Jens Tasche Was ist Bioenergetische Analyse? Vorwort Bioenergetik ist eine leibhaftige Erfahrung. Die dabei auftretenden Veänderungen des Körpergefühls, Erinnerungen, die in diesem Körperprozeß aus tieferen Schichten des Unbewußten auftauchenden können, vielleicht sogar aus einer Zeit als wir noch nicht über eine Sprache verfügten, müssen erlebt werden. Auch der so mögliche Zugang zu Emotionen, die wir so noch gar nicht oder schon lange nicht mehr wahrgenommen haben, ist eine Erfahrung , die sich letztlich einer Beschreibung entzieht. Im vorliegenden Artikel habe ich deshalb gar nicht erst versucht, die in der Körpertherapie möglichen Prozesse zu beschreiben, sondern beschränke mich darauf, die geschichtliche Entwicklung der Bioenergetischen Analyse und die methodischen Elemente zu skizzieren. Dabei versuche ich auch einen Überblick über den aktuellen Stand der Methode zu geben. Sigmund Freuds Libidokonzept – die Wurzel der Körpertherapie Am Anfang der Körpertherapie stehen die Vorstellungen der frühen Psychoanalyse über die Libido. Darunter verstand man eine spezifische, menschliche Energie, in deren Prozesse die Ursache psychischer Erkrankungen gesehen wurde. Bekanntlich sah Sigmund Freud in Störungen des menschlichen Triebund Sexuallebens die Ursache seelischer Störungen. In diesem Zusammenhang spricht man auch von der Sexualätiologie der Neurosen. Im Laufe seines Lebens rückte Freud aber immer weiter von der Triebpsychologie ab und wandte sich der Ich-Psychologie zu. Wilhelm Reich, der Großvater der Bioenergetischen Analyse, griff ab 1920 einige der ursprünglichen Gedanken Freuds auf. Ursprünglich hatte dieser zwei Formen der Libidostörung unterschieden. Die Aktualneurose entsteht, wenn ein Mensch die sexuelle Triebenergie nicht angemessen abführen kann. Die Psychoneurose ist das Ergebnis von psychischen, aus der Kindheit stammender Konflikte, die unzureichend bewältigt wurden. 1 Reichs Arbeit konzentrierte sich zunächst auf die Frage, woher die Neurose ihre Energie bezieht. Er nahm an, dass die Quelle seelischer Störungen generell in einer Stauung von Triebenergie besteht. So dehnte er das Konzept der gestauten Energie, dass der Aktualneurose zugrunde liegt, auf sämtliche neurotischen Störungen aus. Und bot die Erklärung an, dass jede Psychoneurose einen stauungsneurotischen Kern enthält und jede Stauungsneurose einen psychoneurotischen Überbau hat. Nach kurzer Zeit entdeckte Reich jedoch, dass diese Konzeption neue Probleme schafft. Wenn nämlich die Libidostauung der energetische Kern einer jeden Neurose ist, dann muss die Auflösung des neurotischen Symptoms (etwa durch die psychoanalytische Behandlung) zu einer Intensivierung der sexuellen Erlebnisfähigkeit führen. Die Energie wird nicht mehr zur Aufrechterhaltung des Symptoms benötigt. Sie kann also für die sexuelle Entladung genutzt werden und muss damit zu einer Intensivierung der sexuellen Erlebnisfähigkeit führen. Dies war aber nach Reichs Beobachtungen nicht der Fall. Reich erkannte, dass die Energie nicht nur im Symptom gebunden sein kann, sondern auch in einem Charakterpanzer gehalten ist, welcher der Abwehr der emotionalen Erregung dient. So entwickelte er als erster Psychoanalytiker das Konzept der ich-syntonen Störungen. Anders als ich-dystone Störungen (z.B. die Flugangst) sieht sich der Mensch bei ich-syntonen Störungen nicht mit einem von ihm selbst als fremd erlebten Symptom konfrontiert. Stattdessen kommt es zu einer speziellen Ausformung des Charakters. Die Stauung der Energie geht einher mit einer Unterdrückung von Gefühlen und strukturiert persönliche Eigenschaften. Der Mensch erlebt diese Eigenschaften, z.B. eine große Bedürftigkeit oder eine große Unterwürfigkeit, nicht als fremd oder störend, sondern als Ausdruck seiner Persönlichkeit. Er kann aber dennoch unter diesen Eigenschaften stark leiden. Reich beschrieb ich-syntone Störungen als Charakterneurosen und formulierte das Konzept des Charakterpanzers. In