O O Dolmetschen: so treu wie möglich, so frei wie nötig Der Begriff „Kommunikation“ ist latei- nen Dolmetscher bzw. Dolmetscherin Die Antwort: Ja, ich bin verheiratet. nischer Herkunft und bedeutet teilen, das Problem zu überwinden. Was da- (sich schämend und sehr zurückhal- mitteilen, teilnehmen lassen, gemein- bei öfters übersehen wird ist, dass in tend, je nachdem, wie alt der Antrag- sam machen, vereinigen usw. fremden Kulturen nicht nur eine ande- steller ist. Je jünger desto schüchter- Für uns Menschen bedeutet Kommu- re Sprache gesprochen wird, sondern ner. Als ob in seinem Alter heiraten nikation vor allem im Alltagsleben der auch Mimik und Gestik eine andere Be- nicht normal sei.) menschliche Austausch von Gedanken deutung haben können. Aber nicht nur Frage: Haben Sie Kinder? in Sprache, Gestik, Mimik, Schrift oder das, bestimmte Worte haben in ver- Antwort: Sie sollen deine Sklaven / Bild. In diesem Sinne ist der Begriff schiedenen Kulturen unterschiedliche Hunde sein. Sie küssen deine Hände. Kommunikation eng verbunden mit Bedeutungen. Sie sind drei. (kurdisch: Xulamên/kuci- dem Begriff Interaktion, der oft syn- Als Beispiel möchte ich einen Fall nen- kên te bin, destên te macdikin. Sê he- onym verwendet wird, denn hier wird nen, in dem ich gedolmetscht hatte: bin.) auch Wechselseitigkeit vorausgesetzt. Im Jahre 2007 war ich in Karlsruhe Frage: Wo lebt Ihre Frau? beim Bundesamt als Dolmetscher für Antwort: Unsere Kinder leben bei mei- Wir Dolmetscher stellen fest, dass in türkische und kurdische Sprache an- ner Mutter und meinem Vater. (kur- der gesundheitlichen Versorgung von gefordert. Ein Kurde aus der Türkei, disch: Zariyên/Zarokên me li cem dê û Migranten und Migrantinnen vor allem aus der Provinz Sanliurfa hatte einen bavê min in.) im Bereich „Kommunikation“ eine gro- Asylantrag gestellt. Jetzt hatte er sei- ße Unzufriedenheit herrscht. Viele Ärz- ne Anhörung. Bevor der Antragsteller Also, wenn ich wie oben wortwörtlich te und Ärztinnen der unterschiedlichen nach seinen Asylgründen gefragt wird, übersetzte, würde der Einzelentschei- Fachbereiche beklagen unbefriedigen- werden zunächst seine Personalien der denken, dass Kurden nicht logisch de Behandlungssituationen, die sie auf aufgenommen und 25 allgemeine Fra- sprechen können oder der Antragstel- sprachliche und andere Kommunika- gen über seine persönlichen Umstände ler in seinen Antworten ausweichen tionsprobleme zurückführen. Das ist und Familie gestellt. In diesem Fragen- möchte. Der Antragsteller wird schnell auch verständlich, denn die Grundlage katalog sind einige Fragen über den vom Einzelentscheider als unglaubwür- jeder menschlichen Beziehung ist die Familienstand, ob man Kinder hat und dig eingestuft und der Asylantrag ab- Kommunikation. Dies gilt ganz beson- wie viele. gelehnt. Als Dolmetscher wird man öfter darauf Deswegen soll man in solchen Fällen hingewiesen, dass man wortwörtlich sich in beiden Kulturen auskennen und Was soll man machen, wenn Patient übersetzen soll, ohne die Situation in so übersetzen, wie man in Deutsch ant- und Therapeut nicht die gleiche Spra- Betracht zu ziehen, als ob es die einzi- wortet: che sprechen, nicht eine gemeinsame ge Übersetzungsmöglichkeit sei. Haben Sie Kinder? ders zwischen Therapeuten und Klient/ Patient. Sprache finden, in der sie sich verstän- 10 Ja, ich habe Kinder. digen können? Hier ein Bespiel für eine wortwörtliche Wie viele Kinder haben Sie? Man versucht entweder durch nonver- Übersetzung:. Ich habe drei Kinder. bale Kommunikation oder durch ei- Die Frage. Sind Sie verheiratet? Wo lebt Ihre Frau? O O Meine Frau lebt bei meinen Eltern, seine Fragen und Antworten, seine ren Sprachkenntnissen (Fachausdrücke) usw. Ausdruckweise formuliert. wie in der Technik des Dolmetschens weiter zu bilden. Therapeuten und Für die reibungslose Verständigung Ein Dolmetscher oder eine Dolmet- Dolmetschende bekommen dadurch zwischen Arzt, Richter, Therapeut u.