Foto: dapd/Klaus-Dietmar Gabbert Dienstag, 7. April 2015 • Nr. 81 Plädoyer für das Einwohnerwahlrecht POSITIVE RESONANZ FÜR LUXEMBURG Mil Lorang Am 7. Juni 2015 findet ein Referendum statt, bei dem den wahlberechtigten Luxemburgern drei Fragen gestellt werden: Soll die Mandatsdauer der Minister auf 10 Jahre begrenzt werden? Soll das Wahlalter fakultativ von 18 auf 16 Jahre gesenkt werden (begrenzt auf das aktive Wahlrecht)? Sollen die nicht-luxemburgischen Einwohner unter bestimmten Bedingungen das fakultative Wahlrecht für die Parlamentswahlen erhalten? In diesem Artikel wird sich mit der Frage zum Wahlrecht der Nicht-Luxemburger auseinandergesetzt. Was wären gemäß der Formulierung der Referendumsfrage die Bedingungen, unter denen die nicht-luxemburgischen Einwohner bei den Legislativwahlen wählen dürften? 1. Seit mindestens 10 Jahren Einwohner sein. 2. Bereits an Kommunaloder Europawahlen teilgenommen haben. 3. Sich auf die Wahllisten eintragen. Das Wahlrecht wäre außerdem auf das aktive Wahlrecht beschränkt, das heißt, man könnte wählen, aber nicht gewählt werden. Bei Erfüllung dieser Bedingungen wäre die betreffende Person wahlpflichtig, genauso wie es die luxemburgischen Wähler sind. Gemäß Statec lebten im Jahre 2014 insgesamt 300.776 Luxemburger und 248.914 Ausländer in Luxemburg. Von Letzteren kamen 87 Prozent aus einem der anderen 27 EU-Staaten. Diese außergewöhnliche Verbindung zwischen luxemburgischen und nicht-luxemburgischen Einwohnern ergibt sich aus einer Reihe von historischen Entwicklungen: Luxemburg hat sich seit den 1970er Jahren zu einem internationalen Wirtschaftsstandort entwickelt, und die Hauptstadt ist neben Brüssel und Straßburg einer der drei Hauptsitze der europäischen Institutionen. Die ursprünglich luxemburgische Bevölkerung hätte niemals mit der rasant schnellen Entwicklung ihrer Wirtschaft mithalten und für diese die Arbeitskräfte liefern können. Deshalb sind heute die ganz große Mehrzahl der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft Luxemburgs Ausländer. Wenn man sogar die Staatsbediensteten mit einrechnet, sind nur noch 28 Prozent der aktiven Bevölkerung Luxemburger! Trotz der Tatsache, dass Luxemburg den höchsten ausländischen Einwohneranteil im Vergleich zu jedem anderen europäischen Land hat, kann man sagen, dass Luxemburg keine nennenswerten Probleme mit Fremdenfeindlichkeit oder Rassismus aufweist. Demokratieproblem Aber Luxemburg hat ein Demokratieproblem: 45 Prozent der Bevölkerung haben nämlich bei den Wahlen zur Abgeordnetenkammer kein Wahlrecht und sind deshalb in gewisser Weise im Parlament nicht vertreten. Die luxemburgische Bevölkerung ist eine der dynamischsten in der EU, und dies ist hauptsächlich auf Einwanderung zurückzuführen. Der Zuwachs durch Einwanderung liegt mehr als viermal so hoch wie der natürliche Bevölkerungszuwachs. Im Jahre 2013 lag beispielsweise der natürliche Zuwachs bei 2.293 Personen und der Migrationszuwachs bei 10.348 (Statec/Cefis). In absehbarer Zeit wird also der nicht-luxemburgische Bevölkerungsteil die Mehrheit darstellen. Gemäß Artikel 50 unserer Verfassung vertritt die Abgeordne- tenkammer das Land („le pays“). Und das Land besteht heute zu 55 Prozent aus Luxemburgern und zu 45 Prozent aus Nicht-Luxemburgern. Das Parlament beschließt Gesetze, die für alle Einwohner gültig sind. Das wichtigste dieser Gesetze ist das Haushaltsgesetz, mit dem die Steuereinnahmen in Politik umgemünzt werden. Kann unser Staat es sich noch lange leisten, fast die Hälfte seiner Bevölkerung von der Wahl der Volksvertreter auszuschließen, obwohl diese Einwohner einen erheblichen Anteil am Steueraufkommen (Mehrwertsteuer inklusive) und an den Sozialversicherungseinnahmen haben? Es gibt andere Länder, die einen viel geringeren ausländischen Bevölkerungsanteil aufweisen als Luxemburg, in denen NichtStaatsbürger, die dort wohnen, das Wahlrecht auf allen politischen Ebenen besitzen (z.B. Neuseeland, Chile). Das von Referendumsgegnern oft bemühte Argument, das Wahlrecht sei an die Nationalität gebunden, hat insbesondere in der