Dolmetschen: so treu wie möglich, so frei wie nötig 10

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Dolmetschen: so treu wie möglich, so frei wie nötig
Der Begriff „Kommunikation“ ist latei-
nen Dolmetscher bzw. Dolmetscherin
Die Antwort: Ja, ich bin verheiratet.
nischer Herkunft und bedeutet teilen,
das Problem zu überwinden. Was da-
(sich schämend und sehr zurückhal-
mitteilen, teilnehmen lassen, gemein-
bei öfters übersehen wird ist, dass in
tend, je nachdem, wie alt der Antrag-
sam machen, vereinigen usw.
fremden Kulturen nicht nur eine ande-
steller ist. Je jünger desto schüchter-
Für uns Menschen bedeutet Kommu-
re Sprache gesprochen wird, sondern
ner. Als ob in seinem Alter heiraten
nikation vor allem im Alltagsleben der
auch Mimik und Gestik eine andere Be-
nicht normal sei.)
menschliche Austausch von Gedanken
deutung haben können. Aber nicht nur
Frage: Haben Sie Kinder?
in Sprache, Gestik, Mimik, Schrift oder
das, bestimmte Worte haben in ver-
Antwort: Sie sollen deine Sklaven /
Bild. In diesem Sinne ist der Begriff
schiedenen Kulturen unterschiedliche
Hunde sein. Sie küssen deine Hände.
Kommunikation eng verbunden mit
Bedeutungen.
Sie sind drei. (kurdisch: Xulamên/kuci-
dem Begriff Interaktion, der oft syn-
Als Beispiel möchte ich einen Fall nen-
kên te bin, destên te macdikin. Sê he-
onym verwendet wird, denn hier wird
nen, in dem ich gedolmetscht hatte:
bin.)
auch Wechselseitigkeit vorausgesetzt.
Im Jahre 2007 war ich in Karlsruhe
Frage: Wo lebt Ihre Frau?
beim Bundesamt als Dolmetscher für
Antwort: Unsere Kinder leben bei mei-
Wir Dolmetscher stellen fest, dass in
türkische und kurdische Sprache an-
ner Mutter und meinem Vater. (kur-
der gesundheitlichen Versorgung von
gefordert. Ein Kurde aus der Türkei,
disch: Zariyên/Zarokên me li cem dê û
Migranten und Migrantinnen vor allem
aus der Provinz Sanliurfa hatte einen
bavê min in.)
im Bereich „Kommunikation“ eine gro-
Asylantrag gestellt. Jetzt hatte er sei-
ße Unzufriedenheit herrscht. Viele Ärz-
ne Anhörung. Bevor der Antragsteller
Also, wenn ich wie oben wortwörtlich
te und Ärztinnen der unterschiedlichen
nach seinen Asylgründen gefragt wird,
übersetzte, würde der Einzelentschei-
Fachbereiche beklagen unbefriedigen-
werden zunächst seine Personalien
der denken, dass Kurden nicht logisch
de Behandlungssituationen, die sie auf
aufgenommen und 25 allgemeine Fra-
sprechen können oder der Antragstel-
sprachliche und andere Kommunika-
gen über seine persönlichen Umstände
ler in seinen Antworten ausweichen
tionsprobleme zurückführen. Das ist
und Familie gestellt. In diesem Fragen-
möchte. Der Antragsteller wird schnell
auch verständlich, denn die Grundlage
katalog sind einige Fragen über den
vom Einzelentscheider als unglaubwür-
jeder menschlichen Beziehung ist die
Familienstand, ob man Kinder hat und
dig eingestuft und der Asylantrag ab-
Kommunikation. Dies gilt ganz beson-
wie viele.
gelehnt.
Als Dolmetscher wird man öfter darauf
Deswegen soll man in solchen Fällen
hingewiesen, dass man wortwörtlich
sich in beiden Kulturen auskennen und
Was soll man machen, wenn Patient
übersetzen soll, ohne die Situation in
so übersetzen, wie man in Deutsch ant-
und Therapeut nicht die gleiche Spra-
Betracht zu ziehen, als ob es die einzi-
wortet:
che sprechen, nicht eine gemeinsame
ge Übersetzungsmöglichkeit sei.
Haben Sie Kinder?
ders zwischen Therapeuten und Klient/
Patient.
Sprache finden, in der sie sich verstän-
10
Ja, ich habe Kinder.
digen können?
Hier ein Bespiel für eine wortwörtliche
Wie viele Kinder haben Sie?
Man versucht entweder durch nonver-
Übersetzung:.
