Dipl.-Soz.-Wiss. Thomas Matys Ahornstr. 47 42283 Wuppertal Tel. (02 02) 7 58 30 83 e-mail: [email protected] Manuskript des Aufsatzes Bourdieu goes Organisationspsychologie. Möglichkeiten, das Bourdieu´sche Habitus-Konzept an eine sozialpsychologischorientierte Organisationspsychologie anzuschließen 38.027 Zeichen, Stand: Oktober 2005 Informationen zum Autor Thomas Matys, Jahrgang 1971, studierte Sozialwissenschaften an der Bergischen Universität Wuppertal (1996 – 2002) mit dem Abschluss DiplomSozialwissenschaftler. Seine Studienschwerpunkte waren Arbeits- und Organisationssoziologie (Professoren G. Wachtler und K. Türk) und Kultursoziologie (Professoren A. Demirovic und S. Neckel). Von November 2002 – September 2003 war er Wissenschaftliche Hilfskraft am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt und Energie im Projekt „Eventkultur und Nachhaltigkeit“. Er war u. a. Mitarbeiter im Projekt „Rechtstatsachen zum Verbraucherschutz“ bei Prof. Dr. Borchert an der Bergischen Universität Wuppertal und Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der FernUniversität Hagen (Bereich Arbeit und Gesellschaft) bei Prof. Dr. W. Jäger. Zur Zeit ist er Wissenschaftliche Hilfskraft an der Bergischen Universität Wuppertal, Professur für Soziologie, insbesondere Soziologie der Organisation und Wissenschaftliche Hilfskraft an der FernUniversität Hagen, Institut für Soziologie, Arbeitsbereich Arbeit und Gesellschaft, Prof. Dr. W. Jäger. Seine Promotion hat den Arbeitstitel: „Amerikanische Corporations. Auf dem Weg zu einer sozialtheoretischen Figur“ (Gutachter: Prof. Türk/Prof. Wachtler). 1 Bourdieu goes Organisationspsychologie. Möglichkeiten, das Bourdieu´sche Habitus-Konzept an eine sozialpsychologischorientierte Organisationspsychologie anzuschließen Zusammenfassung. Dieser Aufsatz lässt sich von der These leiten, dass das Bourdieu´sche Habitus-Konzept eine Reihe von Anschlüssen in Form unerwähnter (sozial-, organisations)psychologischen Aspekte aufweist. Das Habitus-Konzept scheint in hohem Maße anschlussfähig zu sein Theorien und Ansätze von Sozial- und Organisatiospsychologie zu sein, wenn ihr Grundanliegen mit der Absicht, wie denn eine praktische Handlung zu erklären sei, umschrieben werden kann. So werden in dem Beitrag sozialpsychologische Bereiche wie Kognition, Attribution, Reaktanz, Identität, Selbstwahrnehmung, Einstellungen und Verhalten auf ihre Bourdieu´schen Bezüge analysieren; organisationsspychologisch werden Anschlüsse bei den Themen Führung, organisationale Kultur, kollektive Identitäten, Bindung an Organisationen und organisationales Lernen aufgezeigt. Die Notwendigkeit, Bourdieus Beitrag zu einer vermehrt interdisziplinären Wissenschaftsauffassung innerhalb der Sozialwissenschaften zu erkennen und stärker zu berücksichtigen, markiert den Leitappell an den Leser. Abstract. This essay states, that there are many connections between the concept of habitus by pierre bourdieu and a socialpsychological-based psychology of organizations. .Bourdiues main Intention is how to explain a practical plot. In this essay there will be analyzed topics like Leadership, organizational culture, collective identities, committment and organizational learning. The necessity for an interdisciplinary science opinion, what is going out of Bourdieu, should be an appeal to the readers of this essay. 2 1. ZUR RELEVANZ DER FRAGESTELLUNG Die Frage einer Einbeziehung des Bourdieu´schen Habitus-Konzepts in eine sozialpsychologisch-orientierte – genauer müsste man sagen: sozialpsychologisch-fundierte – Organisationspsychologie speist sich zum einen aus der scheinbar selbstverständlichen Unterscheidung zwischen Organisationssoziologie und Organisationspsychologie und zum anderen aus den oft unerwähnten (sozial-, organisations-)psychologischen Aspekten der Bourdieu´schen Habitus-Theorie. Konkret sind also zunächst Abgrenzungen zwischen den Disziplinen vorzunehmen und Gegenstände einer sozialpsychologisch-orientierten Organisationspsychologie zu bestimmen. Beispielsweise sollen Aspekte thematisiert werden, die das Verhalten oder das Sich-Identifizieren von Menschen in Organisationen nicht als rein ′funktionalistisch′ im Rahmen etwa eines „Zweckmodells Organisation“ (Mayntz 1968) zu erklären versuchen, sondern eher die Konstitutionsweise des Wechselverhältnisses zwischen organisationaler Struktur und Individuum zum Gegenstand der Analyse machen. Zum Veranschaulichen dieses Prozesses ist die Bourdieu´sche Habitus-Theorie hoch geeignet, denn deren wichtigste Grundfrage kann formuliert werden, als das Bemühen, „wie der Vollzug einer praktischen Handlung zu erklären sei“ (Neckel, 2000). 