Was Ethnolinguisten unterscheidet

FRANKFU RT ER A L LG EM E I NE Z E I TU NG
Geisteswissenschaften
M I T T WO C H , 2 8 . JU L I 2 0 1 0 · N R . 1 7 2 · S E I T E N 3
Billiges Geld
Was Ethnolinguisten
unterscheidet
Als Alexander von
Humboldt in
Mittelamerika reiste,
wurde ihm ein Papagei
gezeigt: Nur der Vogel
kannte noch Worte aus
der Sprache eines
vernichteten Stammes.
er Name „Nintendo“ steht normalerweise für Videospiele. Aber
neuerdings dienen die handlichen Konsolen auch der Sprachenrettung. Die Nez Percé, ein Indianervolk im
Nordwesten der Vereinigten Staaten, setzen die Geräte ein, um ihre Kinder spielerisch an die Stammessprache Nimipuuntit heranzuführen. Es wird hohe Zeit,
denn nur noch vierzig Indianer verfügen
über Kenntnisse in dieser Sprache. Dies
ist nur eine von vielen Aktivitäten, um
vom Untergang bedrohte Sprachen zu
retten oder wenigstens zu dokumentieren. Organisationen wie die deutsche
„Gesellschaft für bedrohte Sprachen“
oder der amerikanische „Endangered
Language Fund“ schlagen Alarm: Von
den heute knapp 7000 Sprachen werden
nach Schätzungen der Unesco gegen
Ende dieses Jahrhunderts mehr als 3000
verschwunden sein, andere Prognosen
sind noch wesentlich pessimistischer.
Während die eine Hälfte der Weltbevölkerung sich auf nur 19 Muttersprachen verteilt – Deutsch als zehntgrößte
Sprache gehört dazu –, sprechen die anderen 3,5 Milliarden die vielen tausend
sonstigen Sprachen. Etliche dieser
Sprachgemeinschaften zählen nur wenige hundert Mitglieder. Wenn die letzten
Sprecher gestorben sind, gehen diese
meistens schriftlosen Idiome – anders
als die „toten Sprachen“ der klassischen
Antike – spurlos unter.
Ihre Erhaltung stärkt nicht nur die kulturelle Identität der Sprachgemeinschaften. Die sprachliche Vielfalt spiegelt
auch den großen Reichtum der kommunikativen und kognitiven Möglichkeiten
des Menschen. Stephen Levinson, Direktor des Max-Planck-Instituts für Psycholinguistik in Nimwegen und sein australischer Kollege Nicholas Evans sehen in
dieser Diversität ein gigantisches Labor
der Varianz, in dem jede der 7000 Sprachen ein Kommunikations-Experiment
unter Realbedingungen darstellt, das oft
unerwartete Ergebnisse hervorbringt
(Nicholas Evans and Stephen C. Levinson, „The myth of language universals:
Language diversity and its importance
for cognitive science“ (with commentary) in: Behavioral and Brain Sciences,
Heft 32, 2009, und Nicholas Evans: „Dying Words. Endangered Languages and
what they have to tell us“, Wiley-Blackwell 2010). Dazu gehören kunstvolle Gebilde wie zum Beispiel das in Botswana
gesprochene Taa mit über hundert bedeutungsunterscheidenden Konsonanten,
fünfmal so viele wie im Deutschen. Oder
das australische Dalabon: Seine Regeln
verlangen, erst einmal die Hierarchieund Verwandtschaftsverhältnise der Personen, über die man reden will, in ein
kompliziertes System von Präfixen zu
übersetzen, die dann dem Verb vorgeschaltet werden.
Zu ungewöhnlicher Präzision zwingt
auch die „Evidenz-Grammatik“ mancher Indianersprachen: Bei jeder Aussage muss man eine Sprachform wählen,
die signalisiert, ob man etwas selbst gesehen hat, ob man davon hörte oder ob
man es einfach nur annimmt. In der Datenbank des Max-Planck-Instituts wird
eine wachsende Zahl bedrohter Sprachen archiviert, wissenschaftlich beschrieben und per Internet zugänglich gemacht (www.mpi.nl/DOBES).