seinem 1933 veröffentlichten Buch Charakteranalyse fasste er diese Panzerung noch weitgehend psychisch auf. Bereits 1934 sprach er aber schon von „muskulären Panzerungen“. Er hatte entdeckt, dass unterdrückte Gefühle eine Entsprechung in muskulären Verkrampfungen finden. Diese Entdeckung, führte Reich zu dem Kerngedanken der Körpertherapie: 2 Symptom und Charakterneurosen basieren auf einer Stauung der Libidoenergie, die sich immer auch körperlich-muskulär zeigt. Gelänge es nun, den energetischen Stau aufzulösen, hätte die neurotische Störung keine Basis mehr. Die Symptome müssten sich auflösen, die Abwehr gegen die emotionale Erregung müsste verschwinden, Der Klient wäre geheilt. Im weiteren Verlauf seines Lebens hat sich Reich mehr und mehr mit energetischen Fragen und Prozessen beschäftigt. Er meinte eine spezifische Lebensenergie naturwissenschaftlich nachweisen zu können. Diese später von ihm Orgon genannte Energie war dann für ihn auch nicht mehr allein die Lösung für individuell-neurotische Störungen, sondern eine universelle Kraft, die einen Zugang zu praktisch allen Problemen der Welt ermöglicht. Die Lowensche Variante der Charakteranalyse: Die Entwicklung von der sexuellen Lust zur Lebensfreude Alexander Lowen ist der Begründer der Bioenergetischen Analyse und sicherlich der wichtigste Repräsentant der Körpertherapie überhaupt. Er modifizierte den reichianischen Ansatz. Gleich Reich ging er von einer im Körper wirkenden Energie aus, deren freier Fluss eine ungehemmte sexuelle und emotionale Erlebnisfähigkeit ermöglicht. Dabei konzentrierte er sich völlig auf die ich-syntonen Charakterneurosen. Lowen interessierte sich nicht allzu sehr für den sexuellen Aspekt der Energie. Für ihn werden die Blockierungen der Energie durch frustrierend-einschränkende Erfahrungen oder auch traumatische Erlebnisse in der Kindheit verursacht. Diese Erfahrungen führen zu einer Unterdrückung der daran beteiligten Affekte, die sich muskulär als chronische Verspannungen zeigen und sich damit auch in einer Blockierung des Energieflusses manifestieren. Lowen verändert auch Reichs charakteranalytische Vorstellungen. Seiner Charakterkonzeption liegt eher die Idee von (Natur-) Rechten des Kindes zugrunde. Während der Entwicklung durchläuft das Kind unterschiedliche Reifungsphasen. In diesen Phasen treten immer wieder neue Rechte in den Vordergrund. Werden einem Kind diese Rechte nicht in ausreichendem Maße zugestanden, kommt es zu einer Unterdrückung von Affekten und Handlungsimpulsen. So geht Lowen weniger von der sexuellen Entwicklung des Kindes aus und mehr von einer allgemeinen Lebensfreude, die durch ein 3 unangemessenes Einwirken auf das Kind zu Deformierungen und damit zu Charakterpathologien führen kann. Ein wesentliches Ziel klassischer bioenergetischer Therapien ist es deshalb auch, sich die Empfindungen, Gefühle und Handlungsmöglichkeiten zurückzuerobern, die einem durch eine einschränkende Umwelt genommen wurden. Die muskulären Verspannungen, die ja die Einschränkungen der Lebensfreude anzeigen, müssen aufgelöst, die unterdrückten Affekte ausgedrückt und die in der Kindheit verweigerten Rechte wieder in Besitz genommen werden. Die Charakteranalyse Der Einfluss der Humanistischen Psychologie 1962 gründeten Charlotte Bühler, Abraham Maslow und Carl Rogers in den USA die „Gesellschaft für Humanistische Psychologie“. Die Humanistische Psychologie wird als dritte Kraft (nach Psychoanalyse und Behaviorismus) bezeichnet. Sie hat eine Reihe von Therapieansätzen wie die Gestalttherapie und die Gesprächspsychotherapie hervorgebracht. Die Bioenergetische Analyse hat sich in den 60er und 70er Jahren in einer engen methodischen und personellen und z.T. auch organisatorischen Vernetzung mit der Humanistischen Psychologie verbreitet. So waren wohl die meisten engen Mitarbeiter von Alexander Lowen, die weltweit die Ausbildungsprogramme zum Bioenergetischen Analytiker leiteten, entweder durch intensive