Europäischen Union mit dem Entstehen der EU-Bürgerschaft sein Rückgrat verloren. In Artikel 20 der konsolidierten Fassung des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ist die Unionsbürgerschaft definiert und sind die Rechte und Pflichten der Unionsbürgerinnen- und Bürger aufgeführt. Eines der Rechte ist das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und bei den Kommunalwahlen, egal in welchem EU-Staat eine Unionsbürgerin oder ein Unionsbürger wohnt. Das Wahlrecht ist ein Hauptpfeiler einer jeden Demokratie, und eine Demokratie besteht aus Personen, die u.a. vor dem Gesetz gleich sind, d.h. auch vor dem Grundgesetz – also der Verfassung – gleich sein müssten. Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz ist als demokratisches Prinzip viel älter als die heutigen Nationalstaaten bzw. die Nationalität. Zuerst kam der Einwohner oder Bürger, dann kamen Nation und Nationalität. Das Wahlrecht sollte also deshalb ganz besonders in einem stark auf Einwanderung angewiesenen Land zu einem demokratischen Grundrecht aller Einwohner, die bestimmte Bedingungen erfüllen, erhoben werden. Die Nationalität annehmen ist eine ganz persönliche und sogar emotionale Entscheidung, durch die jemand ein Volk mitsamt seiner Geschichte, Staatsform, Sprache(n), Kultur, Traditionen, Mentalität und Lebensform „adoptiert“. Nur wenn man sich mit diesem Volk und seiner Kultur tief verbunden fühlt, sollte man die Staatsbürgerschaft beantragen. Dies gilt auch für die doppelte Staatsbürgerschaft. Die Nationalität sollte nicht als Vorbedingung gestellt werden, wenn ausländische Einwohner, die in unserem Land arbeiten und leben – vielleicht nur für eine begrenzte Zeit –, lediglich am demokratischen Geschehen teilnehmen möchten. Indem wir sie von der Abstimmung über die Volksvertreter ausschließen, schaffen wir Bürger zweiter Klasse. Gleichheit vor dem Gesetz Man stelle sich vor, in einer Sekundarschule werden Klassendelegierte gewählt und nur luxemburgische Staatsbürger dürften an der Wahl teilnehmen. Oder anlässlich der Sozialwahlen dürften nur luxemburgische Staatsbürger die Personalvertreter in ihrem Betrieb wählen. In vielen Fällen wäre dann die überragende Mehrheit vom demokratischen Prozess ausgeschlossen. Abschließend sei deshalb die Frage erlaubt, ob ein Staat über- haupt noch als Demokratie gelten darf, wenn die Hälfte seiner Einwohner kein Wahlrecht besitzt. Diese Frage stellte sich bereits einmal in der Geschichte der meisten modernen Demokratien, nämlich bevor die Frauen das Wahlrecht bekamen. Heute stellt sie sich erneut in Luxemburg, dem einzigen demokratischen Land der Welt mit einem Ausländeranteil von bald 50 Prozent. Da diese Menschen bereits das Wahlrecht auf kommunaler Ebene besitzen und 87 Prozent dieser Einwohner ebenfalls das Wahlrecht bei den Europawahlen innehaben, wäre der nächste logische Schritt, das Wahlrecht bei den Parlamentswahlen für alle Einwohner einzuführen. Die im Rahmen des Referendums vom 7. Juni 2015 vorgesehenen Bedingungen sind so einschränkend (seit 10 Jahren Einwohner sein, bereits an Wahlen teilgenommen haben, sich auf Listen eintragen, nur das aktive Wahlrecht), dass es eigentlich bei vernünftigen Menschen überhaupt nicht zu einer Diskussion kommen müsste, ob Luxemburg diesen Schritt gehen sollte oder nicht. Durch die Verankerung des Wahlrechts aller Einwohner (unter bestimmten Bedingungen) in der Verfassung würde Luxemburg ein Zeichen setzen für die Stärkung der Demokratie, für die Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz und gegen Ausländerfeindlichkeit und Diskriminierung. Dies wäre eine wegweisende Entscheidung, die eine positive Resonanz weit über die Grenzen Luxemburgs hinaus haben und zur Weiterentwicklung des Konzepts „Nationalstaat“ beitragen würde: vom Konzept eines eng verstandenen und zur Ausgrenzung neigenden „autochthonen“ Nationalstaats hin zum Konzept eines einbeziehenden pluralistischen Nationalstaats. Persönlich erstellt für: ASTI ASTI LUXEMBOURG SA 16 FORUM Tageblatt
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