2. GEGENSTÄNDE EINER SOZIALPSYCHOLOGISCH-ORIENTIERTEN ORGANISATIONSPSY- CHOLOGIE UND DER UNTERSCHIED ZUR ORGANISATIONSSOZIOLOGIE Die Psychologie wird häufig als eine Wissenschaft verstanden, die sich mit dem Erleben und Verhalten des Menschen auseinandersetzt (Rohracher, 1976). Allgemeine Psychologie bemüht sich um das Auffinden allgemeingültiger Gesetzmäßigkeiten menschlichen Erlebens und Verhaltens. Aufgrund der Differenziertheit von Menschen ist es das Ziel der Allgemeinen Psychologie – ähnlich wie in der Medizin –, allgemeine Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmung, des Lernens, des Gedächtnisses, des Denkens, der Emotion oder der Motivation des Menschen aufzufinden. 3 Organisationspsychologie lässt sich als die Wissenschaft definieren, die sich mit dem Erleben und Verhalten von Menschen in Organisationen auseinandersetzt (v. Rosenstiel, 1992; Gebert und v. Rosenstiel, 1992). Hier wird also ganz bewusst ein von Menschen geschaffener Kontext, die Organisation, als Bedingung menschlichen Verhaltens thematisiert. Wechselwirkungen zwischen dem Menschen und der Organisation werden unter der Perspektive des Erlebens und Verhaltens zum Forschungsgegenstand: Je nachdem werden Organisation oder Individuum als abhängige oder beide jeweils als unabhängige Variable im Rahmen von Zusamenhangsformulierungen betrachtet (vgl. v. Rosenstiel et al. 1995, S. 20). Wenn wie oben angedeutet von einer sozialpsychologisch-fundierten Organisationspsychologie ausgegangen werden soll, meint dies, dass das ′Erleben und Verhalten′ von Menschen in Organisationen stets auf allgemeinen sozialpsychologischen Annahmen beruht (der berühmte Einfluss der „Anwesenheit Anderer“ (Allport 1968) oder die „Theorie der sozialen Vergleichsprozesse“ (Festinger 1954)) sowie konkrete sozialpsychologische Theorien, wie bspw. Kognitions-, Interaktion- und Gruppentheorien, impliziert. Der – wie in Pkt. 1 erwähnt – m. E. scheinbar selbstverständliche Unterschied der Organisationspsychologie zur Organisationssoziologie soll hier kurz problematisiert werden, denn die Grenzziehung zwischen beiden Disziplinen ist nur schwer möglich (vgl. Luhmann 1964): Bspw. kann die Frage der Konstitution und Wandlung kollektiver Identität Annahmen enthalten, die nicht eindeutig einer Wissenschaftsdisziplin zuzuordnen sind. So kann kollektive Identität, verstanden als gesellschaftlich vermittelte Muster des Wahrnehmens, Denkens, Fühlens und Handelns – was der organisationssoziologischen Fragestellung näherkäme –, bezeichnen, kollektive Identität kann aber auch ein Merkmal bzw. ein Aspekt der individuellen Identität sein – womit eine eher (sozialpsychologisch-fundierte) organisationspsychologische Verortung dieses Sachverhaltes bestimmt gemeint sein könnte, solange diese individuelle Identität in irgendeiner Beziehung zum Phänomen der Organisation steht (vgl. Berg 1999, S. 218). 4 3. DAS HABITUS-KONZEPT PIERRE BOURDIEUS – KURZGEFASST Im Folgenden versuche ich, das Bourdieu´sche Habitus-Konzept sehr kurzgefasst darzustellen. Im Bewusstsein, aufgrund dessen vielleicht die eine oder andere Nuance zu überspringen, verweise ich auf ausführliche Darstellungen von Honneth (1984), Müller (1986), Balog 2001) und selbstverständlich auf die zahlreichen Primärtexte Bourdieus (s. Literaturverzeichnis). Bourdiues Habitus-Konzept geht davon aus, dass eine praktische Handlung wie folgt zu erklären sei: Im Laufe der Sozialisation erwerben Akteure ein Set strategischer Grundorientierungen bzw. typische Einstellungen, Deutungen und Bewertungen gesellschaftlicher Praxis. Habitus in diesem Sinne heißt also einverleibte soziale Struktur (welche wiederum von Bourdieu mit dem Begriff „Feld“ bezeichnet wird). Diese können zwar innerhalb der sozialen Praxis (allmählich) verändert werden, bringen jedoch als relativ dauerhaft Dispositionen erst einmal typische Handlungsmuster hervor und werden als Selbstverständlichkeiten kaum reflektiert. Dabei betont Bourdieu, dass die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata1 nicht nach einer Regel angewandt werden, sondern einer Regel gemäß. Es kann also nicht von einem determinierenden Mechanismus ausgegangen werden, vielmehr steuern die Denk- und Wahrnehmungsschemata Handlungen im Rahmen einer gewissen Bandbreite. Somit werden die Grenzen möglicher und unmöglicher Praktiken festgelegt, nicht aber die Praktiken an sich. Vor allem die (ungleich verteilten) Chancen, über die verschiedenen Kapitalformen2 