Selbsterfahrung oder dadurch, dass sie sich in den Methoden der Humanistischen Psychologie hatten ausbilden lassen, mit dieser verbunden. Die Humanistische Psychologie kritisiert den Behaviorismus und die Psychoanalyse als zu deterministisch und betont demgegenüber die Einheit und Autonomie der Person. So unterscheidet sich der Mensch von anderen Lebewesen u.a. durch • die Fähigkeit, jede Struktur, in der er sich befindet, zu überwinden und zu transformieren. Er kann sich auf seine Art und Weise mit der Welt in Beziehung setzen und eine Ordnung jenseits der vorgefundenen Natur schaffen, • seine symbolische Fähigkeit, mit der er symbolische Werte schaffen kann, Phänomene trotz Variationen der Perspektive 4 erkennen und verschiedene Ausdrucksformen desselben Themas finden kann, • sein Vermögen, sein Erleben, seine Lebenserfahrung zu reflektieren, wodurch er für sein Leben Bedeutungen schaffen kann, dafür Verantwortung übernehmen und sein Leben dementsprechend führen kann. Darüber hinaus entwickelte die Humanistische Psychologie ein Menschenbild, das ganz wesentlich von dem Begriff der Aktualisierung bzw. Selbstaktualisierung geprägt ist. Der Begriff der Aktualisierung meint die Grundantriebskraft zu wachsen, die in jedem Mensch vorhanden ist. Sie führt den Menschen dazu, seine Potentiale zu verwirklichen. Dieser strebt als lebender Organismus nach prozesshaftem Wachstum und Reifung und nicht wie homöostathische Systeme nach Aufrechterhaltung bzw. Widerherstellung eines spannungsfreien Zustandes. Die dem Menschen innewohnende Tendenz zur Selbstverwirklichung kann allerdings verbogen, verzerrt und verschüttet werden. In der Folge konkurriert die Tendenz zur Reifung auf verschiedenen Ebenen mit einer Defizitmotivation, die der Dynamik der Homöostase unterliegt. Der defizitmotivierte Mensch ist lediglich bestrebt, sein Grundtriebe zu befriedigen, um so einen Gleichgewichtszustand zu erhalten. Die Konkurrenz zwischen Wachstums- und Defizitmotivation vollzieht sich für Abraham Maslow, der nicht nur Begründer, sondern auch wichtigste Theoretiker der Humanistischen Psychologie ist, auf unterschiedlichen Ebenen. Selbstaktualisierung steht danach in einer engen Vernetzung mit der Befriedigung von Bedürfnissen. Die Grundbedürfnisse sind auf der untersten Stufe einer Hierarchie verankert und deshalb am Mächtigsten. Mit aufsteigender Hierarchie nimmt die biologische Verankerung der Bedürfnisse ab und die Bedeutung des Bewusstsein und der damit verbundenen Fähigkeiten (z. B. der symbolischen Verarbeitung) zu.. Beispiel: Das Bedürfnis nach Nahrung ist biologisch verankert. Es ist gegenüber den meisten anderen Bedürfnissen dominant und muss vorrangig befriedigt werden. Der Schmerz über den Verlust einer nahe stehenden Person ist noch an physiologische Prozesse (Tränen) gebunden, bedarf aber auch einer symbolischen Verarbeitung. Maslow unterscheidet 5 Bedürfnisstufen: 5 1. 2. 3. 4. 5. physiologische Bedürfnisse Sicherheitsbedürfnisse Bedürfnisse nach Liebe und Zugehörigkeit Selbstachtungsbedürfnisse Selbstverwirklichungsbedürfnisse Diese Bedürfnisse finden sich als Themen durchaus in den Persönlichkeitstypen, die Lowen in der Charakteranalyse formuliert hat, wieder. Aus der Sicht der Humanistischen Psychologie ist aber jede Charakterpathologie eine verbogene oder verzerrte Selbstaktualisierungstendenz. D.h. die Diagnose oraler oder rigider Charakter bezeichnet auch eine Einschränkung des Strebens nach Selbstverwirklichung. So unterliegen aus dieser Sicht Charakterneurosen der Defizitmotivation und versuchen, den erreichten Gleichgewichtszustand –in diesem Fall den der Abwehr dienenden Muskelpanzer- aufrecht zu erhalten. Nimmt man also die Humanistische Psychologie zum Bezugsrahmen, so differenziert sich die theoretische Perspektive. Körperarbeit dient dann nicht mehr dazu, das wahre Selbst freizulegen, vielmehr wird ein System aus dem Gleichgewicht gebracht, um einen Prozess der Selbstaktualisierung