FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG Geisteswissenschaften M I T T WO C H , 2 8 . JU L I 2 0 1 0 · N R . 1 7 2 · S E I T E N 3 Billiges Geld Was Ethnolinguisten unterscheidet Als Alexander von Humboldt in Mittelamerika reiste, wurde ihm ein Papagei gezeigt: Nur der Vogel kannte noch Worte aus der Sprache eines vernichteten Stammes. er Name „Nintendo“ steht normalerweise für Videospiele. Aber neuerdings dienen die handlichen Konsolen auch der Sprachenrettung. Die Nez Percé, ein Indianervolk im Nordwesten der Vereinigten Staaten, setzen die Geräte ein, um ihre Kinder spielerisch an die Stammessprache Nimipuuntit heranzuführen. Es wird hohe Zeit, denn nur noch vierzig Indianer verfügen über Kenntnisse in dieser Sprache. Dies ist nur eine von vielen Aktivitäten, um vom Untergang bedrohte Sprachen zu retten oder wenigstens zu dokumentieren. Organisationen wie die deutsche „Gesellschaft für bedrohte Sprachen“ oder der amerikanische „Endangered Language Fund“ schlagen Alarm: Von den heute knapp 7000 Sprachen werden nach Schätzungen der Unesco gegen Ende dieses Jahrhunderts mehr als 3000 verschwunden sein, andere Prognosen sind noch wesentlich pessimistischer. Während die eine Hälfte der Weltbevölkerung sich auf nur 19 Muttersprachen verteilt – Deutsch als zehntgrößte Sprache gehört dazu –, sprechen die anderen 3,5 Milliarden die vielen tausend sonstigen Sprachen. Etliche dieser Sprachgemeinschaften zählen nur wenige hundert Mitglieder. Wenn die letzten Sprecher gestorben sind, gehen diese meistens schriftlosen Idiome – anders als die „toten Sprachen“ der klassischen Antike – spurlos unter. Ihre Erhaltung stärkt nicht nur die kulturelle Identität der Sprachgemeinschaften. Die sprachliche Vielfalt spiegelt auch den großen Reichtum der kommunikativen und kognitiven Möglichkeiten des Menschen. Stephen Levinson, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nimwegen und sein australischer Kollege Nicholas Evans sehen in dieser Diversität ein gigantisches Labor der Varianz, in dem jede der 7000 Sprachen ein Kommunikations-Experiment unter Realbedingungen darstellt, das oft unerwartete Ergebnisse hervorbringt (Nicholas Evans and Stephen C. Levinson, „The myth of language universals: Language diversity and its importance for cognitive science“ (with commentary) in: Behavioral and Brain Sciences, Heft 32, 2009, und Nicholas Evans: „Dying Words. Endangered Languages and what they have to tell us“, Wiley-Blackwell 2010). Dazu gehören kunstvolle Gebilde wie zum Beispiel das in Botswana gesprochene Taa mit über hundert bedeutungsunterscheidenden Konsonanten, fünfmal so viele wie im Deutschen. Oder das australische Dalabon: Seine Regeln verlangen, erst einmal die Hierarchieund Verwandtschaftsverhältnise der Personen, über die man reden will, in ein kompliziertes System von Präfixen zu übersetzen, die dann dem Verb vorgeschaltet werden. Zu ungewöhnlicher Präzision zwingt auch die „Evidenz-Grammatik“ mancher Indianersprachen: Bei jeder Aussage muss man eine Sprachform wählen, die signalisiert, ob man etwas selbst gesehen hat, ob man davon hörte oder ob man es einfach nur annimmt. In der Datenbank des Max-Planck-Instituts wird eine wachsende Zahl bedrohter Sprachen archiviert, wissenschaftlich beschrieben und per Internet zugänglich gemacht (www.mpi.nl/DOBES). D Vielfalt vor den Großreichen Niemand weiß, ob der globale SprachenPool nicht noch ganz andere Überraschungen bereithält. Nur etwa ein Zehntel der bekannten Sprachen sind bislang hinreichend erforscht. Wahrscheinlich liefern die heutigen 7000 Sprachen nur einen Abglanz einstiger Vielfalt. Denn die Antriebskräfte der sprachlichen Auseinanderentwicklung – geographische