und für wen spricht eine Verbraucherorganisation, wenn
es zum Beispiel um Datenschutz geht? Einerseits stärkt der Datenschutz die informationelle
Selbstbestimmung der Verbraucher, andererseits erschwert er auch neue Formen der kollektiven Zusammenarbeit mit Hilfe des Internet. Schließlich kostet der Datenschutz die Verbraucher, die Verbraucherorganisationen und weitere Teile der Volkswirtschaft auch Zeit und
Geld; auch muss möglicherweise auf technische Möglichkeiten verzichtet werden, die durchaus einen Teil der Verbraucher interessieren. Eine Verbraucherorganisation, die sich grundsätzlich gegen Googles „Street View“ oder gegen die Einführung der Gesundheitskarte ausspricht, könnte dies nicht im Namen „der“ Verbraucher tun.
(19) Die jüngere Verbändeforschung zeigt, dass es für den Einfluss und Erfolg von Interessengruppen meist gar nicht darauf ankommt, welche potenten Mitglieder eine Organisation
hat oder wie hoch der Organisationsgrad ist. Das trifft vor allem auf die Verbraucherpolitik
zu: Wer beim Umgang mit Risiken und Problemen des Konsums in der Öffentlichkeit eine
Deutungshoheit erringt, setzt den Ton der Debatte. Und dieser Ton wird gerne als Stimme der
„mündigen Verbraucher“ ausgegeben. Das kann wirksamer sein als Stellungnahmen und Einfluss im formellen Gesetzgebungsverfahren.
(20) Die allgemeinen Interessen von Verbraucherinnen und Verbrauchern werden von allen
Seiten instrumentalisiert und für die jeweils eigenen Belange eingesetzt. Das betrifft auch das
Leitbild des „mündigen Verbrauchers“, auf das sich Parteien, Wirtschaftsverbände wie auch
einige Verbraucherorganisationen beziehen.
(21) Ein Ankerpunkt des vorliegenden Papiers ist ein Paradoxon: Wenn Verbände – ob auf
Konsumenten- oder Produzentenseite – vehement für den „mündigen Verbraucher“ eintreten,
so zeigt dies unfreiwillig, dass dieser seine Interessen offenbar doch nicht selbst vertreten
kann. Dennoch beruhen die Positionen vieler Verbände und Parteien auf genau diesem Leitbild, dessen Kernbotschaft populär ist. Denn wer sieht sich selbst schon gerne als unmündig
an?
(22) Der mündige Verbraucher ist ein normatives Leitbild, keine Realität. Umso wichtiger ist
es zu beleuchten, warum und wie Verbände und andere Interessengruppen dieses Bild interpretieren und instrumentalisieren. Dies wird im Folgenden näher erörtert.
7
1. Wirtschaftsverbände und der „mündige Verbraucher“: Partikularinteressen
unter dem Deckmantel der Selbstbestimmung?
(23) Politiker, Wirtschaftsverbände und Unternehmen warnen immer wieder davor, die Verbraucher vorschnell zu bevormunden. Tatsächlich hat der Begriff „Verbraucherschutz“ einen
Beigeschmack von Paternalismus. Stattdessen müsse es moderner Verbraucherpolitik darum
gehen, den einzelnen Verbraucher in den Stand zu versetzen, seine eigene Wahl zu treffen.
Diese Sichtweise ist aus wissenschaftlicher Sicht aber durchaus zu kritisieren. Selbst im lediglich theoretisch denkbaren Fall, dass alle Informationsasymmetrien beseitigt sind, greifen
noch immer die behavioral biases, denn viele Menschen folgen eingefahrenen Verhaltensmustern.
(24) Wahlfreiheit vor allem durch neutrale Informationen zu sichern, entspricht dem Informationsmodell der deutschen Verbraucherpolitik. Dieses Modell verdankt seinen Ursprung
vor allem der ordoliberalen Wettbewerbstheorie, die nach 1945 in der Bundesrepublik an Einfluss gewann. Dieses Modell hat auch die Europäische Union inzwischen weitgehend übernommen. Größtmögliche Wahlfreiheit der Konsumenten verbürgt größtmöglichen Wettbewerb um Qualität und Preise. Die Verbraucher werden hier als individuelle Käufer gesehen,
ganz so, wie es auch das Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ nahe legt. Dieser kann souverän entscheiden, wenn er ausreichende und neutrale Informationen erhält. Auch zahlreiche
Verbraucherschutz-Regeln der Europäischen Union beruhen auf diesem Modell: Mit ausführlichen Informationspflichten und Informationsrechten versuchen europäische Institutionen seit
längerem, die Nachfrageposition des Verbrauchers zu stärken. Auch wenn Wirtschaftsverbände die Informationspflichten teilweise kritisch sehen, so unterstützen sie doch die zentrale
Annahme, dass Wahlfreiheit vor allem durch Informationen garantiert werden kann.
