Die Kultur! Geht natürlich den Bach runter. Aber wie lange schon?

Die Kultur! Geht natürlich den Bach runter. Aber wie lange schon?1
E i n B l i c k z u r ü c k e n t s pa n n t d i e D i sk u s s io n ü b e r M e d i e n . S o l a n g e m a n s i c h n u r a u f d i e
j e w e i l s a k t ue l l e n M ed i e n k o n z e n t r ie r t , ko m m t n i c h t i n d e n B l i ck , w ie v o n n e u a u f k o m m e n d e n M e d i e n a l t e Fo r m at e u n d Ge st a l t u n g s m i tt e l ü b e r no m m e n u n d w e it e r e n t w i ck e l t w e r de n . D e r B l i c k z u r ü c k z e i g t a u c h , w i e e n g d i e Ve rä n d e r u n g v o n M e d i e n f o rm a t e n u n d m e d i a l e n G e st a l t u n g s m it te l n m i t t ec h n i s c h e n un d g e s e l l s c h a f t l i c he n
E n t w i c k l u n g e n z u s am m e n h ä n g t , u n d m a c h t d e u t l i c h , d a s s m e d i a le V e r ä n d e r u n g e n i n
k o m p l e xe g e se l l s c h a ft l i c h e V e r ä n de r u n g e n e i n g e b e t te t s i n d .
13. Juli 2004 - Um mehr Leser zu gewinnen und um das Anzeigengeschäft anzukurbeln, wird in den Sommerwochen die «New York Times» die Romane «Der grosse Gatsby» von F. Scott Fitzgerald, «Bittersüsse
Schokolade» von Laura Esquivel, «Frühstück bei Tiffany» von Truman Capote und James McBrides Memoiren «Die Farbe von Wasser» in Fortsetzungen drucken. Das kündigte ein Sprecher der US-Tageszeitung an.
Mit diesem Angebot der klassischen Sommerlektüre greift die «New York Times» auf eine bewährte Form
der Zeitungsgeschichte zurück. (nz)2
Cliffhanger
„Zu Hause angekommen bekommt die völlig aufgelöste
Katrin Besuch von ihrer ältesten Tochter Jasmin und
bricht in ihren Armen in Tränen aus. Wie geht es jetzt mit
Katrin weiter?“ Die Folge 5399 von GZSZ endet mit einem offenen Schluß, wie alle Folgen davor und wie alle
noch kommenden Episoden. Serienformate im Fernsehen arbeiten mit diesen auch als „Cliffhanger“ bezeichneten Stilmittel, um die Spannung der Zuschauer auf die
nächste Folge zu wecken. Die Fernsehserien, die sich
dieses Stilmittels bedienen, knüpfen an Formen an, die
für Fortsetzungsromane entwickelt wurden. Die Veröffentlichung von Fortsetzungsromanen in eigenständigen
Heftreihen, in Magazinen oder in Zeitungen lässt sich bis
ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen. Einen Höhenpunkt
erreicht diese Publikationsform im 19. Jahrhunderts.
Die Herkunft des Begriffs „Cliffhanger“ verweist auf diese Tradition. Der Begriff soll auf die Folge eines 1873
erschienenen Fortsetzungsromans zurückgehen, die damit endet, dass sich der Held über einem Abgrund
schwebend nur noch an einem Büschel Gras festhalten kann.3
Cliffhanger als Merkmal trivialer Unterhaltungsformate?
Die seriellen Formate mit kurzen Spannungsbögen und Cliffhangern begünstigen tendenziell Unterhaltungsund Trivialliteratur. Nicht erst die Vorabendserien im heutigen Fernsehen haben Kritiker auf den Plan geru-
1
Ironisch formulierte Überschrift eines Artikels zur Ausstellung „Wege in die Moderne“ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg in: DIE ZEIT 10. April 2014, S. 16
2
New York Times druckt Klassiker – Netzzeitung vom 13. Juli 2004 http://www.netzeitung.de/buecher/buechernews/295565.html
3
Cliffhanger - http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Cliffhanger&oldid=125446278 (Abgerufen: 12. Januar 2014,
17:03 UTC)
Stand: 08.05.2014
Wolf-Rüdiger Wagner
1
fen. Die Anpassung der Romane in Aufbau und Inhalt an diese Publikationsform wurde schon im 19. Jahrhundert zum Teil heftig kritisiert.