Ich habe drei Kinder.
bale Kommunikation oder durch ei-
Die Frage. Sind Sie verheiratet?
Wo lebt Ihre Frau?
O
O
Meine Frau lebt bei meinen Eltern,
seine Fragen und Antworten, seine
ren Sprachkenntnissen (Fachausdrücke)
usw.
Ausdruckweise formuliert.
wie in der Technik des Dolmetschens
weiter zu bilden. Therapeuten und
Für die reibungslose Verständigung
Ein Dolmetscher oder eine Dolmet-
Dolmetschende bekommen dadurch
zwischen Arzt, Richter, Therapeut u.ä.
scherin steht bei medizinischem Dol-
die Möglichkeit, ihre unterschiedlichen
und
Klienten/Pati-
metschen in dem Dilemma zwischen
Erfahrungen und Sichtweisen auszu-
enten ist deshalb eine reine Wort-für-
einer streng neutralen und wörtlichen
tauschen,
Wort Übersetzung ohne Rücksicht auf
Übersetzung und einer kulturellen Ver-
aufzubauen und auf diese Weise eine
die tiefere Bedeutung einer Aussage,
mittlungsaufgabe: Das heißt überset-
qualifizierte Zusammenarbeit zu er-
sowie
das politische und kulturelle
zen oder interpretieren, übertragen,
möglichen.
Umfeld des Patienten/Klienten in der
übermitteln, wörtlich, genau, getreu,
Regel ungenügend.
oder auslegen, kommentieren, um-
In solchen Situationen heißt Dolmet-
schreiben, erklären, was in einer ande-
schen nicht nur in eine andere Sprache
ren Sprache oder Kultur gesagt, emp-
zu übersetzen, sondern eine andere
funden und geäußert wird.
Kultur nachvollziehbar zu machen und
Daher halten wir ein Vor- und Nachge-
den Sinn der Worte zu erfassen, d.h.
spräch zwischen den Dolmetschenden
Fürsprecher des anderen zu sein.
und Therapeuten für sehr wichtig, um
Dolmetscher und Dolmetscherinnen
Missverständnissen vorzubeugen.
übersetzen von einer Sprache in die
.
fremdsprachigen
andere, und von einer Kultur in eine
Mit der Hinzuziehung eines Dolmet-
andere. Wenn es um Verständnis geht,
schers oder einer Dolmetscherin wird
soll eine gute Übersetzung den Worten
zwar dem Patienten und dem Thera-
Sinn geben und den Parteien ermögli-
peuten das gegenseitige Verständnis
chen das Gesagte zu verstehen.
ermöglicht, aber diese dritte Person
gegenseitiges
Vertrauen
Ramazan Altintas
Maryam Shakibi
wirkt sich auch auf die Beziehung aus.
Aber wenn es nicht nur um Verstehen
Der Therapeut verliert damit den un-
allgemein oder den Inhalt des Gesag-
mittelbaren Kontakt zum Patienten
ten geht, sondern z.B. in der Thera-
und muss mit-teilen. Wenn er an die Si-
pie darum, wie es gesagt wird, dann
tuation nicht gewöhnt ist, fühlt er sich
sollte der Dolmetscher / die Dolmet-
manchmal dadurch gestört und behin-
scherin die Aussagen des Patienten,
dert, weil der Gesprächverlauf verlang-
einschließlich der bildhaften Ausdrü-
samt wird.
cke und Sprichwörter, so genau wie
möglich wiedergeben. Denn in diesen
Die Dolmetscherfortbildung bei refugio
Fällen kommt es darauf an, die Art und
stuttgart zielt darauf, die Dolmetsche-
Weise zu verstehen, wie der Patient
rinnen und Dolmetscher sowohl in ih-
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Kosovo – ein Herkunfts- und Rückführungsland wird vorgestellt
Das Kosovo hat sich am 17. Februar
2008 für unabhängig von der Republik
Serbien erklärt. Die „Unruheprovinz“
misst ca. 10877 km2, das entspricht in
etwa einem Drittel der Fläche von Belgien. 95% der etwa 2 Millionen Einwohner sind albanische Volkszugehörige,
die übrigen 5% entfallen auf Serben,
Angehörige der ethnischen Minderheiten der Roma, Ashkali oder „Ägypter“,
Gorani und Bosniaken. In den letzten 15
Jahren ist die öffentliche politische Debatte stark von der Situation im Kosovo
bestimmt worden; viele der KlientInnen
von refugio stuttgart, aber auch anderer
Sozialpsychiatrischer Zentren kommen
aus dem Kosovo. So mag es interessant
sein, die Situation der Menschen dort etwas gründlicher vorzustellen.