Isolation und der Wunsch, sich von anderen Gruppen abzugrenzen – dürfte die Geschichte der menschlichen Kommunikation schon von der hypothetischen Ursprache an begleitet haben. Stephen Levinson, der das Alter menschlicher Sprachfähigkeit auf 400 000 Jahre schätzt, nimmt an, dass über den gesamten Zeitraum hinweg nicht weniger als 500 000 Sprachen entstanden und wieder verschwanden. Die enorme Zahl wird plausibel, wenn man für die vorgeschichtlichen Epochen Sprachgemeinschaften von nur 500 bis 900 Menschen annimmt. Papua-Neuguinea vermittelt noch heute eine Vorstellung davon, wie die damalige Sprachlandschaft ausgesehen haben könnte: In diesem Gebiet mit 3,6 Millionen Einwohnern gibt es nicht weniger als 850 oft nicht verwandte Sprachen. Erst zentralisierte Großreiche wie Ägypten oder Rom machten einzelne Sprachen zu Massenmedien. Ethnolinguisten sind Feldforscher aus Überzeugung. Sie verbringen viel Zeit in abgelegenen Dörfern, teilen die oft we- Spekulation nig komfortablen Lebensbedingungen der Bewohner und investieren große Mühe in die akribische Analyse von Lautsystemen, grammatischen Regeln, kommunikativen Gepflogenheiten und kulturellen Praktiken. Evans vergleicht die Erforschung einer Sprache mit der des menschlichen Genoms. Die Entdeckerfreude der Ethnolinguisten teilen allerdings nicht alle Sprachwissenschaftler. Starker Gegenwind bläst ihnen seit Jahren aus dem Lager der generativen Universalgrammatik entgegen, für die bis heute vor allem der Name Noam Chomsky steht. Für ihn und seine Schüler sind sprachliche Unterschiede nur periphere Erscheinungen: Ob Suaheli, Latein oder Plattdeutsch – nach dieser Theorie folgen alle Sprachen derselben Logik einer geschichtslosen, neurobiologisch verankerten Universalgrammatik. Dieses „Sprachorgan“, auch „Sprachinstinkt“ genannt, soll es Kindern ermöglichen, aus dem Meer der Sätze, das sie tagtäglich umspült, die Regeln für ihre jeweilige Muttersprache abzuleiten, in die sie so, ohne die Mühsal des Lernens, hineinwachsen. Gegen die Rationalisten Zum Katalog der angenommenen Universalien gehören etwa die Existenz von Zahlwörtern, die Unterscheidung zwischen Substantiven und Verben, die Zerlegbarkeit von Sätzen in Satzglieder oder die „Rekursivität“, die syntaktische Verschachtelungen ermöglicht: zum Beispiel Satzstrukturen, die Satzstrukturen, die gleichartige Satzstrukturen, die wiederum gleichartige Satzstrukturen enthalten, enthalten, enthalten. Andere Universalien bilden eine Negativliste: So soll es etwa keine Sprache auf der Welt geben, in der das Tempus mit Hilfe der Substantive gebildet wird. Ihren ethnolinguistischen Gegnern werfen die Generativisten vor, sie würden eine „Wunderkammer“ – das deutsche Wort hat es ins Englische geschafft – voller Raritäten zur Schau stellen, statt unter die Oberfläche der Phänomene zu blicken, wo in der Tiefe das universalgrammatische Räderwerk arbeitet. Dass die Ethnolinguistik mit ihrer Liebe zur Vielfalt und der Engführung von Sprache, Geschichte und Kultur an Herder und die Romantik anknüpft, ist nicht zu übersehen. Doch den Vorwurf des unwissenschaftlichen Exotismus lassen die linguistischen Artenschützer nicht gelten. Für nahezu alle „Universalien“ führen sie mittlerweile Gegenbeispiele an. Die Generativisten kontern mit dem Versuch, auch diese Befunde mit Hilfe hochabstrakter Formalismen ihrer Universalgrammatik irgendwie einzupassen. Der Preis dafür ist, dass sie zu einem formallogischen Glasperlenspiel wird, dessen empirischer Gehalt sich verflüchtigt hat. Das gilt auch für die naturwissenschaftlichen Aspekte: Niemand weiß, was genau sich hinter dem postulierten „Sprachinstinkt“ biologisch verbergen soll. Dass die Evolution ein hochspezialisiertes „Grammatik-Organ“ hervorgebracht hat, ist höchst unwahrscheinlich. Viel eher dürfte die menschliche Sprachfähigkeiten auf allgemeineren kognitiven Kapazitäten aufbauen. Auch die These, der Spracherwerb laufe als automatischer Reifungsprozess ab, ist ins Wanken geraten. Imitation, Lernen und Sozialisation scheinen eine bedeutend größere Rolle zu spielen als von den Generativisten zugestanden. Im Gegensatz zum abstrakten und antihistorischen Rationalismus der Universalisten betonen die Freunde der Differenz den sozialen und evolutionären Charakter der Sprachen. Gerade in ihrer Wandelbarkeit und großen Unterschiedlichkeit sehen sie das Merkmal, das menschliche Sprachen von den Kommunikationsformen aller anderen Gattungen unterscheidet. Dabei bestreiten sie nicht, dass viele Sprachen neben gravierenden Unterschieden auch strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber die beruhen nicht auf einheitlichen „Grammatik-Schaltungen“ im Gehirn, sondern auf gleichen Artikulationsorganen, einer gemeinsamen kognitiven Grundausstattung und nicht zuletzt auf ähnlichen kommunikativen Anforderungen. Der dadurch gesetzte Rahmen, in dem Sprachen sich entwickeln können, ist weit gespannt. Er lässt Übereinstimmungen ebenso zu wie die erstaunlichsten Sonderwege. WOLFGANG KRISCHKE Georg Forster (rechts) nahm mit seinem Vater an Cooks Weltumsegelung teil. Der Weg von der Aufklärung zur Französischen Revolution, der in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ vierzig Seiten misst, war der Lebensweg Georg Forsters. Foto Ullstein Als die Aufklärung fundamental wurde Das klandestine Schrifttum im achtzehnten Jahrhundert wollte mehr als Liberalität Für jemanden, der sich Jahr um Jahr an Texten abgearbeitet hat, deren Urheber der historische Jargon vornehm als „Minores“ bezeichnet, liegt irgendwann die Versuchung nahe, nicht mehr nur unerschlossene Diskursfelder zu beackern, sondern sozusagen zur Flurbereinigung zu schreiten. Ein Beispiel hierfür mag die Aufklärungsforschung liefern. Sie zeichnet sich international durch rege Betriebsamkeit aus und hat in den letzten drei Jahrzehnten von einigen historiographischen Neuansätzen profitiert. Vor allem die materiale Basis hat sich mit der Erschließung der sogenannten Clandestina, also von ungedruckten Texten mit oftmals beißender Kritik an den Dogmen der katholischen Kirche, die in nur wenigen Abschriften von Hand zu Hand weitergereicht wurden, wesentlich verbreitert. Am Gesamtbild der Epoche hat das allerdings bislang nichts Grundlegendes geändert: Unter „Aufklärung“ verstehen wir das Zeitalter der sich emanzipierenden Vernunft, der wir spätestens seit Horkheimer und Adorno aber nicht mehr ohne Skepsis gegenüberstehen. Nun hat der in Princeton lehrende Historiker Jonathan Israel eine große dreibändige Gesamtdarstellung der Aufklärung in Angriff genommen, in der er nicht nur gegen die moderne und vor allem seiner Wahrnehmung nach postmoderne Aufklärungsskepsis angeht, sondern vor allem die kulturelle und politische Bedeutung des aufklärerischen Denkens für unsere Gegenwart in den Vordergrund stellen will. Die ersten beiden, jeweils fast tausend Seiten starken Bände sind vor einigen Jahren erschienen und haben zumal im angelsächsischen Bereich ausführliche Strittige Medizingeschichte Sewering im Nationalsozialismus „Stets an der Sache orientiert, hat er sich um den Erhalt eines freiheitlichen Gesundheitswesens und um die Wahrung ethischer Normen ärztlichen Handelns verdient gemacht.