ä. scherin steht bei medizinischem Dol- die Möglichkeit, ihre unterschiedlichen und Klienten/Pati- metschen in dem Dilemma zwischen Erfahrungen und Sichtweisen auszu- enten ist deshalb eine reine Wort-für- einer streng neutralen und wörtlichen tauschen, Wort Übersetzung ohne Rücksicht auf Übersetzung und einer kulturellen Ver- aufzubauen und auf diese Weise eine die tiefere Bedeutung einer Aussage, mittlungsaufgabe: Das heißt überset- qualifizierte Zusammenarbeit zu er- sowie das politische und kulturelle zen oder interpretieren, übertragen, möglichen. Umfeld des Patienten/Klienten in der übermitteln, wörtlich, genau, getreu, Regel ungenügend. oder auslegen, kommentieren, um- In solchen Situationen heißt Dolmet- schreiben, erklären, was in einer ande- schen nicht nur in eine andere Sprache ren Sprache oder Kultur gesagt, emp- zu übersetzen, sondern eine andere funden und geäußert wird. Kultur nachvollziehbar zu machen und Daher halten wir ein Vor- und Nachge- den Sinn der Worte zu erfassen, d.h. spräch zwischen den Dolmetschenden Fürsprecher des anderen zu sein. und Therapeuten für sehr wichtig, um Dolmetscher und Dolmetscherinnen Missverständnissen vorzubeugen. übersetzen von einer Sprache in die . fremdsprachigen andere, und von einer Kultur in eine Mit der Hinzuziehung eines Dolmet- andere. Wenn es um Verständnis geht, schers oder einer Dolmetscherin wird soll eine gute Übersetzung den Worten zwar dem Patienten und dem Thera- Sinn geben und den Parteien ermögli- peuten das gegenseitige Verständnis chen das Gesagte zu verstehen. ermöglicht, aber diese dritte Person gegenseitiges Vertrauen Ramazan Altintas Maryam Shakibi wirkt sich auch auf die Beziehung aus. Aber wenn es nicht nur um Verstehen Der Therapeut verliert damit den un- allgemein oder den Inhalt des Gesag- mittelbaren Kontakt zum Patienten ten geht, sondern z.B. in der Thera- und muss mit-teilen. Wenn er an die Si- pie darum, wie es gesagt wird, dann tuation nicht gewöhnt ist, fühlt er sich sollte der Dolmetscher / die Dolmet- manchmal dadurch gestört und behin- scherin die Aussagen des Patienten, dert, weil der Gesprächverlauf verlang- einschließlich der bildhaften Ausdrü- samt wird. cke und Sprichwörter, so genau wie möglich wiedergeben. Denn in diesen Die Dolmetscherfortbildung bei refugio Fällen kommt es darauf an, die Art und stuttgart zielt darauf, die Dolmetsche- Weise zu verstehen, wie der Patient rinnen und Dolmetscher sowohl in ih- 11 Kosovo – ein Herkunfts- und Rückführungsland wird vorgestellt Das Kosovo hat sich am 17. Februar 2008 für unabhängig von der Republik Serbien erklärt. Die „Unruheprovinz“ misst ca. 10877 km2, das entspricht in etwa einem Drittel der Fläche von Belgien. 95% der etwa 2 Millionen Einwohner sind albanische Volkszugehörige, die übrigen 5% entfallen auf Serben, Angehörige der ethnischen Minderheiten der Roma, Ashkali oder „Ägypter“, Gorani und Bosniaken. In den letzten 15 Jahren ist die öffentliche politische Debatte stark von der Situation im Kosovo bestimmt worden; viele der KlientInnen von refugio stuttgart, aber auch anderer Sozialpsychiatrischer Zentren kommen aus dem Kosovo. So mag es interessant sein, die Situation der Menschen dort etwas gründlicher vorzustellen. Vorbemerkung Im Jahre 1991 kamen, zu Beginn der Auseinandersetzungen um den Zerfall des ehemaligen Jugoslawien, unter anderem auch die ersten Albaner aus dem Kosovo ratsuchend in die Kanzlei. Damals hörte ich zum ersten Mal von dieser Region, welche mir zuvor gänzlich unbekannt gewesen war. Den schier unglaublichen Berichten von Menschenrechtsverletzungen begegnete ich mit dem üblichen professionellen Misstrauen; erst bei meinem ersten Besuch im Kosovo vom 4.