WAS HEIßT HIER SUCHT? Personenzentrierte Arbeit mit Abhängigen Vortrag im Themenblock II: "Anwendung und Methodik"; Kongress der Gesellschaft für wissenschaftliche Gesprächspsychotherapie e.V. zum Thema "Macht Therapie glücklich?" vom 20.02. - 24.02.1989 in Köln Reflexion meiner Erfahrungen als Dipl.-Sozialpädagoge in einer Jugend- und Drogenberatungsstelle von Jan. 1983 bis Dez. 1988. Martin Schmidt-Schmölcke überarbeitet im Mai 1992 2 Inhalt Seite Einleitung 3 1. Sprachgeschichtlich tradierte Bedeutungsinhalte 4 2. Beschreibungsversuch störungsspezifischer Symptome von "Abhängigen" 6 2.1. Kennzeichnende Aspekte von "Abhängigkeit". 6 2.2. Die "süchtige" Beziehung - psychische Abhängigkeit 7 3. Diagnose als Glaubensfrage 9 4. Diagnose als Entmündigung 11 5. Personenzentrierte Psychotherapie für "Abhängige" 13 5.1. Die Bedeutung des Symptoms 13 5.2. Das personenzentrierte Beziehungsangebot für "Abhängige" 14 5.3. Störungsspezifische Merkmale der Therapeutenvariablen "Akzeptanz, Empathie und Kongruenz" 15 Personenzentrierte Hilfsangebote für Angehörige von "Abhängigen" 17 6. Literatur 19 3 EINLEITUNG In der wissenschaftlichen Forschung werden "Abhängigkeitsproblematiken" je nach der bevorzugten Droge getrennt untersucht. In den Bereichen der umstrittenen "nicht stoffgebundenen Abhängigkeiten" (z.B.: Spielen, Mager- und Eßsucht) ist man noch ziemlich unsicher, ob die paradigmatischen Vorstellungen, die mit der Diagnose "Abhängigkeit" im Drogenbereich verbunden werden, für diese Problemkomplexe überhaupt anwendbar sind.1 Demgegenüber steht in der Praxis ein übergreifendes Problemverständnis, das den speziellen Erscheinungsformen von "Abhängigkeiten" einen gemeinsamen Hintergrund zuordnet. Dies artikuliert sich weniger in der wissenschaftlichen Theoriebildung als vielmehr in präventiven Konzepten, die oft ganz bewußt an den allgemeinen Kategorien "Abhängigkeit" und "Sucht" bzw. "süchtiges Verhalten" festhalten. Damit soll der Blick für die eigene (alltägliche) Sucht bzw. „normale“ Abhängigkeiten geschärft und so die Abgrenzung und Abwehr gegenüber "Suchtkranken" aufgebrochen werden. Angesichts der Vorstellungen, die allgemein mit "Sucht" verbunden werden, erscheint dies als regelrechte Sisyphusarbeit. Die sprachgeschichtlich tradierten Bedeutungen von "Sucht" enthüllen ein Symptomverständnis, wonach Abhängige krank, schlecht, ansteckend und besessen sind. Der Begriff Sucht verweist offenbar auf eine sehr dunkle Seite menschlichen Lebens. In der Suchtkrankenhilfe und in der Drogenarbeit wird vielfach mühsam darum gerungen, sich von diesen Stigmata zu lösen. Dennoch kommt in Theorie und Praxis diese Denktradition in teilweise offenkundigen, teilweise aber auch recht subtilen Varianten immer wieder zum tragen. Verschiedene theoretische Konzepte führen zudem zu einer extremen Ausweitung der Bedeutungszuordnungen für "Abhängigkeiten". Alltagsbegriffe wie "Sehnsucht", "Eifersucht", "Tobsucht" etc. werden in diesen Zusammenhängen zu Erscheinungsformen süchtigen Verhaltens stilisiert. Auf solchen Grundlagen werden alle erdenklichen Verhaltensweisen als "süchtig" und damit als krank diagnostizierbar. Hier wird offensichtlich, daß eine Unterscheidung zwischen "normalen" Leidenschaften und krankhafter "Abhängigkeit" ganz und gar subjektiven Ermessensspielräumen überlassen bleibt. Nichtkonformes, von statistischen bzw. gesellschaftlichen Normen abweichendes Verhalten kann so leicht mit dem Attribut "süchtig" versehen und damit als krank bzw. pathologisch disqualifiziert werden. Da sich in dem Begriff Sucht derart viele Inhalte von großer emotionaler