zu verfügen, legen die Spielräume, die „konditionierte und bedingte Freiheit“ (Bourdieu 1987, S. 103), der Akteure fest. Damit verkörpert der Habitus für Bourdieu eine vermittelnde Instanz zwischen (Sozial-)Struktur („Feld“) und Handeln. Diese Strategien sind aber weder durch 1 Wahrnehmungschemata: sie strukturieren die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt (sensueller Aspekt der praktischen Erkenntnis); Denkschemata: zu ihnen sind (a) die Alltags-„Theorie“ und Klassifikationsmuster zu zählen, mit deren Hilfe die Akteure die soziale Welt interpretieren und kognitiv ordnen, (b) ihre impliziten ethischen Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen, d. h. ihr „Ethos“ und (c) ihre ästhetische Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken, kurz ihr „Geschmack“; Handlungsschemata: sie bringen die (individuellen und kollektiven) Praktiken der Akteure hervor (vgl. Schwingel 1998, S. 56). 2 Bourdieu unterscheidet ökonomisches Kapital (Geld), kulturelles Kapital (z. B. Bücher, Gemälde, Wissen über Bücher, aber auch Bildungstitel), soziales Kapital (soziale Beziehungen) und symbolisches Kapital (Sonderform: Korrelat aus jeweiligen anderen Kapitalarten, sobald diese bekannt und anerkannt sind). 5 die vorgegebenen Bedingungen unmittelbar determinierte Reaktionsformen, noch dem schöpferischen freien Willen zuschreibbar. Indem der Habitus die (Sozial-)Struktur reproduziert, aus der er hervorgegangen ist, verkörpert er gleichzeitig strukturierte und strukturierende Struktur. Die beiden Begriffe „Habitus“ und „Feld“ sind in dem Sinne relational, dass die nur in Verbindung miteinander richtig funktionieren. Habitus und Feld werden von Bourdieu auch als zwei Existenzweisen des Sozialen bezeichnet: „Leibgewordene und dinggewordene Geschichte, objektiviert in Sachen, in Gestalt von Institutionen – dafür steht der Begriff „Feld“ –, inkorporiert, leibhaftig geworden in Gestalt eines Systems dauerhafter, übertragbarer Dispositionen – dafür steht der Begriff „Habitus“ (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 146). Dadurch wird der in der Soziologie lange vorherrschende Gegensatz zwischen Subjektivismus und Objektivismus zugunsten einer integrativen Perspektive zu überwinden versucht. 4. ANSCHLÜSSE ZUR SOZIALPSYCHOLOGIE Bei allen im Folgenden dargestellten Ansätzen und Theorien sind Überschneidungen nicht zu umgehen: Kognition hat mit Verhalten zu tun, Verhalten kann kognitive aber auch behavioristische Elemente haben, etc. Gleichwohl wird versucht, im Rahmen der genannten Themengebiete die relevanten Aspekte in Bezug auf die Bourdieu´sche Habitus-Theorie aufzuzeigen. Zunächst soll auf die Kognitionstheorie eingegangen werden. Bereits in der Definition von ′Habitus′ als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata scheinen sozialpsychologische Elemente durch: Kognitionstheoretisch – soweit Kognition als „die Wissenstätigkeit, d. h. der Erwerb, die Organisation und der Gebrauch des Wissens“ (Neisser 1976 zit. nach Stroebe et al. 1996, S. 118) vermittels der ′Werkzeuge′ Wahrnehmung, Gedächtnis, Überlegung, Sprache etc. bezeichnet werden kann – stellen (kognitive) Schemata die Organisierung der Vorstellungen, welche Menschen sich von einem gegebenen Aspekte ihrer Umwelt mit Hilfe von Kategorisierungen machen, dar (vgl. Stroebe et al. ebd, S. 122). Mit Hilfe von Schemata können Menschen also kategorisieren und Schlussfolgerungen ziehen, bspw. den Begriff ′Clown′ der Kategorie ′Unterhaltung′ zuordnen. Wenn Bourdieu z. B. seine Denkschemata als „Klassifikationsmuster“ (vgl. Pkt. 3) bezeichnet, entspräche das einem kognitiven Schema. 6 Soweit allerdings ganz allgemein bei kognitivistischen Ansätzen in der Sozialpsychologie davon ausgegangen wird, dass das Verhalten von Individuen nicht die Reaktion auf objektive Situationen darstellt, sondern sich vielmehr aus der Reaktion auf die kognitive Repräsentation, sprich: der Schemata, dieser Situation speist, d. h. kognitive Prozesse vermittelnd zwischen objektiven Gegebenheiten bzw. Strukturen und dem individuell resultierenden Verhalten geschaltet sind, bleibt folgender Aspekt zu unterscheiden: Bourdieu geht von einem unbewussten Habitus aus. Somit lässt sich dieser sozialpsychologische (kognitive) Schema-Begriff nicht einfach übertragen: Allein schon die bewusste Rekonstruierung eines Kategorieschematas, z. B. das Bewerten des Führungsstils eines Vorgesetzten, findet ja gerade nicht ′automatisch′, unbewusstangeleitet statt, sondern „die von den sozialen Akteuren im praktischen Erkennen