Vorbemerkung
Im Jahre 1991 kamen, zu Beginn der Auseinandersetzungen um den Zerfall des
ehemaligen Jugoslawien, unter anderem
auch die ersten Albaner aus dem Kosovo
ratsuchend in die Kanzlei. Damals hörte
ich zum ersten Mal von dieser Region,
welche mir zuvor gänzlich unbekannt gewesen war.
Den schier unglaublichen Berichten von
Menschenrechtsverletzungen begegnete ich mit dem üblichen professionellen
Misstrauen; erst bei meinem ersten Besuch im Kosovo vom 4.-11. August 1999
begann ich das ganze Ausmaß der soeben zuende gegangenen Katastrophe
zu begreifen.
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Kurzer historischer Abriss bis zum
28.März 1989, dem Tag der Aufhebung
des Autonomiestatuts.
Das Kosovo hatte immer eine Sonderrolle inne in den jeweiligen Staatsgebilden,
denen es im Laufe der Jahrhunderte zugeordnet wurde.
Die heutigen Albaner stammen entweder aus verschiedenen Stämmen der Illyrer (so die albanische Lesart), oder es
sind Nachfahren eines altbalkanischen
Volks (so westliche Wissenschaftler).
Von ca. 200 v. Chr. bis ca. 100 v. Chr. wurde das Kosovo durch Rom verwaltet. Ab
dem 6. Jh. n. Chr. verbreiteten sich die
Slawen über den gesamten Balkan, also
auch ins heutige Kosovo.
Bis zum Beginn des 9. Jh. herrschten
die griechischen Kaiser über die Region.
Zwischen dem Ende des 12. und dem
ersten Drittel des 13. Jh. wurde das Kosovo Teil des serbischen Königreichs der
Nemanjiden.
Nach dem Zerfall des serbischen Reichs
und dem Einfall der Osmanen im Jahre
1385 kam es 1389 zu der berühmten
Schlacht auf dem Amselfeld.
Die Schlacht auf dem Amselfeld wurde
zum mystifizierten Bestandteil serbischen Selbstverständnisses:
Obwohl die Schlacht selbst keine große militärische oder politische Bedeutung hatte, prägt sie bis heute den
serbischen Mythos vom Opfertod bei
der Verteidigung des Christentums
gegen die muslimischen Barbaren. Das
Kosovo ist seither im Bewusstsein der
Serben die Geburtsstätte ihrer nationalen Identität. Nur so erklärt es sich,
dass Slobodan Milosevic den 600. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld gewählt hat, um seine berühmte
Brandrede zu halten, mit welcher die
Repression gegen die im Kosovo lebenden Albaner eingeleitet bzw. verstärkt
und deren ethnische Vertreibung in die
Wege geleitet worden ist.
Nach der Eroberung durch die Osmanen
übernahmen die Albaner den Islam als
ihre Religion. Auch heute noch prägen,
neben den nicht zerstörten und noch
immer schwer bewachten serbischen
Klöstern und orthodoxen Kirchen die Minarette der Moscheen das Erscheinungsbild vieler Dörfer und einiger Städte im
Kosovo. Allerdings übt nur noch eine –
verschwindende und überalterte – Minderheit der Bewohner des Kosovo ihren
Glauben auch aus: In manchen Dörfern
sind es nur noch ganz wenige Alte, welche die Regeln des Islam befolgen. Die
Mehrheit der albanischen Volkszugehörigen im Kosovo praktiziert ihre Religion
nicht mehr.
Mit dem Ende der osmanischen Herrschaft im 19. Jh. wurde das Kosovo zu
einer vergessenen Provinz am Rande Europas. Im Gefolge der ersten Balkankriege (1912-1913) fiel das Kosovo, erobert
durch die serbische Armee, die bereits
damals viele Grausamkeiten an der albanischen Zivilbevölkerung beging, an
Serbien.
Im ersten Weltkrieg begrüßten die Albaner im Kosovo die österreich - ungarische Armee, die das Gebiet 1915
eroberte, als Befreier, weshalb sie nach
Rückeroberung durch die Serben als Kollaborateure hart abgestraft wurden. Bereits damals gab es Bestrebungen, das
Kosovo aus Serbien herauszulösen.
Im Jahre 1937 verfasste Vaso Cubrilovic
eine Denkschrift, die auch in der politischen Planung des späteren serbischen
Präsidenten eine wichtige Rolle spielen
sollte; der Autor plädierte darin offen für
eine vollständige Vertreibung der Albaner aus dem Kosovo.
Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Kosovo
in das Jugoslawien Titos integriert. Ende
der 1940er Jahre stand erneut die Slawisierung des Kosovo bzw. die Vertreibung der
Albaner im Mittelpunkt der Innenpolitik.
Nach einer Wende der Politik unter Tito
erhielt das Kosovo in den 1970er Jahren
den Status einer autonomen Provinz. Albanisch wurde zur zweiten Amts- und Unterrichtssprache; die Universität Prishtina
wurde gegründet.
Diese Entwicklung stieß jedoch auf heftigen Widerstand der im Kosovo lebenden
Serben, von denen viele in jenen Jahren
das Kosovo verließen. Es kam zu Unruhen
und Aufständen wegen der wirtschaftlichen Lage, welche die Stimmung zwischen
Albanern und Serben weiter verschlechterte. 1981 eskalierte die Lage, als Studenten
in Prishtina gewalttätig demonstrierten;
die Demonstrationen wurden durch die
serbische Polizei brutal beendet.
Nach dem Tode Titos und spätestens im
Gefolge des Machtantritts von Slobodan
Milosevic 1987 trat eine dramatische Verschlechterung der Menschenrechtslage
für die im Kosovo lebenden Albaner ein.
Vom 28. Juni 1989 bis zum 10. Juni 1999
Am 28. März 1989 wurde das unter Tito
geschaffene Autonomie-Statut des Kosovo aufgehoben. Es folgten schwere
Auseinandersetzungen und Demonstrationen mit Dutzenden von Toten; über
die Provinz wurde der Ausnahmezustand verhängt. Mindestens 200 Albaner
wurden in Isolationshaft genommen und
schwer misshandelt, ohne jegliche Folgen für die Täter aus serbischer Armee
und Polizei.
Am 28. Juni 1989, dem 600. Jahrestag
der Schlacht auf dem Amselfeld - serbisch Kosovo Polje -, kündigte Slobodan
Milosevic die kommende Entwicklung
an, die eine ethnische Säuberung des
Kosovo zum erklärten Ziel hatte.
In den Folgejahren nahm die Repression
ständig zu. Flüchtlinge, die in den frühen
1990er Jahren den Westen erreichten,
berichteten von einer verheerenden
Menschenrechtslage.
Zum Beispiel war es verboten, in albanischer Sprache zu unterrichten, eine
kritische Presse gab es nicht. Wer sich
als Gewerkschafter, Intellektueller oder
als Sympathisant verbotener Organisationen verdächtig machte, musste mit
willkürlicher Verhaftung, mit Misshandlung und Folter rechnen. Überall waren
so genannte Checkpoints durch serbische Polizei errichtet worden. Vor allem
junge Männer wurden herausgegriffen
und oft ohne jeden Grund zusammengeschlagen. Als Grund für willkürliche
Verhaftungen und Hausdurchsuchungen
wurde regelmäßig der illegale Besitz von
Waffen vermutet bzw. vorgeschoben.
In dieser Zeit begann Ibrahim Rugova,
ein Schriftsteller, großen Einfluss zu gewinnen. Er propagierte erfolgreich den
gewaltfreien Widerstand gegen die serbische Willkür. In privat geführten, also
illegalen Schulen wurde in albanischer
Sprache unterrichtet. Kam es zu Kontrollen durch die serbische Polizei, wurden
die Lehrer zumindest schwer misshandelt, in einigen Fällen gar vor den Augen
ihrer Schüler erschossen.
Im Jahre 1996 trat zum ersten Mal eine
bis dahin vollkommen konspirativ arbeitende Splittergruppe in Erscheinung, die
sich vom pazifistischen Kurs des Ibrahim
Rugova losgesagt und der als Besatzung
empfundenen serbischen Verwaltung
den Kampf mit paramilitärischen Mitteln angesagt hatte. Im Gefolge dieser
Entwicklung eskalierte die Lage vollends
zum Bürgerkrieg.
An dieser Stelle möchte ich aus meinem
Bericht über meinen Aufenthalt im Kosovo vom 4.-11. August 1999 zitieren.
Stellvertretend für viele wird das Schicksal der Familie L. beschrieben:
Herr L. berichtete. Seine Ehefrau erfuhr
im Laufe dieses Gesprächs erstmals die
volle Wahrheit über das Schicksal insbesondere ihrer Töchter.