D
Vielfalt vor den Großreichen
Niemand weiß, ob der globale SprachenPool nicht noch ganz andere Überraschungen bereithält. Nur etwa ein Zehntel der bekannten Sprachen sind bislang
hinreichend erforscht. Wahrscheinlich
liefern die heutigen 7000 Sprachen nur
einen Abglanz einstiger Vielfalt. Denn
die Antriebskräfte der sprachlichen Auseinanderentwicklung – geographische
Isolation und der Wunsch, sich von anderen Gruppen abzugrenzen – dürfte die
Geschichte der menschlichen Kommunikation schon von der hypothetischen Ursprache an begleitet haben. Stephen Levinson, der das Alter menschlicher
Sprachfähigkeit auf 400 000 Jahre
schätzt, nimmt an, dass über den gesamten Zeitraum hinweg nicht weniger als
500 000 Sprachen entstanden und wieder verschwanden. Die enorme Zahl
wird plausibel, wenn man für die vorgeschichtlichen Epochen Sprachgemeinschaften von nur 500 bis 900 Menschen
annimmt. Papua-Neuguinea vermittelt
noch heute eine Vorstellung davon, wie
die damalige Sprachlandschaft ausgesehen haben könnte: In diesem Gebiet mit
3,6 Millionen Einwohnern gibt es nicht
weniger als 850 oft nicht verwandte Sprachen. Erst zentralisierte Großreiche wie
Ägypten oder Rom machten einzelne
Sprachen zu Massenmedien.
Ethnolinguisten sind Feldforscher aus
Überzeugung. Sie verbringen viel Zeit in
abgelegenen Dörfern, teilen die oft we-
Spekulation
nig komfortablen Lebensbedingungen
der Bewohner und investieren große
Mühe in die akribische Analyse von Lautsystemen, grammatischen Regeln, kommunikativen Gepflogenheiten und kulturellen Praktiken. Evans vergleicht die Erforschung einer Sprache mit der des
menschlichen Genoms. Die Entdeckerfreude der Ethnolinguisten teilen allerdings nicht alle Sprachwissenschaftler.
Starker Gegenwind bläst ihnen seit Jahren aus dem Lager der generativen Universalgrammatik entgegen, für die bis
heute vor allem der Name Noam Chomsky steht. Für ihn und seine Schüler sind
sprachliche Unterschiede nur periphere
Erscheinungen: Ob Suaheli, Latein oder
Plattdeutsch – nach dieser Theorie folgen alle Sprachen derselben Logik einer
geschichtslosen, neurobiologisch verankerten Universalgrammatik. Dieses
„Sprachorgan“, auch „Sprachinstinkt“ genannt, soll es Kindern ermöglichen, aus
dem Meer der Sätze, das sie tagtäglich
umspült, die Regeln für ihre jeweilige
Muttersprache abzuleiten, in die sie so,
ohne die Mühsal des Lernens, hineinwachsen.
Gegen die Rationalisten
Zum Katalog der angenommenen Universalien gehören etwa die Existenz von
Zahlwörtern, die Unterscheidung zwischen Substantiven und Verben, die Zerlegbarkeit von Sätzen in Satzglieder
oder die „Rekursivität“, die syntaktische
Verschachtelungen ermöglicht: zum Beispiel Satzstrukturen, die Satzstrukturen,
die gleichartige Satzstrukturen, die wiederum gleichartige Satzstrukturen enthalten, enthalten, enthalten. Andere
Universalien bilden eine Negativliste:
So soll es etwa keine Sprache auf der
Welt geben, in der das Tempus mit Hilfe
der Substantive gebildet wird. Ihren ethnolinguistischen Gegnern werfen die
Generativisten vor, sie würden eine
„Wunderkammer“ – das deutsche Wort
hat es ins Englische geschafft – voller
Raritäten zur Schau stellen, statt unter
die Oberfläche der Phänomene zu blicken, wo in der Tiefe das universalgrammatische Räderwerk arbeitet.
Dass die Ethnolinguistik mit ihrer Liebe zur Vielfalt und der Engführung von
Sprache, Geschichte und Kultur an Herder und die Romantik anknüpft, ist nicht
zu übersehen. Doch den Vorwurf des unwissenschaftlichen Exotismus lassen die
linguistischen Artenschützer nicht gelten. Für nahezu alle „Universalien“ führen sie mittlerweile Gegenbeispiele an.
Die Generativisten kontern mit dem Versuch, auch diese Befunde mit Hilfe hochabstrakter Formalismen ihrer Universalgrammatik irgendwie einzupassen. Der
Preis dafür ist, dass sie zu einem formallogischen Glasperlenspiel wird, dessen
empirischer Gehalt sich verflüchtigt hat.