eingesetzten kognitiven Strukturen sind inkorporierte Strukturen“, die „jenseits von Bewußtsein und diskursivem Denken arbeiten“ (Bourdieu 1982, S. 730). Im Weiteren büßen auch zwei Theorie-Klassiker – die Attributionstheorie und die Reaktanztheorie – an Strahlkraft ein, denn ein ähnliches Maß an Undifferenziertheit wie im kognitiven Bereich kann auch der (naiven) Attributionstheorie (Heider 1958) unterstellt werden: Heider geht der Frage nach, wann ein Verhalten einer Person zugeschrieben wird und wann es durch situative Einflüsse erklärt wird. Damit ist der Subjektivismus-Objektivismus-Dualismus (vgl. Pkt. 3) angesprochen: gerade die Rekursivität, d. h. die zirkuläre Rückwirkungskraft und -funktion, sowohl bspw. seitens objektiver Gegebenheiten als auch seitens der Individuen – und somit das notwendige Zusammenwirken von Habitus und Feld (vgl. ebd.) – wird innerhalb dieser Theorie nicht berücksichtigt. Nimmt man die Reaktanztheorie (Brehm 1966) in den Fokus, die die Grundannahme enthält, dass Individuen an die Freiheit glauben (und sogar Maßnahmen ergreifen, um gefährdete bzw. verlorengegangene Freiheit zu behalten bzw. wiederzuerlangen), bestimmte Verhaltensweisen ausführen zu können – und das somit mit rationalistischen Handlungstheorien korrespondiert –, wird diesem Ansatz mit dem Habitus-Konzept als nicht gewähltes Prinzip aller Wahlen (vgl. Pkt. 3) ein entscheidendes Konstrukt gegenübergestellt. 7 Doch wie verhält es sich mit wichtigen Theorien, die eigentlich als Theorien der Subjektkonstitution bezeichnet werden müssen, also psychologisch genau das abzubilden versuchen, worum es Bourdieu – sicherlich betont aus soziologischer Perspektive – geht? Wie sind also etwa Identitäts- oder Selbstwahrnehmungsansätze oder der Komplex des Zusammenhangs zwischen Einstellungen und Verhalten bourdieu´sch ′zu beurteilen′? Identität kann als Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ und somit als die Fähigkeit der Subjekte eines ′Zu-Sich-Selbst-Verhalten-Könnens′ (Keupp 2000) verstanden werden. Identitätsvorstellungen, die Identität als etwas Stabiles, Unverrückbares und Dauerhaftes kennzeichnen, sind charakteristische Kennzeichen der Moderne – in diesem Sinne könnte man Identität als das ständige ′Sich-Selbst-Gleich-Bleiben′, als einen „subjektiven Konstruktionsprozess“ (Keupp et al. 1999, S. 7) bezeichnen, „in dem Individuen eine Passung von innerer und äußerer Welt suchen“ (ebd.). Herstellung und Erhaltung von Identität soll hier zunächst aus der Perspektive der Selbstwahrnehmung erfolgen: Selbstschemata (vgl. oben Pkt. „Kognition“) stellen „eine integrierte Menge von Erinnerungen, Meinungen und Generalisierungen“ (Bierhoff, 2000, S. 220) dar. Das generelle Selbstschema unterteilt sich in mehrere Teilbereiche: leistungsthematisch, sozial, emotional und körperlich. Ähnlich wie der erste Eindruck enthält das Selbstschema zentrale und periphere Eigenschaften. Zentrale Eigenschaften werden als charakteristisch und als wichtig eingeschätzt. Die Selbstwahrnehmungstheorie (Bem 1967, 1972) postuliert, dass zwischen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung anderer Personen (Fremdwahrnehmung) kein grundlegender Unterschied besteht. Einstellungen, Wünsche usw. sind nicht unmittelbar der Selbstbeobachtung zugänglich, sondern werden aus dem eigenen Verhalten abgeleitet. Genauso wie man andere Personen beobachtet und aus ihrem Verhalten Schlüsse auf ihre Einstellungen, Gefühle usw. zieht, ist es bei der Selbstwahrnehmung (vgl. Herkner 1991, S. 351). Wendet man nun den Bourdieu´schen Habitus-Begriff auf Bildung von Selbstschemata im Rahmen der Selbstwahrnehmungstheorie an, ist interessant, dass der Habitus nicht nur die Erinnerungen, Meinungen und Generalisierungen (Selbstschemata) beinhaltet, sondern offenbar auch damit automatisch Fähigkeiten zur Ausübung von Praktiken ′bereithält′, die es überhaupt ermöglichen, Erinnerungen, Meinungen, etc. – Kategorien, die man durchaus auch 8 sozialpsychologisch als ′Einstellungen′ charakterisieren könnte – aus dem eigenen Verhalten abzuleiten. Wie aber in Pkt. 3 aufgezeigt, erzeugt doch aber der Habitus auch die Formen von Verhalten. Hier ist m. E. kein Widerspruch angezeigt, sondern es wird auch an diesem Beispiel deutlich, dass das Habitus-Konzept – sozialpsychologisch konkretisiert – nur zirkulär zu denken ist: Der Habitus konstituiert das Feld und umgekehrt. Beide Phänomene sind nur relational zueinander denkbar. Doch wo ist das ′Feld′ in dieser SelbtschemataEinstellung-Verhalten-Konstruktion auszumachen? M. E. gilt unter