Das Kreuz mit der Wahl und wie man sie auszählt - Fakultät für

Das Kreuz mit der Wahl und
wie man sie auszählt
Auch das neue Wahlrecht hat die Probleme mit ungleichem und negativem Stimmgewichte nicht gelöst
Von Andreas Fisahn
und Ridvan Ciftci
Wer meint, die Bundestagswahl sei
gelaufen, irrt. Aber nicht, weil das
Ergebnis noch große Überraschungen hervorbringen könnte,
sondern eher, weil unklar ist, ob
das neue Wahlrecht einer verfassungsrechtlichen Überprüfung
standhält. Seit der Bundestagswahl 2005 laborieren unterschiedliche Koalitionen am Wahlrecht mit mäßigem Erfolg herum.
In Dresden musste 2005 nachgewählt werden. Dabei wurde ein
Phänomen bekannt, das es vorher durchaus schon gab, aber ignoriert worden war: das negative
Stimmgewicht.
Wenn weniger Zweitstimmen
für die CDU in Dresden abgegeben würden, propagierte diese,
würden andere Landesverbände
profitieren und die CDU bekäme
einen Abgeordneten im Bundestag mehr. Die Wähler verstanden
vermutlich nicht, warum das so ist,
folgten dem Rat aber. Der Grundsatz der Stimmengleichheit mit
dem Gebot des gleichen Erfolgswertes jeder Stimme wird durch
ein solches Ergebnis verletzt. Das
fand auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), das im Juli 2008 die bis dahin geltenden
Wahlregeln für verfassungswidrig
erklärte.
Das negative Stimmgewicht ist
eine mögliche Folge der Kombination von Überhangmandaten
und der Verteilung der Listenplätze auf die Parteien in Abhängigkeit von der Wahlbeteiligung. Am Beispiel der Bremer SPD
lässt sich das veranschaulichen:
Die SPD gewann in Bremen bisher regelmäßig beide (möglichen)
Wahlkreise. Damit erreichte sie 50
Prozent der Mandate, denn die
Hälfte der Bundestagsmandate erhalten die in den Wahlkreisen direkt gewählten Kandidaten. Die
SPD erreicht in Bremen aber nur
ca. 40 Prozent der Zweitstimmen.
Für die Zahl der bremischen Abgeordneten ist es somit egal, ob
sie nun 38 oder 43 Prozent der
Zweitstimmen gewinnt – sie erhält die Hälfte der bremischen
Mandate als Direktmandate. Solange die SPD nicht über 50 Pro-
zent kommt, kann sie die Zahl
nicht steigern. Wie viele Abgeordnete ein Land aber über die Liste erhält, richtet sich nach der
Wahlbeteiligung. Wenn in Bremen also weniger SPD-Wähler ihre Zweitstimme abgaben, erhöhte
sich der relative Anteil der Zweitstimmen z. B. in Niedersachsen. So
könnte die Bundes-SPD mit weniger Zweitstimmen, die nämlich
in Bremen weggefallen sind, mehr
Abgeordnete in den Bundestag
schicken, wenn allein durch die
Berechnung z. B. in Niedersachsen ein Mandat gewonnen wird.
Der Gesetzgeber änderte das
Wahlrecht nach dem verfassungsgerichtlichen Urteil Ende
2011. Auch dieses Wahlgesetz
wurde im Juli 2012 vom BVerfG
kassiert, weil das Problem nicht
gelöst war. Der Bundestag hatte
in seiner großen Mehrheit das
Klassenziel nicht erreicht, was
nicht zuletzt daran liegt, dass die
Parteien akribisch ausrechnen,
welche
Auswirkungen
Wahlrechtsänderungen für ihre Macht
Die Stimmen kommen in die Tonne.
haben, dabei aber die Anforderungen des Grundgesetzes, das die
Gleichheit der Wahl fordert, aus
den Augen verlieren. Damit die
Abgeordneten merken, wie es gehen könnte, schrieb Karlsruhe eine Lösungsvariante in das Urteil
von 2012. Darin empfiehlt es, dass
die Ländersitzkontingente nach
einer vor der Stimmabgabe feststehenden Größe wie der Bevölkerungszahl oder der Wahlberechtigten bestimmt werden.