unter Berücksichtigung der akuten Bedürfnisebene einzuleiten. Themen wie Reifung, Symbolisierung, Selbstverwirklichung oder auch kritische Reflektion des eigenen Erlebens erhalten dann innerhalb des bioenergetisch-therapeutischen Rahmens einen anderen Stellenwert. Begegnung im Verständnis des Philosophen Martin Buber ist ein weiteres Element der Humanistischen Psychologie, das einen wesentlichen Einfluss auf die Bioenergetische Analyse hatte. Nach Buber wird menschliche Reifung vorrangig vom Beziehungserleben und von der Wechselseitigkeit der Beziehung getragen. Bubers Satz: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung“ versucht eine Erfahrung zu beschreiben, in der man unmittelbar, ohne diagnostische Hilfsmittel und ohne Absicht, den Anderen erfährt. Buber schreibt: „Nur wo alle Mittel zerfallen, geschieht Begegnung“. In diese Begegnung eingebunden ist eine bestätigende Bejahung des Anderen, die eine 6 Entwicklung von Selbstbewusstsein, Individualität und Autonomie ermöglicht. Die Bioenergetische Analyse jetzt: theoretische Konzeption Die methodischen Grundelemente der Bioenergetischen Analyse Die Grundelemente der Bioenergetischen Analyse werden mit den Begriffen Grounding, Selbstausdruck, Vibration, Atmung und Sexualität bezeichnet. Obwohl die Elemente auf sehr unterschiedliche Bereiche verweisen, beschreiben sie doch den Bezugsrahmen, innerhalb dessen der Bioenergetische Analytiker die Körpertechniken, die das Standardrepertoire eines jeden Bioenergetikers bilden, einsetzt und seine Diagnosen gewinnt. Grounding Grounding ist eine gegenüber der reichianischen Körperarbeit neue Konzeption, die wohl originär von A. Lowen entwickelt wurde. Sie hat auch dazu geführt, dass, anders als bei Reich, in der BA überwiegend im Stehen gearbeitet wird. Für Lowen ist der Mensch weniger in seinen zwischenmenschlichen Bezügen verankert und mehr in einer energetischen Verbindung zur Erde, d.h. zum Boden. Grounding bezeichnet das „Verhaftetsein“ des Menschen in der Welt, der „mit beiden Beinen auf dem Boden bleiben“, die Fähigkeit zur Vernunft, Realitätssinn und gesundem Menschenverstand. Mensch und Erde stehen dabei in einem energetischen Austausch. Bei energetischer Unterladung kann er Energie vom Boden aufnehmen, bei Überladung Energie an diesen abgeben. Insbesondere bei energetischer Überladung, die sich als Nervosität, Verlust des gefühlsmäßigen Kontaktes zu sich selbst, abgehobenes Agieren u.ä. zeigt, lässt sich durch die entsprechende Körperarbeit der Energiefluss zwischen der Person und dem Boden verbessern. Dabei handelt es sich nicht um ein theoretisches Konstrukt, sondern um einen sinnlich erlebbaren Prozess, den die meisten Klienten bioenergetischer Therapien am eigenen Leibe erfahren haben. So kann man vielleicht 7 sagen, dass in der Bioenergetik, in der es ja ganz wesentlich um Lebendigkeit und den Ausdruck von Gefühlen geht, das Groundingkonzept für die erforderliche Bodenhaftung sorgt. Vibration Vibration ist in der BA das Hauptmittel, um die affektiv-muskulären Blockaden aufzulösen und die im Körper eingefrorenen Gefühle und Erinnerungen in das Bewusstsein zu bringen. Sie bezeichnet auch die Fähigkeit des Menschen, in einzelnen Muskelpartien oder auch fast im gesamten Körper ein Zittern zu erleben, das er nicht willentlich herstellen, aber langsam durch eine bewusste Zurücknahme der Körperkontrolle entstehen lassen und leicht unterbinden kann. Dadurch lässt sich wohl der experimentelle Beweis führen, dass Muskelverkrampfungen und verdrängte Gefühle in einem Zusammenhang stehen. Für Menschen, die das erste Mal an einem Bioenergetischen Workshop teilnehmen, ist die Erfahrung der sich langsam einstellenden Vibration und der durch diese Bewegung ausgelösten emotionalen Erfahrung und Erinnerung ein sehr ungewöhnliches Erlebnis. Plötzlich spüren sie in sich eine Wut oder Traurigkeit oder auch ein Lachen aufsteigen, ohne äußeren Anlass, einzig bedingt durch eine spezielle Konfrontation