„[…] nicht in der Leihbibliothek liegt für die litterarisch Schaffenden eine Gefahr, sondern in jenen künstlich von Fortsetzung zu Fortsetzung hingestreckten und gelesenen Journal- und nehr noch Zeitungsromanen voll exotischer Spannung und unlogischer Entwicklung oder andererseits übernichtigem Gehalte.“ (Igar 1886)4
Wilhelm Dilthey, ein Philosph mit großen Einfluß auf die Literaturwissenschaften, verweist in einem Aufsatz
über Charles Dickens ebenfalls auf den Einfluß, den die Veröffentlichung in Fortsetzungen auf die „innere
Form“ eines Romans hat, bewertet aber die handwerkliche Leistung und das Ergebnis durchaus positiv.
„Die Gewohnheit, in monatlichen Heften seine Romane zu schreiben, zusammen mit der Hast seiner
Production, war von großem Einfluß auf die innere Form seiner Werke. Ein jedes dieser Hefte forderte
eine Wirkung für sich, jedes mußte sich auf irgend eine Art des Publicums bemächtigen. Jedesmal sah er
sich vor der Aufgabe, concentrirte Wirkungen, humoristischer oder rührenden oder mächtiger Art, auf
sein Publicum hervorzurufen. So oft die Hauptpersonen auftraten, mußten ihre charakteristischen Züge
dem Publicum gewissermaßen ins Gedächtnis zurückgerufen werden. Zugleich aber fand er sich von dem
lebendigsten Antheil an dem Geschick seiner Personen umgeben, sie wurden ihm so zu sagen Realitäten,
wie sie im Publicum als solche galten, er sah ihre Schicksale unzählige Gemüther bewegen. Und er ward
davon angefeuert, wie ein Erzähler. Der sich von gespannten, horchenden Gesichtern umgeben sieht.“
(Dilthey 1877, S. 588)
Für das differenzierte Urteil Diltheys spricht, dass die Erstveröffentlichung einiger Meisterwerke der Weltliteratur als Fortsetzungsromane erfolgte, darunter etwa die Arbeiten von Gustave Flaubert, Fjodor Dostojewski und Lew Tolstoi. Auch die Erstveröffentlichung von Romanen Theodor Fontanes erfolgte in Zeitschriften wie der Deutschen Rundschau.
Dies legt den Schluss nahe, dass auch die Trivialität vieler Fernsehserien nicht dem Format als solchem
zwingend anzulasten ist, sondern dem System, unter dem diese Serien produziert werden. In einem Artikel
in der Süddeutschen Zeitung über die Qualität von Fernsehserien im deutschen Fernsehen ist von einem
„goldenen Zeitalter des Erzählens“ im amerikanischen, englischen und skandinavischen Fernsehen die Rede. Zur Situation in Deutschland wird ein Drehbuchautor mit der Aussage zitiert, dass hier von vornherein
alles auf Quotenerfolg ausgerichtet sei (Riehl 2004, S.3).
Ein Blick auf Charles Dickens -einen Meister des Fortsetzungsromans.
Dickens begann mit der Veröffentlichung der Romane
schon, wenn nur die ersten Folgen geschrieben waren.
Zum Teil musste Dickens aufgrund eingegangener vertraglicher Verpflichtungen an den Fortsetzungen mehrerer Romane gleichzeitig arbeiten. Dadurch, dass Dikkens während der Veröffentlichung an den noch geplanten Fortsetzungen weiter arbeitete, hatte er die
Möglichkeit, Reaktionen aus seinem Umfeld zu berücksichtigen. Damit nimmt Dickens die professionelle Berücksichtung der Zuschauerreaktionen für die Fortführung der Vorabendserien durch die Fernsehproduzenten ansatzweise vorweg. Für die Modernität seiner
4
Schack von Igar: Zeitungsromane, in: Der Leih-Bibliothekar Nr. 11, 15. Juni 1886, S. 172 -174 – zitiert nach: Martino,
Alberto; Jäger, Georg: Die deutsche Leihbibliothek: Geschichte einer literarischen Institution (1756 – 1914), Wiesbaden 1990, S. 602
Stand: 08.05.2014
Wolf-Rüdiger Wagner
2
Marketingsstrategie sprechen auch die Vortragstournees, die ihn bis in die Vereinigten Staaten führten.