„Am 28.3.1999 hat die serbische Offensive begonnen. In drei Orten hatten sich
die Menschen gesammelt, weil sie hofften, vor den heranrückenden Serben bei
der UCK Schutz zu finden. Am 12.4.99
hatte unsere Familie Unterschlupf gefunden in einem Dorf namens Cakutaj.
13
14
An diesem Tag, es war ein Montag, gab
es den ganzen Tag starken Beschuss
durch serbische Raketen und großkalibrige Waffen.
Am Dienstag, dem 13.4. sind mein Schwiegervater, meine Mutter sowie meine beiden
Töchter losgegangen, um im Haus meines
Schwiegervaters in Studenica Brot zu backen, denn in Cakutaj gab es nichts zu essen. Die Gruppe von insgesamt 9 Personen
war morgens um 7 Uhr aufgebrochen. 20
Minuten später kam man in Studenice an.
Zwischen 9 und 10 Uhr kehrten mein Sohn
und mein Bruder aus Studenice nach Cakutaj zurück. Diese beiden hatten unterwegs
den Rauch bemerkt, der vom Haus meines
Schwiegervaters aufstieg und vom Brotbacken herrührte. Sie waren zu dem Haus
gefahren und hatten die Gruppe von 9
Personen angetroffen. Deren Gepäck luden
sie auf den Traktor und fuhren zurück nach
Cakutaj. Die 9 Zurückbleibenden wollten zu
Fuß nachkommen, wenn das einzige noch
fehlende Brot fertig gebacken sei.
Inzwischen hatte die serbische Armee Studenice fast erreicht. Kämpfer der UCK teilten den in das Dorf Geflüchteten mit, sie
sollten ihre Flucht sofort fortsetzen, weil
die Serben anrückten. Gegen 10 Uhr haben
serbische militärische und paramilitärische
Einheiten die Dörfer besetzt und dort alles
zerstört, darunter auch den Ort Studenice.
Ab dem 13.4.99 habe ich begonnen, meine
Familie zu suchen. In Studenice waren inzwischen die Serben. Inzwischen war meine
Frau zusammen mit ihrer Mutter und unseren beiden Söhnen in Richtung Albanien
aufgebrochen, da die Serben näher rückten.
Die erste Nacht auf der weiteren Flucht verbrachten sie im Freien. In den Bergen lag
knietiefer Schnee.“
„Am 25.5.1999 kehrte ich zurück nach
Hinterkopf hingerichtet worden. Sie war
Studenice zum zerstörten Haus meines
auch massakriert worden, verletzt und
Schwiegervaters. Ich stellte dort fest,
verstümmelt. Beide Beine waren ihr ab-
dass mit dem Brunnen etwas nicht in
geschlagen worden.
Ordnung war. Ich holte einige junge Leu-
Die zweite Leiche war die Frau meines
te und meldete meinen Verdacht den
Onkels. Sie ist 60 Jahre alt geworden.
KFOR-Truppen.
Der Rumpf und die Extremitäten waren
Man sagte mir, ich solle nichts unterneh-
noch intakt, der Kopf war allerdings stark
men, da die Gefahr bestehe, dass der
beschädigt.
Brunnen vermint sei. Ich war jedoch ent-
Die dritte Tote war die Tochter meines
schlossen den Brunnen, der verschlossen
Cousins, geboren 1985. Sie war durch
und eingeebnet war, zu öffnen. Junge
einen Schuss in den Hinterkopf getötet
Leute aus der Nachbarschaft halfen mir
worden.
dabei. Nach dem Öffnen fand ich zu-
Die nächste Leiche war meine ältere Toch-
nächst eine Schicht Stroh. Darunter be-
ter. Sie war ebenfalls durch einen Schuss
fanden sich Elektrogeräte, so ein Ofen,
in den Hinterkopf hingerichtet worden.
ein Fernseher und eine Wasserpumpe,
Dann holten wir die Leiche einer weiteren
die wohl dazu dienen sollten, den Brun-
Tochter meines Cousins, geboren 1987,
nen aufzufüllen. Es befanden sich auch
heraus. Sie war exekutiert und massak-
viele Steine darin. Ich begann, diese
riert. Sie war nur noch durch den Rumpf
Steine abzutragen. Der Brunnen hat eine
identifizierbar, nicht mehr durch den
Tiefe von 11 – 12 Metern. Nachdem wir
Kopf. Die darauf folgende Tote war unse-
die Steine abgetragen hatten stellten
re jüngere Tochter. Sie war ebenfalls durch
wir fest, dass sich darunter mehrere
einen Schuss in den Hinterkopf getötet
Leichen fanden. Auf diese Leichen war
worden. Eines ihrer Beine war erheblich
ungelöschter Kalk geschüttet worden.