Bedeutung für die individuelle persönliche Lebensführung ballen, eignet er sich hervorragend als ideologisches Herrschaftsinstrument. Bei der Entwicklung präventiver Konzepte ist auf diesem Hintergrund sehr genau darauf zu achten, daß diese Konzepte nicht unversehens dazu instrumentalisiert werden, Herrschaftsinteressen ideologisch zu verankern und disziplinierend bis in die privatesten Bereiche der Bürgerinnen und Bürger einzugreifen. Im Folgenden werde ich zunächst die sprachgeschichtlich tradierten Bedeutungszuordnungen zum Begriff "Sucht" sichten, um die ganze Bandbreite der Vorstellungen, die hier einfließen, zu erfassen. Danach werde ich den Versuch unternehmen, die Phänomene zu skizzieren, die ich nach meinen Erfahrungen in der Jugend- und Drogenberatung als typische "Suchtphänomene" betrachte. Im Anschluß daran werde ich die vorherrschenden diagnostischen Vorstellungen in der Suchtkrankenhilfe und deren entmündigende Tendenzen problematisieren. 1 J. Herwig-Lempp, "Das Phänomen der sogenannten Neuen Süchte"; Neue Praxis, 1/87, LuchterhandVerlag. 4 Schließlich versuche ich einen Ansatz einer alternativen therapeutischen Haltung gegenüber "Suchtproblematiken" zu formulieren, wobei ich mich explizit auf den Ansatz von C. Rogers beziehe. 1. SPRACHGESCHICHTLICH TRADIERTE BEDEUTUNGSINHALTE Sucht ist ein relativ altes und in seiner Bedeutung sehr unspezifisches Wort, "krankheit, seuche und siechtum teilen sich in das erbe."2 - Zunächst ist Sucht ein Sammelbegriff "für jede krankheit des menschlichen körpers, die mit deutlichen symptomen in erscheinung tritt und nicht auf mechanische ursachen (verletzung oder verwundung) zurückgeht."3 Bezeichnend ist, daß jene Krankheiten als Sucht benannt wurden, deren Wesen man nicht verstand. Viele Krankheiten, die früher als Sucht bezeichnet wurden, bekamen einen neuen eigenen Namen, wenn die Erkenntnisse über diese Krankheit zunahmen - so z.B.: Gelbsucht = Hepatitis; Schwindsucht = Tuberkulose; fallende Sucht = Epilepsie; Gliedersucht = Rheumatismus; rote Sucht = Masern; schwarze Sucht = Cholera, Pest. - Dem Wort Sucht haftet eine "dämonische Färbung"4 an. D. h. im Begriff Sucht schwingt die Phantasie von einer fremden Macht mit, die von einer Person Besitz ergreift. Diese Vorstellung impliziert, daß die befallene Person nicht selbst verantwortlich für ihr Handeln, sondern ein Opfer dieser äußeren Macht ist. Diesen Vorstellungen liegt ein Menschenbild zugrunde, wonach Dimensionen des menschlichen Geistes existieren, die durch "böse" (beispielsweise Drogen) oder auch "gute" (beispielsweise Gott) Kräfte besetzt werden können. Damit lassen sich letztendlich auch exorzistische Interventionen legitimieren. - Der Begriff Sucht enthält Bedeutungselemente des Wortes Seuche in dem Sinn, daß Ansteckungsmöglichkeiten bzw. -gefahren damit verbunden werden.5 Dieser Bedeutungszuordnung entspricht in der heutigen Verwendung des Begriffes Sucht die Vorstellung einer Ansteckungsgefährdung durch "Verführung". - In religiös-sittlichen Zusammenhängen werden im Begriff Sucht die Bedeutungen "Krankheit" und "Sünde" verbunden. So verstanden bezeichnet Sucht "verdammenswerte charaktereigenschaft, laster".6 In ähnliche Richtungen gehen Definitionen, die mit dem Begriff Sucht gesellschaftliche Normierungen verbinden. Sucht bezeichnet in diesen Zusammenhängen, was als gesellschaftlich abweichend und nicht mehr tolerierbar definiert werden soll.7 2 "Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm"; Bd. 20; Deutscher Taschenbuchverlag, München 1984; Spalte 860 (Nachdruck der Erstausgabe: "Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm"; Bd. 