der Regel, dass über den Habitus die Struktur regiere, die ihn erzeugt habe (vgl. Bourdieu 1987, S. 102), dass das Verhalten – besser gesagt: der Modus/die Grunddisposition, sich verhalten zu können – im o. g. relationalen Sinne eben nicht nur Kern des Habitus einer Person ist, sondern auch zugleich sein jeweiliges ′Feld′ darstellt: Ein Individuum leitet einerseits seine Einstellungen und somit seine Identität aus dem Verhalten ab – aber nur so, wie seine Dispositionen innerhalb seines Habitus es erlauben –, andererseits stellt das eigene Verhalten auch diejenigen objektiven Strukturen (das ′Feld′) dar, welche diese Grunddispositionen im Rahmen des Habitus überhaupt entstehen lassen können. Somit kann auch eine klassische Definition von Einstellungen von Sherif & Sherif (1969) erweitert werden: Sherif und Sherif gehen davon aus, dass nämlich Einstellungen (als Menge derjenigen Kategorien, die ein Individuum zur Bewertung einer Klasse sozialer Reize – Objekte, Personen, Werte, Gruppen, etc. – definiert) von Individuum sowohl vermittels Interaktion (d. h. mit anderen Personen) als auch durch Lernerfahrungen (s. u. Pkt. „Lernen“) erworben werden. Unter Einbezug der Habitus-Theorie kann festgestellt werden: Einstellungen werden auch durch ′Interaktion′ bzw. durch Lernerfahrungen mit sich selbst erworben. Ebenso wie der Begriff Verhalten scheint der Begriff Lernen angesichts der Bourdieu´schen Habitus-Konzeption hinterfragt werden zu müssen. Nimmt man obige Ausführungen bzgl. einer ′zirkulären′ Verhaltenskonstitution (durch Habitus und Feld) zum Ausgangspunkt, erscheint einfach, kognitiven Lerntheorien den Vorzug gegenüber behavioristischen Lerntheorien, die Lernen als durch klassische und operante Konditionierungen verstärkte Prozesse, somit als einfache Stimulus-Response-Modelle (S-R-M), charakterisieren, zu geben. 9 Kognitive Lerntheorien gehen davon aus, dass es nicht unbedingt eines Reizes bedürfe, Lebewesen aktiv werden zu lassen. Aktivität wird vielmehr als eine wesentliches Merkmal lebender Organismen aufgefasst. Somit sind im Rahmen kognitiver Lerntheorien also auch (im Gegensatz zu S-R-M) spontane Handlungen möglich. Wenn auch beide Theorieansätze zumindest darüber übereinstimmen, dass Lernen sich in einer Änderung des Verhaltens zeigt, sofern diese Verhaltensänderung nicht durch andere Faktoren (bspw. Ermüdung, Reifung) bewirkt wird, so gibt es auch einen entscheidenden Unterschied: Während behavioristische Ansätze davon ausgehen, dass Reiz und Reaktion miteinander assoziiert werden, basieren kognitive Theorien auf der Annahme, dass Reize verknüpft und kognitive Strukturen gebildet werden. Genau hier liegt die Verknüpfung zu Bourdieu: Lernen als Manifestation kognitiver Strukturen spricht die Veränderungsfähigkeit des Habitus an: Portele (1985) meint, die Theorie hierarchischer Lernordnungen von Bateson erlaube, die Veränderungsmöglichkeiten des Habitus zu verstehen: Mit Bezug auf – behavioristische – Ansätze, die etwa mit der Skinner´schen Ratte oder dem Pawlow´schen Hund Modelle beschreiben, die gelerntes – aktives oder passives – Verhalten (in beiden Fällen: Abwarten) belohnen, zeige Bateson, so Portele, worum es Bourdieu gehe: Den Individuen bleibe gar nichts anderes übrig, als Gewohnheiten zu bilden, die Notwendigkeit zum Habituserwerb sei angeboren (daher unbewusst; vgl. oben „Kognition“) und zwinge somit die Individuen förmlich, aus der Gesamtheit der Gegebenheiten, die ja vom allem gesellschaftlich bestimmt seien („Feld“), Regelmäßigkeiten herauszuholen (vgl. Portele 1985, S. 309). Die Theorie hierarchischer Lernordnungen macht nun drei Stufen aus: Lernen I meint bspw. das Lernen sinnloser Silben. Das Lernen, sinnlose Silben zu lernen, stellt Lernen II dar. Hiermit wären also bereits die Gewohnheiten, die Routinen, die Denk- und Handlungsschemata (sprich: der Habitus) verortet. Allerdings: Für Bateson ist das Lernen des „Kontextes“ auf einer logisch höheren Stufe angesiedelt als das Lernen von Verhalten. Das Individuum kann aber immer nur Verhalten verstärken, nicht den ′Kontext′, der wird vom ′Kontextmacher′ ′gemacht′, ist autonom (vgl. ebd., S. 310). Diese Kontexte bzw. Gewohnheiten, die unhinterfragt und selbstverständlich erscheinen, bilden das funktionale Äquivalent zum Bourdieu´schen Habitus. Doch mit Portele könnte man fragen: „Was ist das Lernen III? Lernen, wie man Gewohnheiten bildet; Lernen, 10 wie man lernt, zu lernen.