-11. August 1999 begann ich das ganze Ausmaß der soeben zuende gegangenen Katastrophe zu begreifen. 12 Kurzer historischer Abriss bis zum 28.März 1989, dem Tag der Aufhebung des Autonomiestatuts. Das Kosovo hatte immer eine Sonderrolle inne in den jeweiligen Staatsgebilden, denen es im Laufe der Jahrhunderte zugeordnet wurde. Die heutigen Albaner stammen entweder aus verschiedenen Stämmen der Illyrer (so die albanische Lesart), oder es sind Nachfahren eines altbalkanischen Volks (so westliche Wissenschaftler). Von ca. 200 v. Chr. bis ca. 100 v. Chr. wurde das Kosovo durch Rom verwaltet. Ab dem 6. Jh. n. Chr. verbreiteten sich die Slawen über den gesamten Balkan, also auch ins heutige Kosovo. Bis zum Beginn des 9. Jh. herrschten die griechischen Kaiser über die Region. Zwischen dem Ende des 12. und dem ersten Drittel des 13. Jh. wurde das Kosovo Teil des serbischen Königreichs der Nemanjiden. Nach dem Zerfall des serbischen Reichs und dem Einfall der Osmanen im Jahre 1385 kam es 1389 zu der berühmten Schlacht auf dem Amselfeld. Die Schlacht auf dem Amselfeld wurde zum mystifizierten Bestandteil serbischen Selbstverständnisses: Obwohl die Schlacht selbst keine große militärische oder politische Bedeutung hatte, prägt sie bis heute den serbischen Mythos vom Opfertod bei der Verteidigung des Christentums gegen die muslimischen Barbaren. Das Kosovo ist seither im Bewusstsein der Serben die Geburtsstätte ihrer nationalen Identität. Nur so erklärt es sich, dass Slobodan Milosevic den 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld gewählt hat, um seine berühmte Brandrede zu halten, mit welcher die Repression gegen die im Kosovo lebenden Albaner eingeleitet bzw. verstärkt und deren ethnische Vertreibung in die Wege geleitet worden ist. Nach der Eroberung durch die Osmanen übernahmen die Albaner den Islam als ihre Religion. Auch heute noch prägen, neben den nicht zerstörten und noch immer schwer bewachten serbischen Klöstern und orthodoxen Kirchen die Minarette der Moscheen das Erscheinungsbild vieler Dörfer und einiger Städte im Kosovo. Allerdings übt nur noch eine – verschwindende und überalterte – Minderheit der Bewohner des Kosovo ihren Glauben auch aus: In manchen Dörfern sind es nur noch ganz wenige Alte, welche die Regeln des Islam befolgen. Die Mehrheit der albanischen Volkszugehörigen im Kosovo praktiziert ihre Religion nicht mehr. Mit dem Ende der osmanischen Herrschaft im 19. Jh. wurde das Kosovo zu einer vergessenen Provinz am Rande Europas. Im Gefolge der ersten Balkankriege (1912-1913) fiel das Kosovo, erobert durch die serbische Armee, die bereits damals viele Grausamkeiten an der albanischen Zivilbevölkerung beging, an Serbien. Im ersten Weltkrieg begrüßten die Albaner im Kosovo die österreich - ungarische Armee, die das Gebiet 1915 eroberte, als Befreier, weshalb sie nach Rückeroberung durch die Serben als Kollaborateure hart abgestraft wurden. Bereits damals gab es Bestrebungen, das Kosovo aus Serbien herauszulösen. Im Jahre 1937 verfasste Vaso Cubrilovic eine Denkschrift, die auch in der politischen Planung des späteren serbischen Präsidenten eine wichtige Rolle spielen sollte; der Autor plädierte darin offen für eine vollständige Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo. Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Kosovo in das Jugoslawien Titos integriert. Ende der 1940er Jahre stand erneut die Slawisierung des Kosovo bzw. die Vertreibung der Albaner im Mittelpunkt der Innenpolitik. Nach einer Wende der Politik unter Tito erhielt das Kosovo in den 1970er Jahren den Status einer autonomen Provinz. Albanisch wurde zur zweiten Amts- und Unterrichtssprache; die Universität Prishtina wurde gegründet. Diese Entwicklung stieß jedoch auf heftigen Widerstand der im Kosovo lebenden Serben, von denen viele in jenen Jahren das Kosovo verließen. Es kam zu Unruhen und Aufständen wegen der wirtschaftlichen Lage, welche die Stimmung zwischen Albanern und Serben weiter verschlechterte. 1981 eskalierte die Lage, als Studenten in Prishtina gewalttätig demonstrierten; die Demonstrationen wurden durch die serbische Polizei brutal beendet. Nach dem Tode Titos und spätestens im Gefolge des Machtantritts von Slobodan Milosevic 1987 trat eine dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage für die im Kosovo lebenden Albaner ein. Vom 28. Juni 1989 bis zum 10. Juni 1999 Am 28. März 1989 wurde das unter Tito geschaffene Autonomie-Statut des Kosovo aufgehoben. Es folgten schwere Auseinandersetzungen und Demonstrationen mit Dutzenden von Toten; über die Provinz wurde der Ausnahmezustand verhängt. Mindestens 200 Albaner wurden in Isolationshaft genommen und schwer misshandelt, ohne jegliche Folgen für die Täter aus serbischer Armee und Polizei. Am 28. Juni 1989, dem 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld - serbisch Kosovo Polje -, kündigte Slobodan Milosevic die kommende Entwicklung an, die eine ethnische Säuberung des Kosovo zum erklärten Ziel hatte. In den Folgejahren nahm die Repression ständig zu. Flüchtlinge, die in den frühen 1990er Jahren den Westen erreichten, berichteten von einer verheerenden Menschenrechtslage. Zum Beispiel war es verboten, in albanischer Sprache zu unterrichten, eine kritische Presse gab es nicht. Wer sich als Gewerkschafter, Intellektueller oder als Sympathisant verbotener Organisationen verdächtig machte, musste mit willkürlicher Verhaftung, mit Misshandlung und Folter rechnen. Überall waren so genannte Checkpoints durch serbische Polizei errichtet worden. Vor allem junge Männer wurden herausgegriffen und oft ohne jeden Grund zusammengeschlagen. Als Grund für willkürliche Verhaftungen und Hausdurchsuchungen wurde regelmäßig der illegale Besitz von Waffen vermutet bzw. vorgeschoben. In dieser Zeit begann Ibrahim Rugova, ein Schriftsteller, großen Einfluss zu gewinnen. Er propagierte erfolgreich den gewaltfreien Widerstand gegen die serbische Willkür. In privat geführten, also illegalen Schulen wurde in albanischer Sprache unterrichtet. Kam es zu Kontrollen durch die serbische Polizei, wurden die Lehrer zumindest schwer misshandelt, in einigen Fällen gar vor den Augen ihrer Schüler erschossen. Im Jahre 1996 trat zum ersten Mal eine bis dahin vollkommen konspirativ arbeitende Splittergruppe in Erscheinung, die sich vom pazifistischen Kurs des Ibrahim Rugova losgesagt und der als Besatzung empfundenen serbischen Verwaltung den Kampf mit paramilitärischen Mitteln angesagt hatte. Im Gefolge dieser Entwicklung eskalierte die Lage vollends zum Bürgerkrieg. An dieser Stelle möchte ich aus meinem Bericht über meinen Aufenthalt im Kosovo vom 4.-11. August 1999 zitieren. Stellvertretend für viele wird das Schicksal der Familie L. beschrieben: Herr L. berichtete. Seine Ehefrau erfuhr im Laufe dieses Gesprächs erstmals die volle Wahrheit über das Schicksal insbesondere ihrer Töchter. „Am 28.3.1999 hat die serbische Offensive begonnen. In drei Orten hatten sich die Menschen gesammelt, weil sie hofften, vor den heranrückenden Serben bei der UCK Schutz zu finden. Am 12.4.99 hatte unsere Familie Unterschlupf gefunden in einem Dorf namens Cakutaj. 