10; Verlag von S. Hirzel; Leipzig 1942) 3 a.a.O. Spalte 863 4 a.a.O. Spalte 860 ff. 5 a.a.O. Spalte 866 6 a.a.O. Spalte 885 7 "Kantische Definition: die neigung, durch welche die vernunft verhindert wird, sie, in ansehung einer gewissen wahl, mit der summe aller neigungen zu vergleichen, ist die leidenschaft (passio animi). man sieht leicht ein, dasz leidenschaften ... der freiheit den gröszten abbruch thun, und wenn der 5 Neben den genannten Bedeutungszuordnungen wird häufig eine inhaltliche Verbindung zwischen Sucht und suchen unterstellt. Sprachgeschichtliche Zusammenhänge dieser beiden Begriffe können ausgeschlossen werden. Insbesondere aber im Hinblick auf gesellschaftlich anerkannte Künstler, die suchtmittelabhängig waren oder sind, wird Sucht mit der Suche nach Absolutem verbunden. Faßt man die genannten Aspekte zusammen, dann beinhaltet die sprachgeschichtlich tradierte Vorstellung von Sucht eine Mischung aus verwerflicher Sünde, ansteckender Krankheit, tödlichem Siechtum und dämonischer Besessenheit. Der Begriff Sucht stellt damit eine stark emotionalisierende Metapher dar, in welcher moralische Schuld und dämonische Bedrohung miteinander in Beziehung treten. So werden auf subtile Weise Vorstellungen vom Fegefeuer reaktiviert, die längst überwunden schienen. Auf dieser Grundlage bietet sich der Begriff Sucht vorzüglich als effektives ideologisches Herrschaftsinstrument an. So kann nicht nur die Reglementierung des individuellen Verhaltens mit dem Verweis auf "Sucht" legitimiert werden. Die Vorstellungen von Sucht und die damit verknüpfte Dämonisierung von Drogen eignet sich sogar zur Legitimierung von direkten militärischen Interventionen der USA in anderen souveränen Staaten (z.B. Brasilien und Mexico).8 So ist es denn auch nur folgerichtig, daß sich in der Suchtkrankenhilfe sowohl in der Diagnose, als auch in der Therapie immer wieder ordnungspolitische Interessen und Krankheitsvorstellungen vermischen. Auf der anderen Seite kann man davon ausgehen, daß zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte und in allen Kulturen Drogen und/oder andere Methoden (wie z.B. Fasten, Langstreckenlauf, Yoga etc.) eingesetzt wurden, um dem Bedürfnis nach veränderten Wachbewußtseinszuständen zu entsprechen.9 Den Anforderungen der gegenwärtigen industriellen Produktionsverhältnisse entspricht dagegen das "westlich-rationale Wachbewußtsein" bzw. die "stringente Ich-Rationalität". Wachbewußtseinszustände, die hierzu im Widerspruch stehen, werden dementsprechend tabuiert bzw. sanktioniert. Ähnlich wie Sexualität verweist Sucht in diesem Zusammenhang auf mögliche menschliche Lebensäußerungen, die sowohl von innen als auch von außen schwer kontrollierbar und unberechenbar erscheinen. So aktualisiert "Sucht" auch Phantasien und Wünsche, die gleichzeitig bedrohlich und faszinierend empfunden werden. affect ein rausch ist, die leidenschaft eine krankheit sei ... man benennt die leidenschaft mit dem worte sucht" a.a.O. Spalte 886 "ein den ganzen menschen ergreifender und beherrschender trieb, der ihn sein denken und handeln auf die erreichung bestimmter realer wunschziele monomanisch concentrieren läszt; durch dauer stärke und unersättlichkeit erscheint dieser trieb als krankhafte ausartung des willensleben und darum als ethisch verwerflich." a.a.O. Spalte 889 8 Günter Amendt; "Der große weiße Bluff"; Konkret Literatur Verlag; Hamburg 1987 9 Aldo Legnaro, "Ansätze zu einer Soziologie des Rausches - zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa" in "Rausch und Realität", Bd. 1, S. 93 ff., Hrsg.: G. Völger und