mit ihrem Körper. Die technischen Möglichkeiten, über die die Bioenergetik verfügt, um die Vibration zu erreichen, sind vielfältig. Sie reichen von einem wärmenden Kontakt durch ein Auflegen der Hände, über „slow-motion“ Bewegungen, in der durch kurzfristige Stimulation unterschiedlicher Muskelpartien die Vibration erreicht wird, bis hin zu vielfältigen Stressübungen, in denen durch Belastung eine Ermüdung der Muskulatur erreicht wird und der Zerreißschutz des Muskelgewebes angesprochen wird. Für die BA ist wohl die Vibration der Weg ins Unbewusste. Es ist deshalb vielleicht nicht falsch, die Vibration als die Assoziation des Körpers zu bezeichnen. Selbstausdruck 8 In der Bioenergetik ist der Selbstausdruck der Weg zu mehr Lebendigkeit und damit einhergehend der Weg zur bewussten Inbesitznahme der verdrängten Gefühle und der verweigerten Rechte. Alle aus dem körperlich Unbewussten aufsteigenden Empfindungen sollen auch ihren Ausdruck finden, um so den Energiefluss in die Welt hinein zu öffnen. Dabei liegt der Schwerpunkt der bioenergetischen Arbeit auf subjektbezogenen Empfindungen, die eng mit den durch die elterlichen Frustrationen entstandenen Gefühlen und der Wiederaneignung der verwehrten Rechte korrespondieren. Die auftretenden Gefühle werden in einem Raum hinein, einer imaginären Person gegenüber oder in einer Art Rollenspiel dem Therapeuten gegenüber ausgedrückt. Der Therapeut versteht sich als Unterstützer, der den Klienten in seinen Rechten gegenüber den Eltern und im Bestreben nach Unabhängigkeit von den elterlichen Geboten und dem Suchen nach Autonomie bestärkt. So fühlen sich die meisten Menschen nach Selbstausdruckprozessen auch sehr befreit und lebendig und erleben ein vertieftes Körper- und Selbstempfinden. Viele fühlen sich zumindest für eine gewisse Zeit energiegeladen und unabhängiger. Damit verfügt die Bioenergetische Analyse ungleich den meisten anderen Psychotherapien über ein Instrumentarium, die Lebendigkeit ihrer Klienten unmittelbar zu beeinflussen. Atmung Mit der Bedeutung, die die Atmung im Bioenergetischen Prozess einnimmt, knüpft die Bioenergetische Analyse an die reichianische Tradition an. Die vertiefte Atmung ist die Voraussetzung für ein Ansteigen der energetischen Ladung und damit für den Bioenergetischen Analytiker ein Instrument zur Regulierung des Energieniveaus. So wie sich durch das Grounding eine energetische Überladung regulieren lässt, dient die Arbeit mit der Atmung dazu, eine zu geringe Ladung zu korrigieren. 9 Auch die Effekte einer vertieften Atmung sind für den Klienten unmittelbar erlebbar. Gerade nach Sitzungen, in denen der Therapeut an der Beseitigung der Blockaden gearbeitet hat, die ein vertieftes Atmen verhindern, erleben Klienten eine größere Öffnung zur Welt. Die Sinne sind geschärft, der Körper wird lebendig wahrgenommen, die Kontaktund Beziehungsfähigkeit scheint gestärkt. Sexualität Das Grundelement Sexualität verweist auf die triebtheoretischreichianischen Wurzeln der Bioenergetischen Analyse, aus denen sich Begriffe wie Triebstau, Segmentblockierung oder Orgasmusreflex noch heute in bioenergetischen Diskussionen finden lassen. Sexualität bezeichnet daher in der BA den Weg der Heilung von neurotischen Störungen und ist wohl auch – mehr im Sinne einer sexuellen Potenz denn als Hingabe an den Anderen- als Grundmotiv für die Beziehung zur Welt zur verstehen. In der Bioenergetischen Praxis ist es allerdings weniger deutlich, wie das Thema in den Mittelpunkt gerückt werden kann. Anders als die Elemente Selbstausdruck, Grounding, Atmung und Vibration wird das Thema Sexualität nicht unmittelbar in Körpertechniken umgesetzt. Zwar kann der Therapeut in seiner Arbeit verstärkt auf Körperbereiche fokussieren, von denen er vermutet, dass sie im verstärkten Maße für eine blockierte Sexualität stehen. Es ist aber keineswegs sicher, dass beispielsweise bei der Arbeit an der blockierten Beckenmuskulatur sexuelle Themen an die Oberfläche