“ So endet in der jüngsten Ausgabe des „Deutschen Ärzteblatts“ der Nachruf auf einen Mann, der Mitglied der SS war und Menschen der NS-Euthanasie auslieferte. Unterzeichner des Nachrufs sind Karsten Vilmar und Jörg-Dietrich Hoppe, früherer und derzeitiger Präsident der Bundesärztekammer. Von der Vergangenheit ihres Vorgängers Hans Joachim Sewering, Präsident von 1973 bis 1978, der am 18. Juni im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben war, ist in dem Nachruf nicht die Rede. Diese ist seit 1997 durch Forschungen von Michael Kater belegt. Sewering war Mitglied der SS seit 1933 und der NSDAP seit 1934. Seit 1942 Assistenzarzt des Tuberkulosekrankenhauses in Schönbrunn bei Dachau, betreute er die verbliebenen Pfleglinge der „Associationsanstalt“ der Franziskanerinnen, in deren Gebäuden das Tuberkulosekrankenhaus eingerichtet worden war. Mindestens neunmal wies Sewering von Juni 1943 bis Februar 1945 Menschen in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar ein. Dass ein solcher Schritt einem Todesurteil nahekam, war in Fachkreisen damals bekannt. Tatsächlich fanden fünf der Eingewiesenen in EglfingHaar den Tod. Sewerings Handeln wurde kritische Würdigungen erfahren („Radical Enlightenment“, 2001, und „Enlightenment Contested“, 2006). Der dritte, abschließende Band, der die Aufklärung auf ihren Kulminationspunkt in der Französischen Revolution zuführen soll, ist in Vorbereitung. In einer schmaleren Schrift mit dem Titel „A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual Origins of Modern Democracy“ (Princeton University Press 2010) zieht Israel eine Art Zwischenbilanz und fasst seine Neudeutung der Aufklärung, die er in den umfangreicheren Vorarbeiten im historischen Detail entwickelt, in Thesenform zusammen. Dabei verfolgt er ein recht ambitioniertes Programm: In historischer Perspektive zeichnet er ein völlig neues Bild der Epoche, in dem der bislang weniger beachtete Einfluss der radikalen Frühaufklärung ins Zentrum rückt. Damit geht eine Neudefinition des Begriffs von Aufklärung in offensichtlich ideenpolitischer Absicht einher. Die Grundoperation, die Israel vornimmt, ist relativ einfach: Was wir bislang gewohnt sind, als „Aufklärung“ zu bezeichnen, nämlich das Denken von Philosophen wie John Locke, David Hume oder Voltaire, subsumiert er unter dem Oberbegriff der „moderaten Aufklärung“. Das sind, grob gesagt, all jene, die Israels anspruchsvollem Kriterienkatalog für die wahre, und das ist eben die radikale Aufklärung, nicht Genüge leisten können. In der Tat nimmt Israel diesen Katalog bitter ernst: Voltaire beispielsweise besteht die Prüfung zum wahrhaften Aufklärer nicht – auch wenn sein Eintreten für religiöse Toleranz aller Ehren wert sei, so disqualifiziere ihn doch sein Festhalten an einem deistischen Gottesbild. Anfang der neunziger Jahre bekannt, als er Präsident des Weltärztebundes werden sollte, aber nach internationalen Protesten verzichtete. Karsten Vilmar stand seit jeher der Erforschung der NS-Medizingeschichte skeptisch gegenüber, wie ein 1987 unter der Überschrift „Die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ darf nicht kollektiv die Ärzte diffamieren“ im „Ärzteblatt“ publiziertes Interview bezeugt. Hoppes Unterschrift unter dem Nachruf aber überrascht. Er hatte 2006 gemeinsam mit dem Bundesgesundheitsministerium und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung einen Forschungspreis zur Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus aus der Taufe gehoben. Gegen den Rückschritt in der historischen Selbstorientierung der Medizin haben jetzt mehr als dreißig medizingeschichtlich forschende Wissenschaftler in einem offenen Brief RALF FORSBACH protestiert. Demgegenüber begegnen wir in den radikalen Aufklärern den wahren Helden der Geschichte. Hierzu zählen jene bereits erwähnten Verfasser klandestiner Schriften, die eine in unterschiedlicher Weise rationalistisch