K. v. Welck, rororo Hamburg 1982 6 2. BESCHREIBUNGSVERSUCH STÖRUNGSSPEZIFISCHER SYMPTOME VON ABHÄNGIGEN" Im Folgenden werde ich einige Erlebens- und Verhaltensaspekte skizzieren, die nach meinen Erfahrungen in der Jugend- und Drogenberatung als "typische Suchtphänomene" beurteilt werden können. Aus personenzentrierter Sicht ist dabei wichtig, genau auseinanderzuhalten, was "Abhängige" einerseits subjektiv als Probleme erleben, und mit welchen Verhaltensweisen sie andererseits typischerweise ihrer Umwelt auf die Nerven fallen. Daran anschließend versuche ich darzustellen, welche Bedeutung diese verschiedenen Erlebens- und Verhaltensaspekte "Abhängiger" erfahrungsgemäß im Kontakt mit ihren SozialpartnerInnen10. einnehmen können. Die ursächlichen intra- und interpsychischen Anteile und Prozesse - also warum die Sozialpartner in eine derartige symbiotische Beziehung gleiten sind damit nicht geklärt. Sie sind individuell vollkommen unterschiedlich und werden meiner Erfahrung nach erst im therapeutischen Prozeß deutlich. 2.1. Kennzeichnende Aspekte von "Abhängigkeit" a) Vermeidungshaltung "(Suchtmittel-)Abhängige" werden als Menschen erlebt, die ihren Lebensproblemen ausweichen, die sich nicht um die Bewältigung ihrer Probleme bemühen, und die sich statt dessen beispielsweise berauschen. Darüber hinaus erscheinen sie als Menschen, die es vermeiden, Konflikte auszutragen und Verantwortung zu übernehmen. Während "Abhängige" von außen auf diese Weise erlebt werden, haben sie selbst oft gar nicht das Gefühl, Probleme lösen, Konflikte austragen oder Verantwortung übernehmen zu müssen. Erst wenn eine "Suchtentwicklung" fortgeschritten ist, erleben "Abhängige" selbst unscheinbare Alltagsprobleme als unerträgliche Spannungsquelle und als Überforderung. b) Anspruchshaltung "Abhängige" werden als Menschen erlebt, die von ihren Partnern, Eltern etc. die Lösung und Bewältigung der eigenen Aufgaben und Schwierigkeiten erwarten. "Abhängige" erscheinen stets bemüht, alle Lebensanforderungen an andere zu delegieren. "Abhängige" selbst erleben ihr Empfinden und Verhalten dagegen oft als nicht beeinflußbaren Reflex auf Handlungen, Erwartungen etc. anderer. Das eigene Erleben und Handeln erscheint "Abhängigen" oft als die einzige Reaktionsmöglichkeit, die ihnen zur Verfügung steht. Sie haben nicht das Gefühl, daß sie in ihren Reaktionen zwischen mehreren Möglichkeiten entscheiden könnten. Damit liegt für sie auch die Verantwortung für eigenes Handeln und die damit verbundenen Konsequenzen bei diesen äußeren Bedingungen oder bei anderen Menschen. Schließlich kann auch das Nachdenken über sich selbst von anderen erwartet werden: "Wir suchen nicht, wir lassen uns bloß finden." (Aus einer Selbstcharakterisierung eines Alkoholikers). 10 Wenn ich in diesem Text vom "Abhängigen", Betroffenen, Ratsuchenden, Helfer etc. spreche, sind selbstverständlich sowohl Männer als auch Frauen gemeint. Leider ist es in der deutschen Sprache nicht möglich, dies befriedigend zum Ausdruck zu bringen, ohne den Sprachfluß zu stören. 7 c) Kontrollverlust "Abhängige" erleben sich als Menschen, die oft unfähig sind, Entscheidungen für das eigene Verhalten zu treffen und sie im Handeln konsequent durchzuhalten; sowohl bezogen auf den Suchtmittelkonsum, als auch bezogen auf die allgemeine Lebensführung. d) Dissoziiertes Erleben - Ambivalentes Selbstwertgefühl Auffallend ist bei "Abhängigen" eine extreme Ambivalenz des Selbstwertgefühls. Einerseits empfinden sie sich als omnipotent - sie haben das Gefühl, alles mit Leichtigkeit schaffen zu können und sie empfinden ein Gefühl der Macht, andere für sich springen lassen zu können. Andererseits empfinden sie starke Depressionen, fühlen sich vollkommen hilflos und ausgeliefert und hassen sich für ihre Lebensuntüchtigkeit, was sich in Selbstvorwürfen, Gewissensbissen und zerfleischender Selbstkritik äußert. 