geschädigt. Schließlich bargen wir noch
Die erste Leiche, die wir bargen, war
die Schwiegermutter meines Cousins,
meine Mutter. Da die Leichen relativ tief
dann meinen Schwiegervater und zuletzt
im kalten Brunnen lagen, waren sie noch
dessen 70jährige Nachbarin.
erkennbar und zu identifizieren. Danach
Die oben liegende Leiche, also meine Mut-
haben wir die übrigen Leichen, also die
ter, muss als letzte getötet worden sein.
acht anderen verschwundenen Perso-
Sie muss alles mit angesehen haben.
nen, aus dem Brunnen geholt. Ich konnte
Der italienische KFOR-Offizier, der die
alle identifizieren, darunter unsere bei-
erste Leiche sah, wurde fast ohnmächtig
den Töchter. Die erste Tote, also meine
und musste medikamentös behandelt
Mutter, war durch einen Schuss in den
werden.“
Im Februar 1998 besetzten serbische
Panzer die Kleinstadt Skenderaj und begannen, vermeintliche Unterkünfte von
Aufständischen der UCK unter Beschuss
zu nehmen.
Im April 1998 wurden nahezu alle Mitglieder der zum aktiven Widerstand gerechneten Familie Jashari in Prekaz ermordet;
die Ruinen der Häuser wurden erhalten,
die Gräber werden gepflegt. Der Ort ist
heute ein Mahnmal der Erinnerung.
Im Sommer 1998 verschärften sich die
militärischen
Auseinandersetzungen,
insbesondere in der Drenica-Region, wo
besonders viele Widerstandskämpfer der
UCK vermutet wurden.
Vergewaltigungen, gezielte Morde an Zivilisten, darunter auch an Alten und Kindern, sind aus dieser Zeit dokumentiert;
ohne Beistand von außen war die albanische Bevölkerung im Kosovo nahezu
schutzlos den systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgeliefert.
Am 15. Januar 1999 wurden nahe dem
Dorf Racak 45 Leichen von Albanern gefunden, die durch Schüsse getötet worden waren. Diese Bilder gingen um die
Welt.
Auf Schloss Rambouillet in Frankreich
wurde ein letzter diplomatischer Versuch
unternommen, um die Situation im Kosovo ohne Eingreifen von außen zu befrieden; er misslang.
In den folgenden Monaten wurden ganze Familiengruppen auf bestialische
Weise abgeschlachtet und in Massengräbern verscharrt. Die Täter waren Serben,
manchmal unterstützt von Roma. Kleinere Massengräber waren so alltäglich
geworden, dass die Leichen nicht einmal
mehr obduziert und die Verbrechen an
das Haager Tribunal gemeldet werden
konnten. Damit wurde eine Strafverfolgung zunichte gemacht. Die Verbrechen
bleiben ungesühnt, obwohl die Täter teils
namentlich bekannt sind. Diese Situation
fördert die Selbstjustiz.
Am 24.März 1999 begann die Nato ihre
Angriffsflüge auf Serbien; auch dort waren zahlreiche, auch zivile Opfer zu beklagen.
Am 10.Juni 1999 zog sich die serbische
Armee aus dem Kosovo zurück, welches
seither unter UN-Verwaltung steht.
Die Entwicklung seit dem 10. Juni 1999
Die Situation der Albaner:
War zunächst nach dem Abzug der Serben die Stimmung im Kosovo von großer
Euphorie geprägt, folgte in den Jahren
darauf die Ernüchterung: Es war und ist
vor allem die desolate wirtschaftliche Situation, die das Leben in Kosovo prägt.
Da das Kosovo weiterhin zwar völkerrechtlich zu Serbien gehört, jedoch nach
wie vor einen ansonsten ungeklärten
Status hat, gibt es faktisch keine Investitionen. Wer produziert in einer Region, welche eine katastrophal schlechte
Verkehrsanbindung aufweist, die zudem
– zumindest im Konfliktfall mit Serbien –
jederzeit von den Versorgungswegen abgeschnitten werden kann?
Die medizinische Versorgung ist nach
wie vor äußerst problematisch. Nach
seriösen Untersuchungen wird davon
ausgegangen, dass ca. 25% der albani-
schen Bevölkerung, das sind immerhin
ca. 500.000 Menschen (!), an klinisch relevanten Traumata infolge ihrer Kriegserlebnisse leiden.
In ganz Kosovo stehen keine Psychotherapeuten und lediglich 25 Psychiater zur
Verfügung, die zudem schlecht ausgestattet sind.