Veränderungen auf den Zeitungsmarkt und die Entstehung des Fortsetzungsromans
Es waren keine innerliterarische Überlegungen, sondern Anforderungen des Marktes, auf die die Verleger
mit der Veröffentlichung von Romanen in einzelnen Folgen reagierten. Es ging einerseits darum, den Kreis
der Leser auszuweiten. Andererseits sollte die Leserschaft über einen längeren an eine Zeitschrift oder eine
Zeitung gebunden werden. (Während heute im Normafall ein Roman an einem Stück gelesen wird, erstreckte sich die Lektüre von Fortsetzungsromanen auf einen heute kaum noch vorstellbaren langen Zeitraum! Publikationsformen haben so auch Auswirkungen auf Rezeptionsstile.)
Die Vertriebsform in Einzelheften, üblich waren dabei Veröffentlichung bis zu 20 monatlichen Folgen, hatte
eine Reihe von Vorteilen. Da sich die Kosten für den Erwerb eines Romans auf ein oder sogar anderthalb
Jahre verteilten, wurde der Kauf des Romans für einen größeren Leserkreis erschwinglich. Die Leser hatten
zudem die Freiheit, sich nach einigen Folgen dafür zu entscheiden, den Roman nicht mehr weiter zu beziehen. Für die Verleger bot die Veröffentlichung eines Romans in der Abfolge einzelner Hefte außerdem mehr
Raum, um Anzeigen zu platzieren.
Ähnliche Gründe führten zur Veröffentlichung von Fortsetzungsromanen in Tageszeitungen. Die verbesserten Druckmöglichkeiten ermöglichten höhere Auflagen. Mehr Leser fand man aber nur, wenn der Preis der
Zeitung niedrig blieb. Daher begannen Zeitungen sich vermehrt durch Anzeigen zu finanzieren. Dieser neue
Typ von Zeitungen – vielfach mit dem Titelbestandteil Gernalanzeiger – legte Wert auf Überparteilichkeit
und Unabhängigkeit, um eine möglist große Leserschaft anzusprechen. Fortsetzungsromane sollten Leser
anlocken und an die Zeitung binden. Um die Honorarkosten für den einzelnen Verleger niedrig zu halten,
wählte man auch Vermarktungsformen, bei denen die Fortsetzungen eines Romans in mehreren nicht miteinander konkurrierenden Zeitungen zeitgleich erfolgte.
„Neben der Meinungspresse bildete sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die Generalanzeiger-Presse
heraus, politisch farblos, aber mit sorgfältiger Pflege des Lokalteils, um einen möglichst großen Abonnentenkreis anzuziehen und damit das Inserenten – überregionale und lokale Geschäftsanzeigen, Kleinanzeigen – zu gewinnen. Das Entstehen der Massenpresse wurde ausgelöst durch die Idee, die Zeitung
als wirtschaftliches Kuppelprodukt (der redaktionelle Teil fesselt die Leser, die Inserenten zahlen dafür,
ihre Anzeigen neben dem redaktionellen Teil unterbringen zu können, weil sie den Leserkreis als Käuferkreis anzusprechen suchen) konsequent zu nutzen. Das geschah durch radikale Senkung des Kauf- oder
Bezugpreises […].(Noelle-Neumann u.a. 1989, S. 301)
Die Veränderung des Zeitungsmarktes müsste wiederum eingeordnet werden in gesamtgesellschaftliche
Veränderungen, die zu einer höheren Mobilität und damit zu einer Ausweitung der potentiellen Leserschaft
von Zeitungen und Zeitschriften geführt haben.