2.2. Die "süchtige" Beziehung - psychische Abhängigkeit Die den "Suchtmittelabhängigen" angelasteten Verhaltensaspekte (Vermeidung und Anspruchshaltung) lassen sich nur in Beziehungen mit anderen Menschen realisieren. Der Neigung, Problemen aus dem Weg zu gehen kann ein Mensch (A) nur dann nachgehen, wenn ihm ein Mensch (B) gegenübersteht, der die Neigung hat und sich deshalb dazu verführen läßt, A Probleme abzunehmen. In dem Maße, in dem B die Verantwortung für die Schwierigkeiten von A übernimmt, kann bei A die Vermeidungs- und Anspruchshaltung wachsen. Auf dieser Grundlage können Selbstkonzepte entwickelt werden, die die Aufnahme von Beziehungen nur durch die Festlegung auf eine dieser beiden Rollen zulassen. An einem meiner Erfahrung nach typischen Beispiel, will ich aufzeigen, wie der Sohn die Rolle A und die Mutter die Rolle B einnimmt. Darüber hinaus kann an diesem Beispiel aufgezeigt werden, wie in diesem Kommunikationsgeschehen die extreme Ambivalenz des Selbstwertgefühls des "Suchtmittelabhängigen" nachvollzogen werden kann: Ein "Suchtmittelabhängiger", dem Geld und Heroin ausgegangen sind, droht seiner Mutter: "Wenn Du mir kein Geld gibst, besorge ich es mir!" Die Mutter reagiert verzweifelt: "Ich kann doch nicht das Risiko in Kauf nehmen, daß mein Junge kriminell wird, ich muß doch für mein Kind da sein." Gleichzeitig fühlt sie sich erpreßt. Sie gibt ihm Geld, verzweifelt und mit einem schlechten Gewissen, ob sie nicht doch verkehrt handelt. Die Mutter läßt sich vom Sohn erpressen. Der Sohn kann dies so verstehen, daß er Macht über sie besitzt. In dieser Begegnung steckt die emotionale Doppeldeutigkeit, die genau den Extremen des ambivalenten Selbstwertgefühls des "Suchtmittelabhängigen" entspricht: Der übersteigerten Stärkung des Selbstwertgefühls des "Abhängigen" einerseits entspricht die Wahrnehmung "Ich habe Macht über meine Mutter." Das Gefühl des "Abhängigen" andererseits, völlig hilflos und ausgeliefert zu sein (was sich bis zum psychotischen Verfolgungswahn ausweiten kann) - also die Schwächung des Selbstwertgefühls - , entspricht der Botschaft der Mutter: "Mein Sohn, Du bist unmündig und von mir abhängig. Ich muß Dich vor der Kriminalität beschützen." Der Sohn bleibt abhängig von der Mutter und hat gleichzeitig Macht über sie. Ebenso paradox wie der Sohn empfindet auch die Mutter: Einerseits fühlt sie sich hilflos, ausgeliefert und erpreßbar. Andererseits fühlt sie sich überlegen ("ohne mich 8 kann er gar nicht überleben") und kann den Sohn auf diese verdeckte Weise an sich binden. Die Mutter fühlt sich für die Entscheidungen des Sohnes verantwortlich. Diesem Verantwortungsgefühl entspricht zusätzlich ein Machtanspruch über die Lebensentscheidungen des Sohnes. So demonstriert die Mutter dem Sohn: "Die Entscheidung, ob Du kriminell wirst oder nicht, will ich für Dich treffen." Anders ausgedrückt: "Du bist unmündig, Deine Entscheidung zu treffen. Ich muß Dich beschützen (vor dem Gefängnis)." Dieses Beispiel beschreibt eine so fortgeschrittene Entwicklung, in der die Mutter in aller Regel emotional kaum in der Lage ist, neue Verhaltensweisen auszuprobieren. Sie handelt mit dem Gefühl nur so und nicht anders reagieren zu können. Sie handelt nicht in dem Gefühl, souverän entscheiden zu können, wie sie sich verhalten soll. Vermutlich ist dieses Beispiel auch typisch