(25) Diese Annahme ist aber schon vor längerer Zeit von der sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Forschung erschüttert worden. Die neuesten Ergebnisse der empirisch ausgerichteten Verhaltensökonomie bestärken diese Zweifel. Denn die meisten Verbraucher verhalten
sich eher wie ein „confident consumer“: Dieser „vertrauende Verbraucher“ hat weder Zeit
noch Interesse, sich umfassend zu informieren. Vielmehr verlässt er sich auf die öffentlich
zugänglichen Aussagen über Qualität und Preise von Produkten. Dieses Verhalten ist inzwischen empirisch gut belegt. Und es ist auch nicht per se unvernünftig. Es wäre eher irrational,
angesichts der vielen Anforderungen an den Alltag, sich zu viel Mühe mit der Informationsbeschaffung zu machen. Mit anderen Worten: Der mündige Verbraucher ist in der Praxis einer, der sich auf andere verlässt. Daher ist die Glaubwürdigkeit von Verbraucherorganisationen ein zentrales Kriterium für eine effektive Verbraucherpolitik. Denn vertrauende Verbraucher sollten darauf vertrauen können, dass Andere ihre wohlverstandenen Interessen wahrnehmen.
8
(26) Die empirischen Ergebnisse der Verhaltensökonomie untergraben nicht alle Annahmen
des Informationsmodells. Aber sie machen deutlich, dass umfassende, transparente und neutrale Informationen alleine nicht ausreichen, um Wettbewerb zu garantieren.
(27) Diese Erkenntnis liefert auch der sozialwissenschaftliche Konstruktivismus, der nicht
von gegebenen Präferenzen ausgeht. Für Konstruktivisten sind Präferenzen von Konsumenten
immer das Resultat von sozialen Prozessen, Machtbeziehungen und erfolgreichen Deutungen
in der Öffentlichkeit. Häufig entstehen sie erst am Point of Sale – beispielsweise im Einzelhandel oder am Bankschalter selbst – und werden dort auch von anderen mit konstruiert. Die
Verhaltensökonomie und andere wirtschaftswissenschaftliche Ansätze vertreten ähnliche Thesen.
(28) Verhaltensökonomie und Konstruktivismus sind daher von eminent praktischer Bedeutung für die Verbraucherpolitik: Das Leitbild des mündigen, wohlinformierten Verbrauchers
darf nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden. Das heißt nicht, dass Verbraucher nicht
mündig sein und Märkte nicht effizient funktionieren können. Aber es weckt Zweifel an der
These, nach der in erster Linie Informationsasymmetrien verringert werden müssen.
(29) Verbrauchern nützen also bessere Informationen häufig gar nichts, da ihre Präferenzen
unklar sind und erst im Entscheidungsprozess entstehen. Außerdem hängen Präferenzen auch
von öffentlich vorgetragenen Argumenten ab. Dies ist auch deshalb bedeutsam, weil nicht
wenige Argumente in der Verbraucherpolitik mit den Risiken des Konsums zu tun haben:
wirtschaftlichen Risiken, wie bei Finanzdienstleistungen, oder gesundheitlichen Risiken, wie
bei Lebensmitteln oder medizinischer Versorgung. Wie Verbraucher ihr persönliches Risiko
wahrnehmen, hängt häufig davon ab, wie dieses Risiko öffentlich dargestellt wird. Und erst
daraus entstehen Präferenzen von Verbrauchern.
(30) Zum Umgang mit Risiken gibt es gerade in der Politikwissenschaft inzwischen plausible und empirisch getestete Thesen. Eine davon besagt, dass für Regierungen und Gesetzgeber
der Grundsatz des Vorsorgeprinzips („better safe than sorry“) politisch attraktiv ist. Der (vermeintliche) Nutzen für die Verbraucher ist bei direkten Eingriffen wie Verboten deutlich und
sofort sichtbar. Die Kosten jedoch sind weniger sichtbar und verstreut. Das verbotene Produkt, die verbotene Technologie hätte ja möglicherweise wirtschaftliches Wachstum bescheren und sogar andere Risiken minimieren können; aber dieser Verlust bleibt unsichtbar. Jedes
Politikinstrument, das so funktioniert wie das Vorsorgeprinzip, ist für die meisten Regierungen reizvoll. Aber es ist nicht unbedingt auch automatisch im Interesse der Verbraucherinnen
und Verbraucher.