Fortsetzungsroman - Fernsehserie -digitaler Serienroman
Über E-Book-Reader lässt sich das Leseverhalten genau analysieren. Gespeichert werden nicht nur Kommentare und Markierungen, sondern auch, wann man liest, wie lange man liest und welche Seiten man
liest. Durch die Auswertung dieser Daten wurde die Einschätzung bestätigt, dass die meisten Bücher nicht
zu Ende gelesen werden. Verlage mit E-Book-Angeboten experimentieren daher mit dem Angebot von digitalen Serienromanen. Im Wochen- oder Monatsrhythmus kann man sich die neuen Folgen eines Fortsetzungsromans hochladen. Da man jederzeit aus der Lektüre aussteigen kann, bezahlt man – im Gegensatz
zum Kauf eines gedruckten Buches – nur das, was man tatsächlich liest oder lesen will.
Stand: 08.05.2014
Wolf-Rüdiger Wagner
3
Eine Schlussbemerkung zur Intermedialität – Charles Dickens und die Montagetechnik
Anstatt von einer Verdrängungskonkurrenz zwischen Literatur und Fernsehen zu sprechen, wäre es z. B.
produktiver, der Hypothese nachzugehen, dass der Film und das Fernsehen in einigen Bereichen das Erbe
des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts angetreten haben.
Der russische Regisseur Eisenstein hat durch seine Filme und durch seine Schriften einen wesentlichen Beitrag zur künstlerischen und ästhetischen Entwicklung des Films geleistet. Folgt man seinen eigenen Aussagen, dann handelt es sich bei der filmischen Montagetechnik, um nichts absolut Neues, sondern um die
Übertragung von Erzähltechniken, wie sie sich z. B. bei Charles Dickens finden, auf ein neues Medium.
„Ich weiß nicht, ob es meinen Lesern ähnlich geht wie mir, der ich immer Befriedigung darin finde, mir
wieder und wieder ins Bewußtsein zu rufen, dass unsere Filmkust keineswegs ohne Geschichte und ohne
Verwandte, ohne Vergangenheit, ohne die Traditionen oder ohne das reiche Kulturgut früherer Epochen
entstanden ist. Nur sehr oberflächliche und überhebliche Menschen bringen es fertig, sowohl die Gesetzmäßigkeiten als auch die Ästhetik der Filmkunst unter der von vorherien verdächtigen Voraussetzung
zu entwickeln, diese Kunst sei aus einer Taube oder aus Wasser und Geist von selbst entstanden.“ (Eisenstein 1972, S. 102)
Dickens hat die von Eisenstein als als Vorwegnahme der filmische Montage beschriebene Erzähltechnik
sehr bewußt eingesetzt. Der plötzliche Szenenwechsel, also der rasche Wechsel von Zeit und Ort, sei nicht
nur schon lange üblich, sondern sei auch ein Zeichen der Erzählkunst des Autors, schreibt er in dem 1837
bis 1838 erschienen Fortsetzungsroman „Oliver Twist“.5
Literatur
Dilthey, Wilhelm: Charles Dickens und das Genie des erzählenden Dichters (Schluß), in: Westermanns Monatshefte
März 1877, S. 586 – 602
Eisenstein, Serge 1972: Dickens, Griffiths und wir, in: der. Gesammelte Aufsätze, Zürich 1972
Noelle-Neumann, Elisabeth; Schulz, Winfried; Wilke, Jürgen (Hrsg.):Publizistik – Massenkommunikation. Fischer Lexikon, Frankfurt am Main 1989
Riehl, Katharina 2014: Frauen vor Stusslandschaft, in: Süddeutsche Zeitung 18./19.1.2014, S. 3
Abb. Dickens
Umschlag einer Folge von Charles Dickens Fortsetzungsromans "Pickwick Club" (1836) –
http://en.wikipedia.org/wiki/The_Pickwick_Papers
Dickens als Vortragsreisender in den USA aus: London Illustrated News 1858
5
„As sudden shiftings of the scene, and rapid changes of time and place, are not only sanctioned in books by long
usage, but are by many considered as the great art of authorship, - an author’s skill in his craft being by such critics
chiefly estimated with relation to the dilemmas in which he leaves his characters at the end of almost every chapter
[…].” Nach Charles Dickens: Oliver Twist, Penguin Books 2007, S. 152 – Einstieg ins 17- Kapitel –1837/38) erstmals
veröffentlicht
Stand: 08.05.2014
Wolf-Rüdiger Wagner
4