13 14 An diesem Tag, es war ein Montag, gab es den ganzen Tag starken Beschuss durch serbische Raketen und großkalibrige Waffen. Am Dienstag, dem 13.4. sind mein Schwiegervater, meine Mutter sowie meine beiden Töchter losgegangen, um im Haus meines Schwiegervaters in Studenica Brot zu backen, denn in Cakutaj gab es nichts zu essen. Die Gruppe von insgesamt 9 Personen war morgens um 7 Uhr aufgebrochen. 20 Minuten später kam man in Studenice an. Zwischen 9 und 10 Uhr kehrten mein Sohn und mein Bruder aus Studenice nach Cakutaj zurück. Diese beiden hatten unterwegs den Rauch bemerkt, der vom Haus meines Schwiegervaters aufstieg und vom Brotbacken herrührte. Sie waren zu dem Haus gefahren und hatten die Gruppe von 9 Personen angetroffen. Deren Gepäck luden sie auf den Traktor und fuhren zurück nach Cakutaj. Die 9 Zurückbleibenden wollten zu Fuß nachkommen, wenn das einzige noch fehlende Brot fertig gebacken sei. Inzwischen hatte die serbische Armee Studenice fast erreicht. Kämpfer der UCK teilten den in das Dorf Geflüchteten mit, sie sollten ihre Flucht sofort fortsetzen, weil die Serben anrückten. Gegen 10 Uhr haben serbische militärische und paramilitärische Einheiten die Dörfer besetzt und dort alles zerstört, darunter auch den Ort Studenice. Ab dem 13.4.99 habe ich begonnen, meine Familie zu suchen. In Studenice waren inzwischen die Serben. Inzwischen war meine Frau zusammen mit ihrer Mutter und unseren beiden Söhnen in Richtung Albanien aufgebrochen, da die Serben näher rückten. Die erste Nacht auf der weiteren Flucht verbrachten sie im Freien. In den Bergen lag knietiefer Schnee.“ „Am 25.5.1999 kehrte ich zurück nach Hinterkopf hingerichtet worden. Sie war Studenice zum zerstörten Haus meines auch massakriert worden, verletzt und Schwiegervaters. Ich stellte dort fest, verstümmelt. Beide Beine waren ihr ab- dass mit dem Brunnen etwas nicht in geschlagen worden. Ordnung war. Ich holte einige junge Leu- Die zweite Leiche war die Frau meines te und meldete meinen Verdacht den Onkels. Sie ist 60 Jahre alt geworden. KFOR-Truppen. Der Rumpf und die Extremitäten waren Man sagte mir, ich solle nichts unterneh- noch intakt, der Kopf war allerdings stark men, da die Gefahr bestehe, dass der beschädigt. Brunnen vermint sei. Ich war jedoch ent- Die dritte Tote war die Tochter meines schlossen den Brunnen, der verschlossen Cousins, geboren 1985. Sie war durch und eingeebnet war, zu öffnen. Junge einen Schuss in den Hinterkopf getötet Leute aus der Nachbarschaft halfen mir worden. dabei. Nach dem Öffnen fand ich zu- Die nächste Leiche war meine ältere Toch- nächst eine Schicht Stroh. Darunter be- ter. Sie war ebenfalls durch einen Schuss fanden sich Elektrogeräte, so ein Ofen, in den Hinterkopf hingerichtet worden. ein Fernseher und eine Wasserpumpe, Dann holten wir die Leiche einer weiteren die wohl dazu dienen sollten, den Brun- Tochter meines Cousins, geboren 1987, nen aufzufüllen. Es befanden sich auch heraus. Sie war exekutiert und massak- viele Steine darin. Ich begann, diese riert. Sie war nur noch durch den Rumpf Steine abzutragen. Der Brunnen hat eine identifizierbar, nicht mehr durch den Tiefe von 11 – 12 Metern. Nachdem wir Kopf. Die darauf folgende Tote war unse- die Steine abgetragen hatten stellten re jüngere Tochter. Sie war ebenfalls durch wir fest, dass sich darunter mehrere einen Schuss in den Hinterkopf getötet Leichen fanden. Auf diese Leichen war worden. Eines ihrer Beine war erheblich ungelöschter Kalk geschüttet worden. geschädigt. Schließlich bargen wir noch Die erste Leiche, die wir bargen, war die Schwiegermutter meines Cousins, meine Mutter. Da die Leichen