“ (ebd., S. 311). Um im obigen Beispiel zu bleiben, könnte man sagen: lernen, wie man lernt, Silben zu lernen. Bourdieu und Bateson sind der Auffassung, dass Lernen III fast nicht möglich sei, da all das, was stillschweigend als selbstverständlich genommen wird – durch den Begriff „Doxa“ (vgl. Bourdieu 1979) repräsentiert –, in Verbindung mit „Zwängen zu Präferenzen“ dazu führe, dass „man hat, was man mag, weil man mag, was man hat“ (Bourdieu 1982, S 286). Vor diesem Hintergrund entstehe bei den Individuen kein Leidensdruck und somit auch kein Veränderungswunsch (vgl. Portele ebd., S. 311). Dies würde auch der These des unbewussten Habitus entsprechen (vlg. oben Pkt. „Kognition“). 5. ELEMENTE VON HABITUS-THEORIE UND SOZIALPSYCHOLOGIE INNERHALB DER ORGANISATIONSPSYCHOLOGIE Vor dem Hinterrund obiger Ausführungen soll nun auf Aspekte der Organisationspsychologie eingegangen werden. Welche Fragestellungen ergeben sich innerhalb der Organisationspsychologie, wenn die oben ausgeführten sozialpsychologischen Anknüpfungspunkte zur Bourdieu´schen Habitus-Theorie bei der Begründung organisationspsychologischer Kontexte stets mitgedacht werden müssen? Für den Bereich der Führung merkt Kieser (2001) an, dass ältere Führungstheorien noch von der Annahme ausgegangen seien, dass es vor allem bestimmte Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Intelligenz, rhetorische Fähigkeiten, Leistungsmotivation, Durchsetzungsfähigkeit, etc.) gewesen seien, die erfolgreiche Führer von weniger erfolgreichen unterscheiden (vgl. Kieser 2001, S. 117). Mittlerweile hat man erkannt, dass bestimmte Eigenschaften – Intelligenz etwa – von verschiedenen Personen in ganz unterschiedlicher Weise in Verhalten umgesetzt werden. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass auch die Situation mit darüber entscheidet, welche Eigenschaften und welches Verhalten zu Erfolg verhelfen. Dass unterschiedliche Personen unterschiedliches Verhalten an den Tag legen ist ja mit Bourdieu nicht ausgeschlossen: Der Habitus legt lediglich den ′Rahmen′ für die Praktiken der Individuen fest, nicht die 11 Praktiken selbst (vgl. Pkt. 3). Mit der Einbeziehung situationsbedingter Variablen, so könnte man formulieren, ist das ′Feld′ innerhalb der Führungstheorien ′angekommen′. Situationsvariablen, wie Positionsmacht des Führenden oder Aufgabenstruktur kennzeichnen das Moment der Verteilungsstruktur von Kapitalien innerhalb des Feldes: Position, Status, Gratifikation und Privilegien können als Elemente sozialen Kapitals gewertet werden, mit Hilfe derer der Führende seine – sozusagen strukturelle – Überlegenheit gegenüber den Geführten zum Ausdruck bringt. Dass Führungsverhalten in hohem Maße situationsabhängig ist, belegt auch die Studie von Matiaske (1992). Der Autor untersucht u. a. den Zusammenhang von Führungsstilen – als ′Ausprägung′ von Verhalten – und Einstellungen – als ′Ausprägungen′ des Habitus. Der Autor zitiert zunächst Allports Definition von Einstellungen „ ... als relativ lang andauernde, gelernte, psychische und physiologische Bereitschaften, durchgängig und einheitlich bestimmte Klassen von Objekten wahrzunehmen, zu bewerten und sich ihnen gegenüber zu verhalten“ (Allport 1935 zit. nach Matiaske 1992, S. 91). M. E. ist mit dieser Definition eine direkte Verbindung zum Habitus als Ensemble von Denk-, Wahrnehungs- und Handlungsschemata hergestellt. Zentrale These Matiaskes ist nun, dass die These eines positiven Zusammenhangs zwischen Einstellungen, im Sinne von geäußerten Handlungsbereitschaften oder -absichten und tatsächlich beobachtetem Verhalten in Bezug auf Führungsverhalten empirisch kaum haltbar sei (vgl. ebd., S. 92). Kaum eine andere (klassische) Studie belege dies besser als die von LaPiere3. Der Autor führt im Weiteren aus, dass sowohl die organisationale Führungssituation (Strukturierung der Aufgaben, Leitungsspanne, Formalisierung der Organisation etc.) als auch die unmittelbare Führungssituation (Motivation der Unterstellten, Betriebsklima, Leistungsverhalten etc.) Einfluss darauf ausüben, ob eine Führungsperson bspw. einen strukturorientierten oder einen integrativen Führungsstil pflegt (vgl. ebd., S. 137). Spätestens an dieser Stelle soll noch einmal hervorgehoben werden, dass es sich beim Bourdieu´schen Habitus-Konzept nicht um einen individual3 LaPiere meldete ein chinesisches Ehepaar in Gaststätten und Restaurant an bzw. fragte, ob diese das Ehe paar bewirten bzw. beherbergen würden. Hatten noch vorher fast 90 % mit Nein 12 psychologischen Ansatz handelt, gleichwohl soziologische Begründungskriterien des Habitus an Einzelmitgliedern der Gesellschaft quasi exemplarisch abgelesen werden können. Der Begriff