In ihrem Bericht von Juni 2007 dokumentiert dazu die Schweizerische Flüchtlingshilfe:
„Die Mängel und Defizite bei Behandlungen psychischer Erkrankungen sind
nach unseren Recherchen über die Jahre unverändert geblieben. Anzeichen für
grundlegende Verbesserungen der therapeutischen Kapazitäten sind nicht in
Sicht.“
(S. 12 des Berichts vom 7. Juni 2007).
Ich habe bei meinen regelmäßigen Reisen in das Kosovo, welches ich kurz nach
Ende des Krieges im Sommer 1999 und
zuletzt im Sommer 2007 besucht habe,
folgende Entwicklung beobachten können: Die anfängliche Aufbruchstimmung
wurde abgelöst durch eine allgemeine
Resignation angesichts sich nicht verbessernder Lebensverhältnisse. Bei meinem
letzten Besuch im Sommer 2007 herrschte eine tiefe Depression. Die Menschen
wirken müde und resigniert; jegliche soziale Verantwortung scheint im Schwinden begriffen zu sein. Äußerlich zeigt
sich das an einer weiter zunehmenden,
inzwischen kaum noch erträglichen Vermüllung ganzer Landstriche.
Weiterhin sind Kinder im Alter von 8, 9, 10
Jahren gezwungen, bis spät in die Nacht
durch belebte Viertel und Gaststätten zu
15
ziehen und Zigaretten und Telefonkarten
zum Verkauf anzubieten; diese Kinder
habe ich auch schon weit nach 22 Uhr bei
strömendem Regen an Ausfallstrassen
aus Prishtina stehen sehen.
Die beiden großen Treffpunkte für Tagelöhner, der eine nahe des früheren Nobelhotels Grand, der andere am Busbahnhof
in Prishtina, sind immer stärker besucht.
Situation der Minderheiten
Die größte Minderheit im Kosovo sind
die Serben. Sie sind im Zuge der Slawisierung des Balkan in die Region gelangt
und stellten bis in die jüngste Vergangenheit die herrschende Schicht in Verwaltung, Justiz, Polizei und Armee. Heute
leben sie vor allem im Nordteil der geteilten Stadt Mitrovica und in kleineren,
durch die UN-Truppen nach wie vor hermetisch abgesicherten Enklaven des Kosovo.
Die Roma sind eine Minderheit, deren
Herkunft aus dem asiatischen Raum,
genauer aus Indien vermutet wird. Sie
haben bis zu den Ereignissen der Jahre
1999/2000 isoliert in bestimmten Stadtvierteln gelebt. Sie sind serbisch-orthodoxen Glaubens, sprechen ein eigenes
Idiom, das Romanes, und haben sich bis
heute ihre eigenen Riten und Gebräuche
bewahrt.
Von Ehen zwischen Roma und Albanern
ist mir nie etwas bekannt geworden.
Die Ashkali glauben, dass sie nicht gleicher Herkunft seien wie die Roma, sondern möglicherweise im Gefolge der Eroberungen Alexanders des Großen auf
den Balkan gelangt seien. Sie haben sich
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eher der Bevölkerungsmehrheit im Kosovo angepasst, d.h. sie sprechen kein
Romanes, haben keine roma-typischen
Gebräuche und haben ihre Kinder auf albanische Schulen geschickt.
Manche Angehörige dieser Volksgruppe
nennen sich auch Ägypter; exakte Kriterien zur Unterscheidung gibt es nicht.
Bereits kurz nach dem Abzug der serbischen Einheiten und dem Einrücken der
Nato-Verbände war bekannt geworden,
dass die Minderheiten im Kosovo „teilweise pogromartiger Verfolgung“ durch
die Albaner unterliegen würden.
Ich selbst habe während meiner Aufenthalte im Kosovo regelmäßig auch Orte
besucht, welche vor allem von Roma bewohnt wurden und habe, soweit möglich,
intensive Gespräche mit dort lebenden
Menschen geführt. Ich kann bestätigen,
dass es Übergriffe gegen die Minderheit
vor allem der Roma gegeben hat. Nicht
bestätigen kann ich, dass es jemals zu
flächendeckenden Verfolgungen von Angehörigen dieser Minderheit gekommen
wäre.
Auch die Unruhen im März 2004 - ich war
zu jener Zeit zufällig vor Ort – zeigten
trotz ihrer Brutalität kein anderes Bild.