kommen. Sexualität ist in der Bioenergetik eher etwas, was nicht da ist. Begründet durch das sexualätiologische Basiskonzept ist der Bioenergetiker mit Blockaden konfrontiert, die die Sexualität einschränken, deformieren oder verhindern. Gelingt es nun die Blockaden aufzuheben, ist die befreite Sexualität da. Sie ist dann wesentliches Element und Ausdruck des wahren Selbst. Ob diese befreite Sexualität aber erektive, orgastische Potenz, Hingabe an den Anderen oder vielleicht noch vieles mehr ist, bleibt unklar. Wohl aus diesem Grunde hat es in der BA wenig Auseinandersetzungen über 10 geschlechtsspezifische Ausformungen von Sexualität, kulturelle Bedingtheit der Geschlechterrollen oder gar Homosexualität gegeben Die Techniken der Körperarbeit Techniken zur Vertiefung der Atmung, Verbesserung des Groundings oder allgemein zur Auflösung des Muskelpanzers sind die Hauptdomäne der Bioenergetischen Methode. In den letzten 50 Jahren sind von den unterschiedlichsten Bioenergetikern so viele verschiedene Techniken entwickelt, modifiziert oder aus anderen Bereichen übernommen worden, dass sicherlich niemand mehr einen Überblick hat. Leider wurde diese Entwicklung auch nicht vom Internationalen Institut für Bioenergetische Analyse dokumentiert. Das Spektrum der Techniken reicht von sehr sanften liebevollen Übungen bis zu extrem stresshaften Konfrontationen. Beide Extreme haben in den letzten Jahren auch Kritik herausgefordert. So werfen manche Bioenergetiker der sogenannten „sanften Bioenergetik“ vor, die Methode in eine reine „Wohlfühl-Therapie“ zu verwandeln, die die regressiven Wünsche der Klienten unterstützt und eine Konfrontation mit schwierigen, unangenehmen und verdrängten Empfindungen verhindert. Gegen die harten, konfrontativen Techniken werden eine Reihe von ethischen Bedenken vorgebracht. Hier würden – so die KritikerBelastungen, Risiken und der Nutzen für den Klienten in keinem angemessenen Verhältnis mehr zueinander stehen und es bestünde die Gefahr, dass statt etwa einer Aufarbeitung eines frühkindlichen Traumas eine Retraumatisierung erfolgt. Weiter wird kritisiert, dass die bioenergetischen Sitzungen zu einem Machtkampf ausarten können. Der Therapeut, der den Muskelpanzer aufbrechen will, kämpft gegen den Klienten, der sich aus einer unbewusst/vorbewussten Angst heraus gegen diese innere Bewegung immer mehr verschließt. Obwohl die verschiedenen Körpertechniken nicht mehr zu überblicken sind, glauben wir doch, dass man zwischen unterschiedliche Gruppen differenzieren kann. 11 Da sind zunächst Übungen, die wir die „klassischen“ bioenergetischen Übungen nennen möchten, etwa der Bogen oder die Arbeiten über den bioenergetischen Atemschemel. Diese Übungen zielen unmittelbar auf eine Auflösung der verpanzerten Muskelsegmente, ohne dass der Ausdruck bestimmter Gefühle intendiert wird. Davon lassen sich Techniken abgrenzen, die Körperbewegungen oder Körperhaltungen mit deutlichen emotionalen oder sprachlichen Vorgaben verbinden, also Techniken mit „affektiv-sprachlicher Induktion“. Diese Techniken verlassen sich nicht allein auf die Auflösung der chronischen Blockaden, sondern versuchen gleichzeitig, ein bestimmtes Gefühl zu provozieren, um durch diese Doppelstrategie einen energetisch-emotionalen Fluss zu erreichen. Hierzu gehören sicherlich die Fallübungen, Schlagetechniken auf dem Würfel und die Kick- und Tretübungen. Eine dritte Gruppe zeigt deutlich den Einfluss von Therapiemethoden, die der Humanistischen Psychologie zugerechnet werden. In diesen Techniken wird nicht mehr allein die Auflösung der Verpanzerung angestrebt, oder diese mit einem spezifischen Gefühlsausdruck verbunden; stattdessen werden hier relativ komplexe, regressive Situationen leibdramatisch inszeniert, um bestimmte Schlüsselsituationen der Kindheit wiederzubeleben. Es wird also eine Form angewandt, die -mit anderen Schwerpunktsetzungen- aus Methoden wie Psychodrama oder Gestalttherapie bekannt ist. Hierzu