Das gilt auch für die naturwissenschaftlichen Aspekte: Niemand weiß, was genau
sich hinter dem postulierten „Sprachinstinkt“ biologisch verbergen soll. Dass
die Evolution ein hochspezialisiertes „Grammatik-Organ“ hervorgebracht
hat, ist höchst unwahrscheinlich. Viel
eher dürfte die menschliche Sprachfähigkeiten auf allgemeineren kognitiven Kapazitäten aufbauen. Auch die These, der
Spracherwerb laufe als automatischer
Reifungsprozess ab, ist ins Wanken geraten. Imitation, Lernen und Sozialisation
scheinen eine bedeutend größere Rolle
zu spielen als von den Generativisten zugestanden.
Im Gegensatz zum abstrakten und
antihistorischen Rationalismus der Universalisten betonen die Freunde der Differenz den sozialen und evolutionären
Charakter der Sprachen. Gerade in ihrer
Wandelbarkeit und großen Unterschiedlichkeit sehen sie das Merkmal, das
menschliche Sprachen von den Kommunikationsformen aller anderen Gattungen unterscheidet. Dabei bestreiten sie
nicht, dass viele Sprachen neben gravierenden Unterschieden auch strukturelle
Gemeinsamkeiten aufweisen. Aber die
beruhen nicht auf einheitlichen „Grammatik-Schaltungen“ im Gehirn, sondern
auf gleichen Artikulationsorganen, einer
gemeinsamen kognitiven Grundausstattung und nicht zuletzt auf ähnlichen kommunikativen Anforderungen. Der dadurch gesetzte Rahmen, in dem Sprachen sich entwickeln können, ist weit gespannt. Er lässt Übereinstimmungen
ebenso zu wie die erstaunlichsten Sonderwege.
WOLFGANG KRISCHKE
Georg Forster (rechts) nahm mit seinem Vater an Cooks Weltumsegelung teil. Der Weg von der Aufklärung zur Französischen
Revolution, der in Hegels „Phänomenologie des Geistes“ vierzig Seiten misst, war der Lebensweg Georg Forsters.
Foto Ullstein
Als die Aufklärung fundamental wurde
Das klandestine Schrifttum im achtzehnten Jahrhundert wollte mehr als Liberalität
Für jemanden, der sich Jahr um Jahr an
Texten abgearbeitet hat, deren Urheber
der historische Jargon vornehm als „Minores“ bezeichnet, liegt irgendwann die Versuchung nahe, nicht mehr nur unerschlossene Diskursfelder zu beackern, sondern
sozusagen zur Flurbereinigung zu schreiten. Ein Beispiel hierfür mag die Aufklärungsforschung liefern. Sie zeichnet sich
international durch rege Betriebsamkeit
aus und hat in den letzten drei Jahrzehnten von einigen historiographischen Neuansätzen profitiert.
Vor allem die materiale Basis hat sich
mit der Erschließung der sogenannten
Clandestina, also von ungedruckten Texten mit oftmals beißender Kritik an den
Dogmen der katholischen Kirche, die in
nur wenigen Abschriften von Hand zu
Hand weitergereicht wurden, wesentlich
verbreitert. Am Gesamtbild der Epoche
hat das allerdings bislang nichts Grundlegendes geändert: Unter „Aufklärung“ verstehen wir das Zeitalter der sich emanzipierenden Vernunft, der wir spätestens
seit Horkheimer und Adorno aber nicht
mehr ohne Skepsis gegenüberstehen.
Nun hat der in Princeton lehrende Historiker Jonathan Israel eine große dreibändige Gesamtdarstellung der Aufklärung in
Angriff genommen, in der er nicht nur gegen die moderne und vor allem seiner
Wahrnehmung nach postmoderne Aufklärungsskepsis angeht, sondern vor allem
die kulturelle und politische Bedeutung
des aufklärerischen Denkens für unsere
Gegenwart in den Vordergrund stellen
will. Die ersten beiden, jeweils fast tausend Seiten starken Bände sind vor einigen Jahren erschienen und haben zumal
im angelsächsischen Bereich ausführliche
Strittige Medizingeschichte
Sewering im Nationalsozialismus
„Stets an der Sache orientiert, hat er sich
um den Erhalt eines freiheitlichen Gesundheitswesens und um die Wahrung
ethischer Normen ärztlichen Handelns
verdient gemacht.“ So endet in der jüngsten Ausgabe des „Deutschen Ärzteblatts“
der Nachruf auf einen Mann, der Mitglied
der SS war und Menschen der NS-Euthanasie auslieferte. Unterzeichner des Nachrufs sind Karsten Vilmar und Jörg-Dietrich Hoppe, früherer und derzeitiger Präsident der Bundesärztekammer.