(31) Diese Kritik am Vorsorgeprinzip machen sich auch Wirtschaftsverbände zunutze. Durch
seine versteckten Kosten schade das Vorsorgeprinzip den Verbraucherinnen und Verbrauchern häufiger mehr, als dass es ihnen nutze. Der Bundesverband der Deutschen Industrie
9
argumentiert so in seinem aktuellen Grundlagenpapier zur Verbraucherpolitik (vgl. BDI 2008,
S. 8). Diese wissenschaftlich untermauerte Kritik lässt sich allerdings leicht für wirtschaftliche Interessen instrumentalisieren.
(32) Denn versteckte und breit gestreute Kosten für alle Verbraucherinnen und Verbraucher
können sich prinzipiell als Vorteil für Unternehmen erweisen. Viele Nachteile schlechter oder
„teurer“ Produkte haben letztlich den Charakter von „Streuschäden“: Der Schaden für den
einzelnen Konsumenten ist so gering, dass niemand die Kosten auf sich nimmt, dagegen vorzugehen. Die Märkte funktionieren in einem solchen Fall nicht optimal. Streuschäden setzen
die steuernde Funktion der Konsumentensouveränität außer Kraft. Das lässt sich nicht nur bei
technischen Geräten, sondern auch bei Finanzprodukten beobachten. Aus rechtswissenschaftlicher Perspektive sind Streuschäden ein zentrales Argument dafür, dass Verbraucherinteressen auch von Dritten vertreten werden können, um vorhandene Rechte effektiv durchzusetzen,
vor allem auf dem Wege der Verbandsklage.
(33) Doch Verbands- und Sammelklagen werden von Wirtschaftsverbänden meist abgelehnt,
nicht nur wegen der damit verbundenen Kosten, sondern auch wegen einer vermeintlichen
„Bevormundung“ des einzelnen Verbrauchers durch Dritte. Es ist ein gutes Beispiel dafür,
dass „Mündigkeit“ entsprechend der eigenen Interessenposition interpretiert wird, nach dem
Motto: „Wenn sie wirklich handeln wollten, könnten sie das doch tun“.
(34) Insofern ist es kein Widerspruch zum Leitbild des „mündigen Verbrauchers“, wenn in
der Wissenschaft die kollektive Vertretung der Verbraucherinteressen durch Dritte legitimiert
wird, auch zur Rechtsdurchsetzung. Doch wie verhalten sich diejenigen, die die Interessen
von Verbraucherinnen und Verbrauchern vertreten? Auch „Verbraucherorganisationen“ stehen in der Gefahr, Leitbilder zu instrumentalisieren.
2. Der „mündige Verbraucher“ und seine Stellvertreter: Grenzen des Gemeinwohl-Arguments
(35) Organisationen, die so genannte „schwache“ oder „allgemeine“ Interessen vertreten,
wie Umweltschutz, Anliegen von Kindern oder eben Verbraucherinteressen haben gegenüber
Parteien oder Wirtschaftsverbänden einen Legitimationsvorsprung. Es gelingt ihnen in der
Regel leichter, der Öffentlichkeit glaubhaft zu versichern, dass sie nicht im Eigeninteresse
handeln oder nur Partikularinteressen vertreten. Das hat Nichtregierungsorganisationen zu den
beliebtesten Akteuren unter Jugendlichen gemacht.
(36) Für die meisten Verbraucherorganisationen in Deutschland gilt das Gleiche wie für
NGOs: Sie sind in der Regel keine freiwilligen Mitgliederorganisationen im Sinne eines Verbands. Vielmehr handelt es sich entweder um quasi-öffentliche Organisationen wie die Stif10
tung Warentest, die Verbraucherzentralen und ihr Dachverband, der vzbv, oder um private
Kampagnen-Organisationen wie Foodwatch oder Greenpeace.
(37) Trotz einer fehlenden Massenmitgliedschaft besitzen Verbraucherorganisationen ein
scharfes Schwert: die Öffentlichkeit. Unternehmen reagieren äußerst sensibel darauf, wenn
ihre Reputation angegriffen wird. Bürgerinnen und Bürger gewinnen den Eindruck, dass Verbraucherorganisationen um ihre Argumente öffentlichkeitswirksam werben müssen, weil ihnen die Einflusskanäle der Wirtschaftsverbände verwehrt sind. Dies gilt vor allem für private
Kampagnen-Organisationen.
(38) Dies stärkt ihre Glaubwürdigkeit, denn von diesen vermeintlichen „Schwächen“ wird
darauf geschlossen, dass die Interessen der Allgemeinheit vertreten werden. Doch in der Wissenschaft hat die Diskussion darüber begonnen, wie labil die Legitimation solcher Organisationen ist. Die Kritik hat weniger etwas damit zu tun, dass unter dem Deckmantel gemeinnütziger Organisationen doch wirtschaftliche oder andere private Interessen verfolgt würden.