gehören die verschiedenen Reaching-Übungen oder auch das Körpertantrum. Diese Gruppe möchten wir deshalb als „leibdramatische Inszenierungen“ bezeichnen. Ziele der therapeutischen Sitzung Die klassische bioenergetische Sitzung folgt dem Grundsatz: Diagnose – energetische Aufladung – energetische Entladung(Katharsis) – verbale Aufarbeitung des Geschehens. Dabei hat der Bioenergetiker für die Diagnose drei Perspektiven zur Verfügung: 1. die vom Klienten verbal angebotene Thematik, 12 2. der aktuelle energetisch/emotionale Zustand, in dem sich der Klient befindet (nonverbales Angebot), 3. den durch chronische Verspannungen geprägten Körperausdruck (chronische Verspannungen/Charakterstruktur). Aus diesen Quellen entwickelt er das körpertherapeutische Angebot, das ihn passend erscheint. So kann er die vorgetragene depressive oder aggressive Verstimmung aufgreifen und dem Klienten Kick- oder Schlageübungen anbieten. Er kann sich auf den aktuellen energetischen Zustand konzentrieren und die durch Alltagsstress entstandenen Verspannungen durch ein körperliches Warming-up lockern. Oder er entscheidet sich, den Fokus auf das chronisch blockierte Schultersegment zu legen und fordert den Klienten auf, solange mit einem Tennisschläger auf den Schaumstoffwürfel zu schlagen, bis die unterdrückte Wut an die Oberfläche steigt. Dabei geht die Bioenergetik von einer Interessengleichheit zwischen Therapeut und Klient aus, d.h. es wird angenommen, dass der Klient ein mindestens ebenso großes Interesse an der Auflösung der Blockaden hat, wie der Therapeut. Obwohl es Ziel der Arbeit ist, einen möglichst tiefen kathartischen Prozess zu erreichen, entscheiden Therapeut und Klient gemeinsam, wie tief in der jeweiligen Stunde in die Charakterstruktur hineingearbeitet wird. Die aktuelle Situation der Bioenergetischen Analyse – Probleme und Ausblick Unseres Erachtens hat Alexander Lowen so ein schlüssiges therapeutisches Konzept entwickelt, dass auch die theoretischen Ansätze anderer Körpertherapieschulen weit in den Schatten stellt. Diese Leistung wirklich würdigen kann man sicherlich nur, wenn man sich vergegenwärtigt, wie neu und ungewöhnlich die radikal ins körperliche gewendeten Heilungsvorstellungen für seelische Störungen in den 50er und 60er Jahren gewesen sein müssen. Er hat damit sicherlich ungezählten Menschen, die sonst keinen Zugang zu ihrem tieferen seelischen Erleben hätten finden können, geholfen. Er hat auch über eine lange Zeit den bioenergetisch tätigen Therapeuten ein gemeinsames Verständnis von körperlichen Prozessen und deren heilender Wirkung vermittelt, das (unabhängig von der empirischen 13 Gültigkeit einzelner Teilkonzepte) für die „Bioenergetische Gemeinschaft“ identitätsstiftend war. Bedenkt man weiter, dass Alexander Lowen neben der therapeutischen Arbeit und der Entwicklung einer Methode zwölf Bücher und zahlreiche Artikel geschrieben und noch eine Organisation aufgebaut hat, die sich in über 40 Jahren fast über die ganze Welt ausgebreitet hat, wird der Mut, die Entschlossenheit, Schaffenskraft und das Charisma von Alexander Lowen deutlich. Bei allem Respekt vor der Lebensleistung Alexander Lowens sind jedoch erhebliche Probleme unübersehbar. Bedingt durch eine einseitige Konzentration auf ich-syntone Störungen wurden ich-dystone Störungen in der Bioenergetischen Analyse weder diagnostiziert noch entwicklungspsychopathologisch konzeptualisiert. Aber auch in bioenergetischen Praxen tauchen mehr und mehr Menschen mit klinischen, medizinischen und psychosomatischen Problemen respektive Störungen auf, mit depressiven Erkrankungen, Suizidalität, Abhängigkeitserkrankungen, Essstörungen, kompensierten Psychosen, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und klinisch diagnostizierten Persönlichkeitsstörungen, bei denen es sich u.E. überwiegend um strukturelle Störungen handelt. Bei diesen ist die „klassische Bioenergetik“ kaum noch hilfreich, nicht mehr heilsam. Zwar verfügen