der organisationalen Kultur unterstreicht ganz besonders den über-individuellen Charakter des Habitus: Organisationskultur meint gemeinsam geteilte Werthaltungen und Selbstverständlichkeiten, die häufig von den Organisationsmitgliedern gar nicht bewusst wahrgenommen werden, aber oft zu konkreten Handlungen führen können (vgl. v. Rosenstiel et al. ebd., S. 26). Hiermit wäre eine Analogie zum Habitus (Selbstverständlichkeiten innerhalb organisationaler Kultur) und dem ′erzeugten′ Verhalten (z. B. das Schaffen von Organisationsstrukturen) hergestellt. Eng verwandt scheint Organisationskultur mit dem Begriff der kollektiven Identität zu sein. Um terminologische Klarheit zu gewinnen, ist zunächst eine Unterscheidung vonnöten: Kollektive Identität kann ein Merkmal eines Kollektivs oder ein Aspekt der individuellen Identität sein. Dahinter steht zum einen die Aussage, dass die Identität eines Individuums – je nach gesellschaftlichen Bedingungen mehr oder weniger – bestimmt ist durch die Kollektive, den das Individuum angehört oder sich zuordnet (vgl. Berg 1999, S. 218). Unter Habitus- und ′Kapital′-Aspekten möchte ich mich dem zweiten Gesichtspunkt, der kollektiven Identität als Aspekt bzw. Merkmals eines Individuums, zuwenden: Wie kommt es dazu, dass sich Individuen einer Organisation zugehörig fühlen bzw. sich an sie ′binden′? Es können hier nicht alle Bereiche aufgeführt werden, die Bindung an Organisationen (′′Commitment′) zu erklären versuchen (u. a. Attraktion, interpersonale Beziehungen, Motivation, Identifikation, Sozialisation oder Loyalität). Aber die Bourdieu´sche Feststellung, dass alle Handlungen, seien sie auch offiziell noch so unökonomisch, im Prinzip ökonomisch ausgerichteten Nutzenkalkülen folgten, scheint m E. in diesem Zusammenhang eine zentrale zu sein. Und zwar soll Nutzen als Mehrung aller Kapitalarten verstanden werden. So kann eine starke Bindung an Organisationen (′Loyalität′) die Mehrung ′symbolischen Gewinns′ bedeuten: Wenn symbolisches Kapital sich vor allem durch die Fähigkeit auszeichnet, relativ einfach in eine andere Kapitalart ′umgewandelt′ zu werden, so können bspw. Mitarbeiter in Unternehmen mit starkem Commitment (z. B. eigenständiges, intrinsisch-motiviertes ′Weitergeben′ von Organisageantwortet (Einstellung) wichen später doch erheblich viele von ihren negativen Antwort ab und bewirteten das Ehepaar (Verhalten). 13 tionskultur) ihre Chancen erhöhen, aufzusteigen (Erhöhung des sozialen Kapitals), was sehr wahrscheinlich auch ihre Einkommenssituationen verbessert (Erhöhung des ökonomischen Kapitals). Der Habitus leistet dabei eine Brückenfunktion, indem er objektive Chancen und subjektive Aspiration aufeinander abstimmt. Der Bereich des organisationalen Lernens streift die Veränderungsfähigkeit des Habitus erneut in Verbindung mit den Konsequenzen für eine Organisation:. „Organisieren“ und „Lernen“ erweisen sich nach Weick und Westley (1996) als nicht miteinander vereinbarende Konzepte. Lernen bedeutet Vielfalt erzeugen und Explorieren. Organisieren hingegen impliziert Standardisieren und Vielfalt reduzieren (vgl. Kluge/Schilling 2000, S. 179). Von daher ist es notwendig zu unterscheiden, ob Organisation aus der institutionalen Perspektive (Organisation als soziales System mit einer Struktur zur zielorientierten Aufgabenverteilung und -koordination) oder aus der instrumentalen Perspektive (Organisation als ein die Interaktionen der Mitglieder steuerndes Regelwerk) betrachtet werden soll. Gemäß dieser Zuordnung verweist Organisationales Lernen im institutionalen Sinne auf das kollektive (im Gegensatz zum vereinzelten) Lernen in einem sozialen System, welches interaktiv (auf gegenseitigen Austausch) angelegt ist. Dagegen impliziert Organisationales Lernen im instrumentalen Sinne das geregelte, methodische (im Gegensatz zum unsystematischen) Lernen. Unter habitus-theoretischer Betrachtung fällt auf, dass sich das kollektive Lernen am ehesten an bisher erörterte Habitus-Aspekte anschließen lässt: Wenn ich oben unter Pkt. „Lernen“ bereits angedeutet habe, dass Lernen im Allgemeinen als Manifestation kognitiver Strukturen die Veränderungsfähigkeit des Habitus anspricht, so soll nun auf organisationaler Ebene gefragt werden, was den organisationales – im obigen Sinne – institutionales Lernen (unter Berücksichtigung des Hauptaspektes der Verhaltensänderung) ′verursacht′, oder besser: fördert. An diesem Punkt sind nun Kluge/Schilling der Meinung, organisationales Lernen im Sinne der Veränderung, Abgleichung und Erweiterung von geteilten mentalen