Von der Vergangenheit ihres Vorgängers Hans Joachim Sewering, Präsident
von 1973 bis 1978, der am 18. Juni im Alter von vierundneunzig Jahren gestorben
war, ist in dem Nachruf nicht die Rede.
Diese ist seit 1997 durch Forschungen von
Michael Kater belegt. Sewering war Mitglied der SS seit 1933 und der NSDAP seit
1934. Seit 1942 Assistenzarzt des Tuberkulosekrankenhauses in Schönbrunn bei
Dachau, betreute er die verbliebenen
Pfleglinge der „Associationsanstalt“ der
Franziskanerinnen, in deren Gebäuden
das Tuberkulosekrankenhaus eingerichtet
worden war. Mindestens neunmal wies Sewering von Juni 1943 bis Februar 1945
Menschen in die Heil- und Pflegeanstalt
Eglfing-Haar ein. Dass ein solcher Schritt
einem Todesurteil nahekam, war in Fachkreisen damals bekannt. Tatsächlich fanden fünf der Eingewiesenen in EglfingHaar den Tod. Sewerings Handeln wurde
kritische Würdigungen erfahren („Radical
Enlightenment“, 2001, und „Enlightenment Contested“, 2006). Der dritte, abschließende Band, der die Aufklärung auf
ihren Kulminationspunkt in der Französischen Revolution zuführen soll, ist in Vorbereitung. In einer schmaleren Schrift mit
dem Titel „A Revolution of the Mind. Radical Enlightenment and the Intellectual
Origins of Modern Democracy“ (Princeton University Press 2010) zieht Israel
eine Art Zwischenbilanz und fasst seine
Neudeutung der Aufklärung, die er in den
umfangreicheren Vorarbeiten im historischen Detail entwickelt, in Thesenform zusammen.
Dabei verfolgt er ein recht ambitioniertes Programm: In historischer Perspektive
zeichnet er ein völlig neues Bild der Epoche, in dem der bislang weniger beachtete
Einfluss der radikalen Frühaufklärung ins
Zentrum rückt. Damit geht eine Neudefinition des Begriffs von Aufklärung in offensichtlich ideenpolitischer Absicht einher.
Die Grundoperation, die Israel vornimmt,
ist relativ einfach: Was wir bislang gewohnt sind, als „Aufklärung“ zu bezeichnen, nämlich das Denken von Philosophen wie John Locke, David Hume oder
Voltaire, subsumiert er unter dem Oberbegriff der „moderaten Aufklärung“. Das
sind, grob gesagt, all jene, die Israels anspruchsvollem Kriterienkatalog für die
wahre, und das ist eben die radikale Aufklärung, nicht Genüge leisten können. In
der Tat nimmt Israel diesen Katalog bitter
ernst: Voltaire beispielsweise besteht die
Prüfung zum wahrhaften Aufklärer nicht
– auch wenn sein Eintreten für religiöse
Toleranz aller Ehren wert sei, so disqualifiziere ihn doch sein Festhalten an einem
deistischen Gottesbild.
Anfang der neunziger Jahre bekannt, als
er Präsident des Weltärztebundes werden
sollte, aber nach internationalen Protesten verzichtete.
Karsten Vilmar stand seit jeher der Erforschung der NS-Medizingeschichte
skeptisch gegenüber, wie ein 1987 unter
der Überschrift „Die ‚Vergangenheitsbewältigung‘ darf nicht kollektiv die Ärzte
diffamieren“ im „Ärzteblatt“ publiziertes Interview bezeugt. Hoppes Unterschrift unter dem Nachruf aber überrascht. Er hatte 2006 gemeinsam mit
dem Bundesgesundheitsministerium und
der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
einen Forschungspreis zur Rolle der
Ärzteschaft im Nationalsozialismus aus
der Taufe gehoben. Gegen den Rückschritt in der historischen Selbstorientierung der Medizin haben jetzt mehr als
dreißig medizingeschichtlich forschende
Wissenschaftler in einem offenen Brief
RALF FORSBACH
protestiert.
Demgegenüber begegnen wir in den radikalen Aufklärern den wahren Helden
der Geschichte. Hierzu zählen jene bereits
erwähnten Verfasser klandestiner Schriften, die eine in unterschiedlicher Weise rationalistisch oder materialistisch inspirierte Religionskritik üben und von Israel
wahllos als Anhänger Spinozas deklariert
werden.