relativ tief dann meinen Schwiegervater und zuletzt im kalten Brunnen lagen, waren sie noch dessen 70jährige Nachbarin. erkennbar und zu identifizieren. Danach Die oben liegende Leiche, also meine Mut- haben wir die übrigen Leichen, also die ter, muss als letzte getötet worden sein. acht anderen verschwundenen Perso- Sie muss alles mit angesehen haben. nen, aus dem Brunnen geholt. Ich konnte Der italienische KFOR-Offizier, der die alle identifizieren, darunter unsere bei- erste Leiche sah, wurde fast ohnmächtig den Töchter. Die erste Tote, also meine und musste medikamentös behandelt Mutter, war durch einen Schuss in den werden.“ Im Februar 1998 besetzten serbische Panzer die Kleinstadt Skenderaj und begannen, vermeintliche Unterkünfte von Aufständischen der UCK unter Beschuss zu nehmen. Im April 1998 wurden nahezu alle Mitglieder der zum aktiven Widerstand gerechneten Familie Jashari in Prekaz ermordet; die Ruinen der Häuser wurden erhalten, die Gräber werden gepflegt. Der Ort ist heute ein Mahnmal der Erinnerung. Im Sommer 1998 verschärften sich die militärischen Auseinandersetzungen, insbesondere in der Drenica-Region, wo besonders viele Widerstandskämpfer der UCK vermutet wurden. Vergewaltigungen, gezielte Morde an Zivilisten, darunter auch an Alten und Kindern, sind aus dieser Zeit dokumentiert; ohne Beistand von außen war die albanische Bevölkerung im Kosovo nahezu schutzlos den systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgeliefert. Am 15. Januar 1999 wurden nahe dem Dorf Racak 45 Leichen von Albanern gefunden, die durch Schüsse getötet worden waren. Diese Bilder gingen um die Welt. Auf Schloss Rambouillet in Frankreich wurde ein letzter diplomatischer Versuch unternommen, um die Situation im Kosovo ohne Eingreifen von außen zu befrieden; er misslang. In den folgenden Monaten wurden ganze Familiengruppen auf bestialische Weise abgeschlachtet und in Massengräbern verscharrt. Die Täter waren Serben, manchmal unterstützt von Roma. Kleinere Massengräber waren so alltäglich geworden, dass die Leichen nicht einmal mehr obduziert und die Verbrechen an das Haager Tribunal gemeldet werden konnten. Damit wurde eine Strafverfolgung zunichte gemacht. Die Verbrechen bleiben ungesühnt, obwohl die Täter teils namentlich bekannt sind. Diese Situation fördert die Selbstjustiz. Am 24.März 1999 begann die Nato ihre Angriffsflüge auf Serbien; auch dort waren zahlreiche, auch zivile Opfer zu beklagen. Am 10.Juni 1999 zog sich die serbische Armee aus dem Kosovo zurück, welches seither unter UN-Verwaltung steht. Die Entwicklung seit dem 10. Juni 1999 Die Situation der Albaner: War zunächst nach dem Abzug der Serben die Stimmung im Kosovo von großer Euphorie geprägt, folgte in den Jahren darauf die Ernüchterung: Es war und ist vor allem die desolate wirtschaftliche Situation, die das Leben in Kosovo prägt. Da das Kosovo weiterhin zwar völkerrechtlich zu Serbien gehört, jedoch nach wie vor einen ansonsten ungeklärten Status hat, gibt es faktisch keine Investitionen. Wer produziert in einer Region, welche eine katastrophal schlechte Verkehrsanbindung aufweist, die zudem – zumindest im Konfliktfall mit Serbien – jederzeit von den Versorgungswegen abgeschnitten werden kann? Die medizinische Versorgung ist nach wie vor äußerst problematisch. Nach seriösen Untersuchungen wird davon ausgegangen, dass ca. 25% der albani- schen Bevölkerung, das sind immerhin ca. 500.000 Menschen (!), an klinisch relevanten Traumata infolge ihrer Kriegserlebnisse leiden. In ganz Kosovo stehen keine Psychotherapeuten und lediglich 25 Psychiater zur Verfügung, die zudem schlecht ausgestattet sind. In ihrem Bericht von Juni 2007 dokumentiert dazu die Schweizerische Flüchtlingshilfe: „Die Mängel und Defizite bei Behandlungen psychischer Erkrankungen sind nach unseren Recherchen über die Jahre unverändert geblieben. Anzeichen für grundlegende Verbesserungen der therapeutischen Kapazitäten sind nicht in Sicht.