Brav wie ein Dackel nahm der
Gesetzgeber diesen Hinweis auf,
ohne darüber nachzudenken.
Auch wenn in der politischen Diskussion die Überhangmandate
mehr Raum einnahmen als das
negative Stimmgewicht, einigte
man sich auf eine Sitzverteilung
nach Bevölkerungszahl. Nach
neuem Wahlrecht wird das Sitzkontingent eines Landes nicht
mehr nach der Zahl der Wähler,
sondern – in einem ersten Rechenschritt – nach der Größe der
Bevölkerung (einschließlich Minderjährige, aber ausschließlich
Ausländer) bestimmt. Auf dieser
Ebene kann es deshalb kein negatives Stimmgewicht mehr geben. Aber der Gesetzgeber – froh
über den Hinweis des BVerfG, das
aber eben nicht Gesetzgeber ist –
hat offenbar keine Folgenabschätzung vorgenommen.
Problematische Folgen können
sich aus der unterschiedlichen
Höhe der Wahlbeteiligung ergeben. Bei der Wahl 2009 wählten
in Sachsen-Anhalt nur 60,5 Prozent der Wahlberechtigten, von
den Hessen gingen aber 73,8 Prozent zur Wahl. Der Abgeordnete aus Sachsen-Anhalt benötigte also ca. 13 Prozent weniger
Stimmen als sein Kollege aus Hessen, um gewählt zu werden. Aus
der Perspektive der Wähler ist der
Erfolgswert der Stimme aus Sachsen-Anhalt größer als der aus
Hessen. Das ist mit dem Gebot der
gleichen Wahl nur vereinbar,
wenn wichtige Gründe die Ungleichheit rechtfertigen – wie etwa bei der Fünf-Prozent-Hürde.
Die Unbeweglichkeit des Gedan-
Foto: dpa/Christian Charisius
kens ist jedenfalls nicht ein solcher Rechtfertigungsgrund und es
lassen sich Wahlsysteme ohne ungleiche Stimmgewichte und negatives Stimmgewicht denken –
etwa wenn Bundeslisten gewählt
werden.
Der Gesetzgeber kombiniert
den neuen Fehler zudem – in einem zweiten Rechenschritt des
neuen Wahlrechts – mit dem alten Fehler, also mit der Möglichkeit des negativen Stimmgewichts. Ausgangspunkt sind die
Überhangmandate. Diese sollen
nach dem neuen Wahlrecht ausgeglichen werden. Erringt eine
Partei im ersten Rechenschritt
mehr Direktmandate, als ihr aufgrund der Prozentzahl der Zweitstimmen zustehen, sollen die anderen Parteien zusätzliche Abgeordnete erhalten, bis das prozentuale Verhältnis wieder stimmt.
In vielen Landesparlamenten – wie
in Nordrhein-Westfalen – wird ein
solches Verfahren bereits angewandt. Wie werden aber die Ausgleichsmandate ermittelt? Nach
dem alten System, also anhand der
Zahl der tatsächlichen Wähler in
den einzelnen Ländern. Dann kann
das negative Stimmgewicht aber
wieder auftreten – vermutlich nicht
so häufig, aber der prinzipielle
Fehler bleibt.
Statt des einen haben wir also
einen Doppelfehler im neuen
Wahlrecht. Bei einem knappen
Ergebnis der Bundestagswahl
kann dieser doppelte Fehler auch
zur Ungültigkeit der Wahl führen.
Auf jeden Fall kann so ein Wahlrecht – das außerdem kein
Mensch, der nur das Gesetz liest,
verstehen kann – kein Dauerzustand sein. »Demokratie schön und
gut, wenn nur die Wahlen nicht
wären« – das wird hoffentlich nicht
das Motto der Parteien mit Blick
auf das missglückte Wahlrecht.
Prof. Dr. Andreas Fisahn ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Umwelt- und Technikrecht, Rechtstheorie an der
Universität Bielefeld.
Ridvan Ciftci ist Student der
Rechtswissenschaften an der Universität Bielefeld und Mitarbeiter
am Lehrstuhl von Andreas Fisahn.