Politische Bestrebungen
Durch die Wahl von Hashim Thaqi zum
Ministerpräsidenten ist ein ehemaliger
UCK-Kommandeur an die Macht im Kosovo gelangt. Ihm wird eine enge Bindung an den Westen, vor allem an die
USA nachgesagt und vor allem eine gesunde Portion Pragmatismus.
Am 17. Februar 2008 hat sich das Kosovo wie angekündigt für unabhängig
erklärt. Noch nicht einmal alle EU-Staaten sind dem Beispiel Frankreichs und
auch Deutschlands gefolgt und haben
das Kosovo anerkannt; der Schwebezustand bleibt also erhalten. Serbien agiert
und agitiert weiterhin auf allen diplomatischen Ebenen gegen den Verlust des
Kosovo. Bisher blieben die befürchteten
Unruhen aus, allerdings dürfte die Lage
noch über lange Zeit sehr angespannt
bleiben. Vor allem die serbische Minderheit könnte zur Gewalt greifen und entsprechende Gegenaktionen der Albaner
auslösen.
Situation in Deutschland
Der Umgang gerade der rot-grünen Regierung mit den Flüchtlingen aus dem
Kosovo ist ein trauriges Kapitel deutscher Politikgeschichte: Nie gab es einen Abschiebestopp in das Kosovo. Das
Auswärtige Amt, vertreten durch Herrn
Fischer, lieferte auch in der Zeit nach
1999 Auskünfte, die den Realitäten vor
Ort nicht entsprachen, die Ablehnung
von Asyl- und Abschiebeschutzanträgen
jedoch erleichterten.
Auf der anderen Seite hat eine ganze Reihe von Verwaltungsgerichten, in BadenWürttemberg wie in anderen Bundesländern, vielen traumatisierten Flüchtlingen
den Abschiebeschutz der Europäischen
Menschenrechtskonvention
zugestanden. Die Rechtslage derer, in deren Person das zuständige Gericht ein solches
Abschiebeverbot wegen konkreter Gefahr für Leib und Leben festgestellt hat,
wurde im neuen Aufenthaltsgesetz deutlich verbessert. Sie haben nunmehr einen
unmittelbaren Anspruch auf die Erteilung
einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs.
3 dieses Gesetzes.
Zusammenfassung
Kaum ein anderes Volk in Europa hat in
den vergangenen sechzig Jahren Menschenrechtsverletzungen in einer Intensität erlitten wie die Albaner im Kosovo.
Kein anderes Volk war wie sie einer derart brutalen und unmaskierten Politik der
ethnischen Vertreibung ausgesetzt.
Unzählige, auch und vor allem Kinder,
mussten unglaubliche Gräueltaten, zunächst an ihren Haustieren, dann an ihren Nachbarn und Familienangehörigen
mit ansehen. Vor allem für sie gibt es so
gut wie keine Therapiemöglichkeiten. Es
gibt auch keinerlei Entschuldigung von
serbischer Seite. Eine Versöhnung ist in
weiter Ferne.
Vor dieser Perspektive wirkt die bisher
fehlende politische und wirtschaftliche
Perspektive verheerend. Die ständige
Frustration kann sich immer wieder entladen, auch in Übergriffen gegen Minderheiten.
Dabei werden die UN-Truppen und die
UN-Verwaltung, die UNMIK, zunehmend
als Besatzungsmacht erlebt.
Die Präsenz Tausender allein lebender
Männer aus dem Ausland und die Befriedigung von deren Bedürfnissen nach
Nachtleben und sexuellen Kontakten
trifft auf eine Bevölkerung, die zu mehr
als 60% unter 25 Jahre alt ist, perspektivund arbeitslos obendrein.
Diese jungen Leute kehren zusehends
ihren Elternhäusern den Rücken; vor allem die jungen Frauen wollen ihr eigenes
Leben leben, was zur Auflösung der klassischen Familienstruktur beiträgt. Der
Zusammenhalt der Familien aber war
über Jahrzehnte hinweg das Bollwerk,
welches der Repression und den damit
verbundenen Einschränkungen, Bedrohungen und Gefahren entgegengesetzt
werden konnte.
Das Kosovo ist eine Region, die von ständiger moralischer Auflösung bedroht ist.
Es ist für die Menschen dort, aber auch
für Europa, welches keinen erneuten Gewaltausbruch verkraften könnte und würde, von immenser Bedeutung, dass alles
daran gesetzt wird, das Kosovo in einer
für heute Lebende konkreten Perspektive in die europäische Familie aufzunehmen.
Ob dies gelingen wird, ist heute so ungewiss wie vor zehn Jahren.
Reinhard Kirpes
Rechtsanwalt
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