Modellen der Mitglieder einer Organisation scheine sich über die direkte Interaktion in (selbstorganisierten) Netzwerken zu vollziehen (vgl. Kluge/Schilling ebd., S. 189). Es wird besonders darauf abgehoben, dass gerade informelle und selbstorganisierte Kommunikation im Netzwerk zu verändertem organisationalem Wissen führe 14 (vgl. ebd., S. 181). So könnte man nun m. E. schlussfolgern: Organisationales Lernen hängt von der (kollektiven) Fähigkeit ab, sich in Netzwerken zu organisieren, zu kommunizieren, also sein ′soziales Kapital′ bestmöglich einzusetzen (Bereich ′Habitus′) – gleichzeitig erscheinen die objektiven Strukturen (Betriebsklima, Führung, Organisationskultur, Leistungsniveau etc.) starken Einfluss auf kollektive organisationale Lernmodi zu haben (Bereich ′Feld′). 6. RESÜMEE Bei den Versuchen, die Bourdieu´sche Habitus-Theorie in eine sozialpsychologisch-fundierte Organisationspsychologie einzubeziehen, können folgende Aspekte generalisiert festgehalten werden: • Die den Habitus definitorisch begründenden Wahrnehmungs-, Denkund Handlungsschemata korrespondieren in auffälligem Maße mit kognitivistischen Begriffen wie Schemata oder Repräsentation, oft bleibt bei diesen Theorien aber die unbewusste Konnotation Bourdieus ′unterrepräsentiert′. • Die Zurechnung von Verhalten (Attribution) zu Person oder Situation kann nur zirkulär (in Giddens´scher Terminologie: ′rekursiv′) im Wechselspiel zwischen Habitus und Feld verstanden werden. • Das Habitus-Konzept als nicht gewähltes Prinzip aller Wahlen lässt die Allgemeingültigkeit der Reaktanztheorie fraglich erscheinen. • Der Habitus als Erzeugungsinstrument sowohl von Einstellungen als auch von Verhalten gedeutet werden, wie am Beispiel der Selbstwahrnehmungstheorie gezeigt wurde. Im Bereich der Einstellungen ist wesentlich, dass diese nicht nur durch Interaktion und Lernerfahrung mit anderen, sondern auch mit sich selbst erworben werden. • Für den Bereich der Lerntheorie konnte herausgearbeitet werden: Die Notwendigkeit zum Habitus-Erwerb scheint angeboren zu sein. Lernen zu lernen ist möglich, nicht aber, die bewusste Auseinandersetzung, wie man lernt, lernen zu lernen – das steuern implizite Habitus-Modi. 15 • Situationsvariablen stellen das ′Feld′ als objektive Strukturen bspw. innerhalb Führungstheorien dar. Position, Status, Gratifikation und Privilegien können als Arten sozialen Kapitals angesehen werden, mit Hilfe derer sich Führungspersonen Vorteile zu verschaffen versuchen. Allerdings: Analog zum LaPiere-Experiment ist eine automatische Vorhersage, von Einstellungen der Führungspersonen auf ihr Verhalten zu schließen, problematisch. • Organisationskultur und kollektive Identität ′lagern′ sich ′ab′ im Habitus von Beschäftigten. Starkes Commitment kann sich im Sinne symbolischen Kapitals positiv auf andere vorteilsrelevante Konfigurationen von Mitarbeitern auswirken. • Kollektives Lernen in Organisationen – unter dem Gesichtspunkt der ′Messung′ einer Verhaltensänderung – vollzieht sich vermittels netzwerkartiger Interaktion zwischen Mitarbeitern in Unternehmen und führt damit zu verändertem organisationalem Wissen. Somit kann abschließend konstatiert werden: Bourdieu zeichnet sich nicht nur durch seine analytische Habitus-Theorie und das damit verbundene Überwinden des klassischen Gegensatzes zwischen Subjektivismus und Objektivismus – man könnte auch sagen: zwischen Individuum und Gesellschaft – an sich aus. Die oben aufgezeigten Anschlüsse zu einer sozialpsychologisch-fundierten Organisationspsychologie zeigen die Notwendigkeit zu mehr Interdisziplinarität in den Wissenschaften überhaupt auf. Auch wenn es schon Ansätze gibt (z. B. Wittpoth 1994), aber was wäre, wenn beispielsweise vermehrt erziehungswissenschaftliche Anschlüsse an Bourdieu gesucht würden, so dass man auch die Formel ′Bourdieu goes Pädagogik′ verstärkt wahrnähme? 16 LITERATUR ADORNO, T. W.: Individuum und Organisation, in: Neumark, F. (Hrsg.): Individuum und Organisation. Darmstädter Gespräch, Darmstadt 1953, S. 21 - 35 BALOG, A.: Neue Entwicklungen in der soziologischen Theorie. Auf dem Weg zu einem gemeinsamen Verständnis der Grundprobleme, Stuttgart 2001 BERG, W.: Kollektive Identität. Zugänge und erste Überlegungen, In: Hahn, H.: Kulturunterschiede. Interdisziplinäre Konzepte zu kollektiven Identitäten und Mentalitäten. Frankfurt am Main 1999, S. 217 – 238 BERGER, P. L.: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt am Main 1980 BIERHOFF, H. W.: Sozialpsychologie. Ein Lehrbuch. 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