oder materialistisch inspirierte Religionskritik üben und von Israel wahllos als Anhänger Spinozas deklariert werden. Nun waren schon die Zeitgenossen im frühen achtzehnten Jahrhundert mit dem Vorwurf des „Spinozismus“ recht schnell zur Hand, doch Israel interessiert sich nicht für Fragen der historischen Genauigkeit, wo es ihm einzig um Prinzipien geht. Als solche identifiziert er jene Ideen, die er als die grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Werte unserer Gegenwart benennt und gleich auf der ersten Seite seines Buches verkündet: Demokratie, Gleichheit der Rassen und der Geschlechter, Freiheit in der Gestaltung des individuellen Lebens, vollständige Gedanken- und Pressefreiheit sowie absolute Trennung von Staat und Kirche. Dass wohl kaum ein Protagonist namhaft zu machen wäre, bei dem die genannten Ideen entweder in dieser Vollständigkeit vorkommen oder unseren gegenwärtigen Vorstellungen, beispielsweise von individueller Lebensführung, auch nur annähernd entsprechen würden, macht nur umso deutlicher, wie willkürlich Israel sie festlegt. Die radikale Aufklärung, dies die historische Pointe, liefert ihm schließlich auch die Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Französischen Revolution. Nicht, dass es darüber seit Tocquevilles Klassiker „Der Alte Staat und die Revolution“ nicht eine unabsehbare Menge an Forschungen gegeben hätte: Israel ignoriert sie souverän, um mit naiver Entdeckerfreude zum ältesten Verdacht zurückzukehren, den schon die Gegenrevolution öffentlichkeitswirksam in die Welt gesetzt hatte, dass nämlich der revolutionäre Umsturz eine Folge des im Ancien Régime erfolglos unterdrückten Freidenkertums, eben der radikalen Aufklärung sei. Wir ahnen also, worauf der dritte Band seiner Aufklärungs-Trilogie hinauslaufen wird, nämlich auf die Apotheose radikalaufklärerischen Denkens in der Französischen Revolution. Spannend bleibt allein die Frage, worin Israel seine Geschichte des philosophischen Radikalismus münden lässt. Sicher lässt sich schon jetzt voraussagen, dass es nicht der revolutionäre Terror der Jakobiner sein wird. Robespierre nämlich, auch wenn er die Schlagworte von Gleichheit, Gerechtigkeit und Vernunft im Mund geführt haben mag, wird eindeutig als rousseauistisch verirrter Gegenaufklärer dingfest gemacht. So muss Jonathan Israel schließlich der radikalen Aufklärung an der Stelle Grenzen setzen, wo es darum ginge, ihre mögliche Radikalisierung zu Ende zu denken. SONJA ASAL Geld stinkt nicht, entgegnete der römische Kaiser auf Kritik an seiner neuen Einnahmequelle. Das war ausgerechnet eine Toilettensteuer. Geldmachen gilt vielen als anrüchig. Intellektuelle rümpfen die Nase über Finanziers, Banker und Spekulanten. Dagegen betrachten die meisten Ökonomen die Möglichkeiten von Kapitalmärkten als wohlfahrtssteigernd. Die Kluft zwischen Geisteswissenschaft und Ökonomie zeigte sich auch bei dem Kolloquium „Geld – Kultur – Werte“ in der Villa Vigoni am Comer See, organisiert vom Wirtschaftsprofessor Joachim Starbatty, der wegen eines Armbruchs aber verhindert war, und dem Germanisten Jürgen Wertheimer (beide Universität Tübingen). Zwischen „Börse“ und „böse“ gebe es eine auffällige phonetische Ähnlichkeit, meinte der Literaturwissenschaftler Wertheimer. Die Finanzkrise resultiere nicht aus dem Missbrauch, sondern dem Gebrauch eines Systems, das auf Scheinwerten beruhe, die keine Deckung mehr haben. Alles sei Fiktion. Wertheimer skizzierte mit Rekurs auf Zola und Balzac eine Trias aus Börse, Bordell und Oper: die Ersatzarenen zur Befriedigung triebhafter Leidenschaften. Besonders geißelte er die Möglichkeit, auf fallende Kurse zu setzen und damit „am Unglück anderer Leute zu verdienen“. Völlig falsch, dachte sich mancher Ökonom. „Die Spekulanten sind der Sündenbock der Politik, die von ihrem eigenen Versagen ablenken will“, sagte Wolf Schäfer (Hamburg) und verwies auf die jüngste Griechenland-Krise. Diese resultiere aus Staatsversagen: einer kreditfinanzierten Aufblähung des Staatsapparates, verfehlter Sozialpolitik, Korruption und betrügerischer Haushaltskosmetik. „Der einzige Tadel an die Spekulanten wäre, dass sie erst so spät vor dem Debakel gewarnt und weitere Kredite verweigert haben.