für den Beginn einer Suchtentwicklung: Kennzeichnend erscheint mir, daß ein Sozialpartner für den anderen etwas macht (und wenn es sich zunächst nur um die Wäsche handelt), wobei hinter dieser Handlung die Haltung steht, der Partner sei nicht selbst in der Lage, für sich zu sorgen. In dieser Haltung verbinden sich Machtansprüche über den Sozialpartner mit dem Gefühl für ihn verantwortlich zu sein. Dazu gesellt sich nicht selten auch ein heimlicher Triumph über eine vermeintliche moralische Überlegenheit. Der "Abhängige" nimmt diese Haltung unterschwellig als Entwertung wahr. Auf dieser Grundlage setzt nunmehr der "Abhängige" an, indem er sich das Verantwortungsgefühl des Partners zunutze macht, um Macht über ihn auszuüben - ihn "springen zu lassen". Schließlich erpreßt er ihn, indem er sich "untüchtig" präsentiert. Auf diese Weise gelingt es "Abhängigen", den Machtanspruch ihrer Sozialpartner in ein Druckmittel gegen sie umzuwandeln. Es ist nur konsequent, daß "Abhängige" über eine hochsensible Wahrnehmung für alle Versuche und Ansätze der Machtausübung ihnen gegenüber verfügen. Dabei grenzen sie sich nicht gegen die äußeren Einflußnahmen ab, sondern verstärken sie eher im Sinne ihrer Umkehrstrategie. Die Drogen selbst - dabei ist es gleichgültig, ob es sich um Canabis, Alkohol, Heroin, Medikamente, Kokain oder verschiedene Kombinationen dieser Drogen (Polytoxikomanie) handelt - bieten im Entstehungsprozeß dieser Beziehung allen Beteiligten die Möglichkeit, die Wahrnehmungen der gegenseitigen Verstrickungen wirkungsvoll auszublenden. Die Sozialpartner blenden die Wahrnehmung ihrer aktiven Beteiligung an der "Abhängigkeit" aus, indem sie Gefühle wie Empörung, Wut, Entsetzen, Ekel und Haß auf die Droge fixieren und ihr zuschreiben, wie sich die "Abhängigen" ihnen gegenüber verhalten. "Suchtmittelabhängige" erleben nicht nur das Handeln ihrer Sozialpartner, sondern auch die Effekte ihres Drogenkonsums ambivalent: Einerseits erreichen sie durch ihren Drogenkonsum eine subjektiv effektive Befriedigung verschiedener Bedürfnisse. Andererseits werden durch den Drogenkonsum die "objektiven" Lebenssituationen, die sie an der Befriedigung ihrer Bedürfnisse ohne Drogenkonsum hindern, nicht verändert. Die "kennzeichnenden Erlebens- und Verhaltensaspekte Abhängiger" kennzeichnen nach dem bisher Beschriebenen auch das Verhalten der Sozialpartner: - Auch der Sozialpartner vermeidet den Konflikt mit dem "Abhängigen" und erledigt dessen Aufgaben etc. - Der Sozialpartner nimmt die Verantwortung für das Handeln des "Abhängigen" für sich in Anspruch. - Auch der Sozialpartner verliert die Kontrolle über sein Verhalten. Er hält beispielsweise seine Entscheidung, dem "Abhängigen" kein Geld zu geben, im praktischen Handeln nicht durch. 9 Die hier skizzierte Beziehungsdynamik ist mir in meiner Arbeit in verschiedenen Varianten begegnet. Inwieweit diese Beziehungsdynamik auf alle Erscheinungsformen von "Abhängigkeiten" zutrifft, müßte empirisch überprüft werden. Auch in der Suchtkrankenhilfe wird inzwischen die Bedeutung der Sozialpartner für "Abhängige" registriert. Gegenwärtig werden hier zunehmend familiendynamische Aspekte in die Diskussion eingebracht. Die Sozialpartner "Abhängiger" (flugs als "Co-Abhängige" tituliert) werden verstärkt sowohl in die Arbeit der Selbsthilfegruppen als auch in die professionelle Suchtkrankenhilfe einbezogen. An dieser Stelle möchte ich noch einmal hervorheben, daß die Beteiligten in der hier beschriebenen Beziehungsdynamik nicht nach berechnendem Kalkül handeln - auch wenn der Blick auf die Effekte dieser Handlungsweisen dies