Selbst wenn dies vereinzelt der Fall sein sollte, liegt das eigentliche Problem woanders.
(39) Nicht ohne Grund sind das soziale Marketing und die Kampagnenführung zu einem
Arbeitsschwerpunkt von Foodwatch geworden. Bei Organisationen, deren wichtigste Arena
die Öffentlichkeit darstellt, verfängt die Logik eines Markenherstellers. Zugleich ist der Spendenmarkt einer der am stärksten umkämpften. Die Verfolgung organisatorischer Eigeninteressen kann Ziele und Forderungen auf die Agenda bringen, deren Erfüllung zweifelhafte oder
zumindest strittige Konsequenzen für die Wohlfahrt einer Gesellschaft hat. Denn anders als
spezifische private Interessengruppen sind viele Verbraucherorganisationen auf eine breite
öffentliche Unterstützung angewiesen. Daher suchen auch sie nach Themen, die besonders
populär sind, auch wenn diese wie viele populäre Forderungen manchmal mit irrationalen
Ängsten spielen.
(40) Die Verbraucherzentralen schätzen hier ihre Funktion anders ein. Sie werden häufig
zuerst auf die Probleme der Verbraucher aufmerksam. Verbraucher wenden sich bei Problemen oft an die Verbraucherzentralen. Diese können sogar Angaben dazu machen, welche Bedeutung ein Problem, wie beispielsweise die Telefon-Dialer, für die Verbraucher hat. Wenn
ein Problem nicht nur ein Einzelfall ist, sondern gesetzgeberisches Handeln erfordert, machen
die Verbraucherzentralen darauf aufmerksam.
(41) Neben den organisatorischen Eigeninteressen ist jedoch noch ein anderer Aspekt entscheidend für die wissenschaftlich begründbaren Zweifel an der prinzipiellen Gemeinwohlausrichtung von Verbraucherorganisationen, ähnlich wie bei Nichtregierungsorganisationen
und anderen so genannten public interest groups. Konflikte entzünden sich in der Verbraucherpolitik in der Regel an konkurrierenden Risikodeutungen. Während die Ziele – wie der
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Schutz der Menschen vor gesundheitlichen Gefahren – praktisch Allgemeingut sind, rankt
sich die Auseinandersetzung um die Mittel.
(42) Kampagnen sind ein probates Mittel vor allem für private, spendenfinanzierte Verbraucherorganisationen. Sollte sich jedoch die Kritik als übertrieben oder sogar falsch herausstellen, ist Unternehmen und Verbrauchern dadurch eventuell schon ein Schaden entstanden.
Doch für eine „verantwortliche“ Kampagnenführung gibt es keine durchsetzbaren Normen.
(43) Solche Argumente mögen konstruiert klingen, wenn man die tatsächlichen Machtverhältnisse zwischen großen Unternehmen und einzelnen Konsumenten betrachtet. Doch sie
lassen zumindest die Probleme mit einigen Verbraucherorganisationen erkennen. Denn die
Gegenmacht besteht darin, dass sie Informationen kritisch prüft und Unternehmen zu öffentlichen Reaktionen herausfordert. Diese Gegenmacht beruht aber gerade bei den privat finanzierten Organisationen häufig auf einer Art „Selbstmandatierung“. Nicht Bürgerinnen und
Bürger mobilisieren und werden aktiv, sondern Verbraucherorganisationen wie Foodwatch
mobilisieren die Öffentlichkeit und damit indirekt die Bürger, die Unternehmen oder auch den
Staat.
(44) Dieses „Handeln im eigenen Auftrag“ lässt sich gerade aus ökonomischer Perspektive
rechtfertigen. Wenn die meisten Verbraucher eher „vertrauend“ sind, kann dieses Vertrauen
stets missbraucht werden. Um den Wettbewerb aufrechtzuerhalten, ist es daher aus markttheoretischer Sicht sinnvoll, dass Dritte anstelle der Verbraucher die Güte von Informationen
überprüfen. Doch wer das mit welchen Motiven tut, muss in der modernen Mediendemokratie
genauso kritisch analysiert werden wie die Interessenpositionen von Wirtschaftsverbänden.
Auch Verbände und Organisationen, die allgemeine Interessen vertreten, haben Eigeninteressen. Wer den „mündigen Verbraucher“ stärken möchte, will möglicherweise in erster Linie
seinen Bekanntheitsgrad und seine Einnahmen erhöhen.
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