“ Wer Spekulation verbieten wolle, bekämpfe Symptome, nicht die Ursachen, meinte Schäfer. Zuletzt habe die Politik jene Banken und Spekulanten belohnt, die trotz hoher Risiken in hochrentierliche griechische Bonds investierten, weil sie auf einen „Bailout“ durch die EU vertrauten – also das Heraushauen auf Kosten der europäischen Steuerzahler. In welchen Händen ist Geld also besonders gefährlich, in denen des privaten Spekulanten oder denen des Staates? Viele liberale Ökonomen tendieren dazu, Interventionen des Staates als die eigentliche Gefahrenquelle zu sehen. Sie können auf historische Beispiele verweisen, in denen staatliche Eingriffe ins Geldwesen zu verheerenden Inflationen führten, die Wirtschaft und Gesellschaft erschütterten. Der Tübinger Althistoriker Frank Kolb erinnerte in der Villa Vigoni an die Finanzkrisen im Römischen Reich. Im dritten Jahrhundert suchten die Kaiser angesichts der politisch-militärischen Dauerkrise Zuflucht in Münzverschlechterung. Sie mischten den Silberdenaren immer mehr Kupfer bei, bis der Feingehalt auf etwa ein Prozent sank. In der Folge erodierte das Vertrauen in das Geld und den Staat. Noch krasser endeten die Papiergeld-Experimente in China, wie der junge Sinologe Alexander Jost ausführte. Schon in der Song-Zeit hatten Kaufleute Wechsel ausgegeben, die aber eine reale Deckung hatten, meist durch Edelmetall. Dann bemächtigte sich die Regierung in der Yuan-Zeit der Geldschöpfung. Marco Polo zeigte sich im dreizehnten Jahrhundert begeistert von der Papiergeldherstellung: Der Khan beherrsche die Kunst der Alchemie. Ein anderer Beobachter sprach gar von einem „magischen Allheilmittel“ zur Sanierung der Staatsfinanzen. Doch zuletzt nutzten die Kaiser die Druckmaschine so hemmungslos zur Finanzierung ihrer Kriege, dass der Geldwert drastisch sank, bis hin zur Hyperinflation. Da half es auch nichts, dass auf den lappigen Scheinen überall das Wort „bao“ (wertvoll) prangte. Geldschöpfung kann reale Wertschöpfung anregen, betonte der Ökonom Hans Christoph Binswanger (Sankt Gallen). In seinem hochgelobten Buch „Geld und Magie“ hat er schon vor zwei Jahrzehnten Goethes Faust auf raffinierte Weise wirtschaftswissenschaftlich interpretiert. Im zweiten Teil der Tragödie wird Faust unternehmerisch tätig, finanziert große Landgewinnungsarbeiten mit Papiergeld, bei dem Mephisto die Finger im Spiel hat. Zuletzt verschlingt die Flut das ganze Werk wieder. Als „Magier“ galt auch Alan Greenspan, der frühere Chef der amerikanischen Zentralbank Fed. Dass seine Politik des billigen Geldes die große Finanzkrise mit vorbereitet hat, ist unter Ökonomen weitgehend Konsens. In der Villa Vigoni erinnerte der Freiburger Ökonom Michael Wohlgemuth an frühe Äußerungen des jungen Greenspan, der in scharfen Worten eine Fed-Politik verdammte, die er später selbst betrieb. So unterschiedlich das Denken von Geisteswissenschaftlern und Ökonomen auch ist, so anregend sind gemeinsame Konferenzen. Der aus Zürich angereiste Hermann Lübbe äußerte die Hoffnung, dass die große Krise auch ein Gutes habe: Sie trage zu einer breiteren „Finanzaufklärung“ bei. PHILIP PLICKERT
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