“ (S. 12 des Berichts vom 7. Juni 2007). Ich habe bei meinen regelmäßigen Reisen in das Kosovo, welches ich kurz nach Ende des Krieges im Sommer 1999 und zuletzt im Sommer 2007 besucht habe, folgende Entwicklung beobachten können: Die anfängliche Aufbruchstimmung wurde abgelöst durch eine allgemeine Resignation angesichts sich nicht verbessernder Lebensverhältnisse. Bei meinem letzten Besuch im Sommer 2007 herrschte eine tiefe Depression. Die Menschen wirken müde und resigniert; jegliche soziale Verantwortung scheint im Schwinden begriffen zu sein. Äußerlich zeigt sich das an einer weiter zunehmenden, inzwischen kaum noch erträglichen Vermüllung ganzer Landstriche. Weiterhin sind Kinder im Alter von 8, 9, 10 Jahren gezwungen, bis spät in die Nacht durch belebte Viertel und Gaststätten zu 15 ziehen und Zigaretten und Telefonkarten zum Verkauf anzubieten; diese Kinder habe ich auch schon weit nach 22 Uhr bei strömendem Regen an Ausfallstrassen aus Prishtina stehen sehen. Die beiden großen Treffpunkte für Tagelöhner, der eine nahe des früheren Nobelhotels Grand, der andere am Busbahnhof in Prishtina, sind immer stärker besucht. Situation der Minderheiten Die größte Minderheit im Kosovo sind die Serben. Sie sind im Zuge der Slawisierung des Balkan in die Region gelangt und stellten bis in die jüngste Vergangenheit die herrschende Schicht in Verwaltung, Justiz, Polizei und Armee. Heute leben sie vor allem im Nordteil der geteilten Stadt Mitrovica und in kleineren, durch die UN-Truppen nach wie vor hermetisch abgesicherten Enklaven des Kosovo. Die Roma sind eine Minderheit, deren Herkunft aus dem asiatischen Raum, genauer aus Indien vermutet wird. Sie haben bis zu den Ereignissen der Jahre 1999/2000 isoliert in bestimmten Stadtvierteln gelebt. Sie sind serbisch-orthodoxen Glaubens, sprechen ein eigenes Idiom, das Romanes, und haben sich bis heute ihre eigenen Riten und Gebräuche bewahrt. Von Ehen zwischen Roma und Albanern ist mir nie etwas bekannt geworden. Die Ashkali glauben, dass sie nicht gleicher Herkunft seien wie die Roma, sondern möglicherweise im Gefolge der Eroberungen Alexanders des Großen auf den Balkan gelangt seien. Sie haben sich 16 eher der Bevölkerungsmehrheit im Kosovo angepasst, d.h. sie sprechen kein Romanes, haben keine roma-typischen Gebräuche und haben ihre Kinder auf albanische Schulen geschickt. Manche Angehörige dieser Volksgruppe nennen sich auch Ägypter; exakte Kriterien zur Unterscheidung gibt es nicht. Bereits kurz nach dem Abzug der serbischen Einheiten und dem Einrücken der Nato-Verbände war bekannt geworden, dass die Minderheiten im Kosovo „teilweise pogromartiger Verfolgung“ durch die Albaner unterliegen würden. Ich selbst habe während meiner Aufenthalte im Kosovo regelmäßig auch Orte besucht, welche vor allem von Roma bewohnt wurden und habe, soweit möglich, intensive Gespräche mit dort lebenden Menschen geführt. Ich kann bestätigen, dass es Übergriffe gegen die Minderheit vor allem der Roma gegeben hat. Nicht bestätigen kann ich, dass es jemals zu flächendeckenden Verfolgungen von Angehörigen dieser Minderheit gekommen wäre. Auch die Unruhen im März 2004 - ich war zu jener Zeit zufällig vor Ort – zeigten trotz ihrer Brutalität kein anderes Bild. Politische Bestrebungen Durch die Wahl von Hashim Thaqi zum Ministerpräsidenten ist ein ehemaliger UCK-Kommandeur an die Macht im Kosovo gelangt. Ihm wird eine enge Bindung an