Nun waren schon die Zeitgenossen im
frühen achtzehnten Jahrhundert mit dem
Vorwurf des „Spinozismus“ recht schnell
zur Hand, doch Israel interessiert sich
nicht für Fragen der historischen Genauigkeit, wo es ihm einzig um Prinzipien geht.
Als solche identifiziert er jene Ideen, die
er als die grundlegenden gesellschaftlichen und kulturellen Werte unserer Gegenwart benennt und gleich auf der ersten
Seite seines Buches verkündet: Demokratie, Gleichheit der Rassen und der Geschlechter, Freiheit in der Gestaltung des
individuellen Lebens, vollständige Gedanken- und Pressefreiheit sowie absolute
Trennung von Staat und Kirche. Dass
wohl kaum ein Protagonist namhaft zu machen wäre, bei dem die genannten Ideen
entweder in dieser Vollständigkeit vorkommen oder unseren gegenwärtigen Vorstellungen, beispielsweise von individueller
Lebensführung, auch nur annähernd entsprechen würden, macht nur umso deutlicher, wie willkürlich Israel sie festlegt.
Die radikale Aufklärung, dies die historische Pointe, liefert ihm schließlich auch
die Antwort auf die Frage nach den Ursachen der Französischen Revolution. Nicht,
dass es darüber seit Tocquevilles Klassiker
„Der Alte Staat und die Revolution“ nicht
eine unabsehbare Menge an Forschungen
gegeben hätte: Israel ignoriert sie souverän, um mit naiver Entdeckerfreude zum
ältesten Verdacht zurückzukehren, den
schon die Gegenrevolution öffentlichkeitswirksam in die Welt gesetzt hatte, dass
nämlich der revolutionäre Umsturz eine
Folge des im Ancien Régime erfolglos unterdrückten Freidenkertums, eben der radikalen Aufklärung sei.
Wir ahnen also, worauf der dritte
Band seiner Aufklärungs-Trilogie hinauslaufen wird, nämlich auf die Apotheose
radikalaufklärerischen Denkens in der
Französischen Revolution. Spannend
bleibt allein die Frage, worin Israel seine
Geschichte des philosophischen Radikalismus münden lässt. Sicher lässt sich
schon jetzt voraussagen, dass es nicht der
revolutionäre Terror der Jakobiner sein
wird. Robespierre nämlich, auch wenn er
die Schlagworte von Gleichheit, Gerechtigkeit und Vernunft im Mund geführt haben mag, wird eindeutig als rousseauistisch verirrter Gegenaufklärer dingfest
gemacht. So muss Jonathan Israel
schließlich der radikalen Aufklärung an
der Stelle Grenzen setzen, wo es darum
ginge, ihre mögliche Radikalisierung zu
Ende zu denken.
SONJA ASAL
Geld stinkt nicht, entgegnete der römische Kaiser auf Kritik an seiner neuen
Einnahmequelle. Das war ausgerechnet eine Toilettensteuer. Geldmachen
gilt vielen als anrüchig. Intellektuelle
rümpfen die Nase über Finanziers, Banker und Spekulanten. Dagegen betrachten die meisten Ökonomen die Möglichkeiten von Kapitalmärkten als
wohlfahrtssteigernd. Die Kluft zwischen Geisteswissenschaft und Ökonomie zeigte sich auch bei dem Kolloquium „Geld – Kultur – Werte“ in der
Villa Vigoni am Comer See, organisiert vom Wirtschaftsprofessor Joachim Starbatty, der wegen eines Armbruchs aber verhindert war, und dem
Germanisten Jürgen Wertheimer (beide Universität Tübingen).
Zwischen „Börse“ und „böse“ gebe
es eine auffällige phonetische Ähnlichkeit, meinte der Literaturwissenschaftler Wertheimer. Die Finanzkrise resultiere nicht aus dem Missbrauch, sondern dem Gebrauch eines Systems, das
auf Scheinwerten beruhe, die keine Deckung mehr haben. Alles sei Fiktion.
Wertheimer skizzierte mit Rekurs auf
Zola und Balzac eine Trias aus Börse,
Bordell und Oper: die Ersatzarenen
zur Befriedigung triebhafter Leidenschaften. Besonders geißelte er die
Möglichkeit, auf fallende Kurse zu setzen und damit „am Unglück anderer
Leute zu verdienen“.