heute fast alle Bioenergetischen Analytiker über psychotherapeutische Zusatzausbildungen und sind so in der Lage, Klienten mit diesen Störungsbildern angemessen zu behandeln; als Methode hat die Bioenergetische Analyse jedoch auf die Veränderung des Krankheitspanoramas bisher zu wenig reagiert. In der Folge ist auch kein plausibles entwicklungspsychopathologisches oder Krankheitskonzept der Bioenergetischen Analyse erkennbar. Dies macht einen Vergleich mit anderen Therapieschulen schwierig. Wohl auch deshalb drängen verschiedene Psychotherapiekritiker die Bioenergetische Analyse mehr und mehr in den Bereich einer Außenseitermethode. Insgesamt hat die Bioenergetische Analyse die Erkenntnisse der allgemeinen Psychotherapieforschung und die Weiterentwicklung der Psychoanalyse nur äußerst unzureichend für eine methodische Neuformulierung genutzt. Sie basiert weiterhin auf dem entwicklungspsychologischen Konzept Freuds, welches die Triebreifung 14 und Sexualökonomie zur Grundlage hatte. Dieses hat sich aber innerhalb der Psychoanalyse als nicht haltbar erwiesen. Auch wurden die Ergebnisse der Säuglingsforschung nicht berücksichtigt. Die Bedeutung des „Anderen“ für die normale Entwicklung des Kindes wie Erwachsenen, die primäre Intersubjektivität wurde nicht in das entwicklungspsychologische Konzept der Bioenergetischen Analyse aufgenommen. Besonders problematisch erscheint uns die Fixierung des therapeutischen Prozesses auf Katharsis, Wiedererleben und Erinnern mit nachfolgender lebensgeschichtlicher Einordnung. Ist das „Wiedererlebte Ausdruck realer Erfahrung oder nicht eher ein subjektivphantasmatisch verzerrtes Erleben? Ist Ausdruck von Gefühlen, Wiedererleben und lebensgeschichtliche Einordnung schon Therapie, der Weg der Heilung? Schließlich erscheint die Frage der therapeutischen Beziehung in der Bioenergetischen Analyse unbedingt diskussionswürdig. Weitgehend orientiert sich die ihre Beziehungskonzeption an den Vorstellungen der Humanistischen Psychologie. Die mitterlerweile gut gesicherten Ergebnisse der Psychotherapieforschung zeigen aber, dass eine hilfreiche Beziehung nicht zwangsläufig eine angenehme Beziehung ist. Gerade bei der Behandlung, der heute weit verbreiteten narzisstischen Störungen und den sog. Borderlinepersönlichkeitsstörungen bedarf es einer sehr differenzierten Betrachtung des Beziehungsgeschehens. Auch müssen die Interventionen ein einfühlsames Vorgehen mit einer konfrontativen Haltung kombinieren. Wie fast alle anderen Körpertherapien ist auch die Bioenergetischen Analyse heute eher eine Baustelle als eine in sich geschlossene Methode. Bioenergetiker setzen die Übungen dort ein, wo es ihnen sinnvoll erscheint. Sie greifen auf andere Methoden und Techniken dort zurück, wo die Bioenergetik keinen sinnvollen Zugang zu der vom Klienten angebotenen Problematik zu bieten hat. Es ist eine allgemeine Erfahrung, dass Psychotherapieschulen nach dem Rückzug ihres Begründers ins Schlingern geraten. So steht die Bioenergetische Analyse heute vor der Aufgabe, ein weltweites Netzwerk zu schaffen, dass in der Lage ist die Versäumnisse der Vergangenheit aufzuholen und ein theoretisches Modell zu schaffen, dass den Bedürfnissen einer modernen körpertherapeutischen Arbeit entspricht. Die Auseinandersetzungen und Diskussion hierüber werden 15 sicherlich noch eine geraume Zeit in Anspruch nehmen. Die meisten Bioenergetiker sind sich aber der Schwierigkeit der aktuellen Situation bewusst. Es darf deshalb mit einigem Recht davon ausgegangen werden, dass die Bioenergetische Analyse in der Lage sein wird die aktuellen Probleme zu bewältigen und ein neues Profil zu gewinnen, dass die neueren Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie und Psychotherapieforschung integriert und gleichzeitig die vielfältigen Möglichkeiten, die sich in der Psychotherapie durch die unmittelbare Arbeit am Körper ergeben, bewahrt. Jens Tasche 16
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