den Westen, vor allem an die USA nachgesagt und vor allem eine gesunde Portion Pragmatismus. Am 17. Februar 2008 hat sich das Kosovo wie angekündigt für unabhängig erklärt. Noch nicht einmal alle EU-Staaten sind dem Beispiel Frankreichs und auch Deutschlands gefolgt und haben das Kosovo anerkannt; der Schwebezustand bleibt also erhalten. Serbien agiert und agitiert weiterhin auf allen diplomatischen Ebenen gegen den Verlust des Kosovo. Bisher blieben die befürchteten Unruhen aus, allerdings dürfte die Lage noch über lange Zeit sehr angespannt bleiben. Vor allem die serbische Minderheit könnte zur Gewalt greifen und entsprechende Gegenaktionen der Albaner auslösen. Situation in Deutschland Der Umgang gerade der rot-grünen Regierung mit den Flüchtlingen aus dem Kosovo ist ein trauriges Kapitel deutscher Politikgeschichte: Nie gab es einen Abschiebestopp in das Kosovo. Das Auswärtige Amt, vertreten durch Herrn Fischer, lieferte auch in der Zeit nach 1999 Auskünfte, die den Realitäten vor Ort nicht entsprachen, die Ablehnung von Asyl- und Abschiebeschutzanträgen jedoch erleichterten. Auf der anderen Seite hat eine ganze Reihe von Verwaltungsgerichten, in BadenWürttemberg wie in anderen Bundesländern, vielen traumatisierten Flüchtlingen den Abschiebeschutz der Europäischen Menschenrechtskonvention zugestanden. Die Rechtslage derer, in deren Person das zuständige Gericht ein solches Abschiebeverbot wegen konkreter Gefahr für Leib und Leben festgestellt hat, wurde im neuen Aufenthaltsgesetz deutlich verbessert. Sie haben nunmehr einen unmittelbaren Anspruch auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 dieses Gesetzes. Zusammenfassung Kaum ein anderes Volk in Europa hat in den vergangenen sechzig Jahren Menschenrechtsverletzungen in einer Intensität erlitten wie die Albaner im Kosovo. Kein anderes Volk war wie sie einer derart brutalen und unmaskierten Politik der ethnischen Vertreibung ausgesetzt. Unzählige, auch und vor allem Kinder, mussten unglaubliche Gräueltaten, zunächst an ihren Haustieren, dann an ihren Nachbarn und Familienangehörigen mit ansehen. Vor allem für sie gibt es so gut wie keine Therapiemöglichkeiten. Es gibt auch keinerlei Entschuldigung von serbischer Seite. Eine Versöhnung ist in weiter Ferne. Vor dieser Perspektive wirkt die bisher fehlende politische und wirtschaftliche Perspektive verheerend. Die ständige Frustration kann sich immer wieder entladen, auch in Übergriffen gegen Minderheiten. Dabei werden die UN-Truppen und die UN-Verwaltung, die UNMIK, zunehmend als Besatzungsmacht erlebt. Die Präsenz Tausender allein lebender Männer aus dem Ausland und die Befriedigung von deren Bedürfnissen nach Nachtleben und sexuellen Kontakten trifft auf eine Bevölkerung, die zu mehr als 60% unter 25 Jahre alt ist, perspektivund arbeitslos obendrein. Diese jungen Leute kehren zusehends ihren Elternhäusern den Rücken; vor allem die jungen Frauen wollen ihr eigenes Leben leben, was zur Auflösung der klassischen Familienstruktur beiträgt. Der Zusammenhalt der Familien aber war über Jahrzehnte hinweg das Bollwerk, welches der Repression und den damit verbundenen Einschränkungen, Bedrohungen und Gefahren entgegengesetzt werden konnte. Das Kosovo ist eine Region, die von ständiger moralischer Auflösung bedroht ist. Es ist für die Menschen dort, aber auch für Europa, welches keinen erneuten Gewaltausbruch verkraften könnte und würde, von immenser Bedeutung, dass alles daran gesetzt wird, das Kosovo in einer für heute Lebende konkreten Perspektive in die europäische Familie aufzunehmen. Ob dies gelingen wird, ist heute so ungewiss wie vor zehn Jahren. Reinhard Kirpes Rechtsanwalt 17
© Copyright 2024 ExpyDoc