Völlig falsch, dachte sich mancher
Ökonom. „Die Spekulanten sind der
Sündenbock der Politik, die von ihrem
eigenen Versagen ablenken will“, sagte Wolf Schäfer (Hamburg) und verwies auf die jüngste Griechenland-Krise. Diese resultiere aus Staatsversagen:
einer kreditfinanzierten Aufblähung
des Staatsapparates, verfehlter Sozialpolitik, Korruption und betrügerischer
Haushaltskosmetik. „Der einzige Tadel
an die Spekulanten wäre, dass sie erst
so spät vor dem Debakel gewarnt und
weitere Kredite verweigert haben.“
Wer Spekulation verbieten wolle, bekämpfe Symptome, nicht die Ursachen, meinte Schäfer. Zuletzt habe die
Politik jene Banken und Spekulanten
belohnt, die trotz hoher Risiken in
hochrentierliche griechische Bonds investierten, weil sie auf einen „Bailout“
durch die EU vertrauten – also das Heraushauen auf Kosten der europäischen
Steuerzahler.
In welchen Händen ist Geld also besonders gefährlich, in denen des privaten Spekulanten oder denen des Staates? Viele liberale Ökonomen tendieren dazu, Interventionen des Staates
als die eigentliche Gefahrenquelle zu
sehen. Sie können auf historische Beispiele verweisen, in denen staatliche
Eingriffe ins Geldwesen zu verheerenden Inflationen führten, die Wirtschaft und Gesellschaft erschütterten.
Der Tübinger Althistoriker Frank Kolb
erinnerte in der Villa Vigoni an die Finanzkrisen im Römischen Reich. Im
dritten Jahrhundert suchten die Kaiser
angesichts der politisch-militärischen
Dauerkrise Zuflucht in Münzverschlechterung. Sie mischten den Silberdenaren immer mehr Kupfer bei, bis
der Feingehalt auf etwa ein Prozent
sank. In der Folge erodierte das Vertrauen in das Geld und den Staat.
Noch krasser endeten die Papiergeld-Experimente in China, wie der
junge Sinologe Alexander Jost ausführte. Schon in der Song-Zeit hatten Kaufleute Wechsel ausgegeben, die aber
eine reale Deckung hatten, meist
durch Edelmetall. Dann bemächtigte
sich die Regierung in der Yuan-Zeit
der Geldschöpfung. Marco Polo zeigte
sich im dreizehnten Jahrhundert begeistert von der Papiergeldherstellung:
Der Khan beherrsche die Kunst der Alchemie. Ein anderer Beobachter
sprach gar von einem „magischen Allheilmittel“ zur Sanierung der Staatsfinanzen. Doch zuletzt nutzten die Kaiser die Druckmaschine so hemmungslos zur Finanzierung ihrer Kriege, dass
der Geldwert drastisch sank, bis hin
zur Hyperinflation. Da half es auch
nichts, dass auf den lappigen Scheinen
überall das Wort „bao“ (wertvoll)
prangte.
Geldschöpfung kann reale Wertschöpfung anregen, betonte der Ökonom Hans Christoph Binswanger
(Sankt Gallen). In seinem hochgelobten Buch „Geld und Magie“ hat er
schon vor zwei Jahrzehnten Goethes
Faust auf raffinierte Weise wirtschaftswissenschaftlich interpretiert. Im zweiten Teil der Tragödie wird Faust unternehmerisch tätig, finanziert große
Landgewinnungsarbeiten mit Papiergeld, bei dem Mephisto die Finger im
Spiel hat. Zuletzt verschlingt die Flut
das ganze Werk wieder. Als „Magier“
galt auch Alan Greenspan, der frühere
Chef der amerikanischen Zentralbank
Fed. Dass seine Politik des billigen Geldes die große Finanzkrise mit vorbereitet hat, ist unter Ökonomen weitgehend Konsens. In der Villa Vigoni erinnerte der Freiburger Ökonom Michael
Wohlgemuth an frühe Äußerungen des
jungen Greenspan, der in scharfen
Worten eine Fed-Politik verdammte,
die er später selbst betrieb.
So unterschiedlich das Denken von
Geisteswissenschaftlern und Ökonomen auch ist, so anregend sind gemeinsame Konferenzen. Der aus
Zürich angereiste Hermann Lübbe
äußerte die Hoffnung, dass die große
Krise auch ein Gutes habe: Sie trage
zu einer breiteren „Finanzaufklärung“
bei.
PHILIP PLICKERT