gelegentlich vermuten läßt. Sowohl "Abhängige" als auch deren Sozialpartner erleben ihr eigenes Handeln dagegen häufig als "etwas, was ihnen geschieht" oder als "etwas, was sich so ergibt". Nicht nur die eigenen Empfindungen, sondern auch viele der eigenen Handlungen, werden als nicht beeinflußbare Reaktionen auf äußere Einflüsse erlebt. Genau diese reaktiv erlebten Handlungen erscheinen mir als ein gemeinsames Erlebensmerkmal aller "Sucht-Erscheinungen". Reaktiv erlebte Handlung scheint mir auch eine zutreffendere Formulierung zu sein als der herkömmliche Begriff "Kontrollverlust". 3. DIAGNOSE ALS GLAUBENSFRAGE Eingangs wurden die sprachgeschichtlich tradierten Bedeutungszuordnungen von Sucht dargestellt. Danach sind "Süchtige" krank, ansteckend, charakterlos-sündig und besessen. Heute sind diese mystischen Vorstellungen von "Abhängigkeit" und Drogen keineswegs überwunden. Wenn z. B. Alkohol als "falscher" oder "hinterhältiger Freund" personifiziert wird, oder ein Richter Heroin "Teufelszeug" nennt, so kommt hier zum Ausdruck, wie konsequent im Alltag an solchen Dämonisierungen festgehalten wird. Die Droge ist nach diesen Vorstellungen nicht lediglich eine Chemikalie, die sich in irgendeiner Weise psychoaktiv auf den Organismus auswirkt, sondern ihr wird ein eigenständiges Leben unterstellt; sie wird zur - meist bösen Macht dämonisiert. Einige Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetzes ergeben sich aus einem (absolut irrationalen) Problemverständnis, wonach "Abhängigkeit" von illegalen (!) Drogen ansteckend ist.11 Auch hier wird die Beständigkeit der tradierten Bedeutungszuordnungen (hier: "Seuche") offensichtlich. Demgegenüber erscheint das klassische medizinische Krankheitsverständnis von "Sucht" als ein großer Fortschritt, indem es "Abhängige" vom Stigma der Sünde und der Charakterlosigkeit zu befreien sucht. Medizinisch wird "Abhängigkeit" als körperliche Krankheit verstanden, die (noch) nicht chemotherapeutisch oder chirurgisch zu heilen ist. Von zentraler Bedeutung dieses Krankheitsmodells ist die Hypothese der "Irreversibilität des Kontrollverlustes". Danach gilt, daß "Abhängige" nie wieder kontrolliert die Droge konsumieren können, von der sie "abhängig" sind. Für die Therapie bedeutet dies, daß "Abhängige" nicht heilbar sind, sondern daß sie ihre Krankheit nur durch Abstinenz unterbrechen können. Für "Abhängige" gilt demnach: Der Konsum der betreffenden Droge in geringsten Mengen löst den ganzen folgenschweren "SuchtMechanismus" aus. So fortschrittlich dieses Krankheitsmodell gegenüber früheren Vorstellungen auch sein mag, der wissenschaftliche Nachweis für die Hypothese der Irreversibilität des Kontrollverlustes konnte 11 Felix Herzog, „Die Verfolgung der ‘Drogenemigration’“; Neue Praxis 6/87; Luchterhand Verlag 10 bisher nicht erbracht werden - weder für die Droge Alkohol12, noch für die Droge Heroin.13 Wir müssen also zur Kenntnis nehmen, daß wir nicht wissen, ob der Kontrollverlust "Abhängiger" irreversibel ist. Dagegen gibt es ernst zu nehmende Hinweise dafür, daß dieses "Alles-odernichts-Modell" von Sucht zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden kann. "Gerade bei der Frage der subjektiven Rückfallverarbeitung beeinflußt das Selbstkonzept der eigenen Abhängigkeit kurz-, mittel- und langfristige Folgen des Drogenkonsums nach einer Zeit der Abstinenz. Verfügt der Abhängige über ein "Alles- oder-Nichts"-Modell (...), dann wird der Rückfall, im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, der Einstieg in gewohnte extrem mißbräuchliche Gebrauchsmuster sein. Begreift der Drogenabhängige seinen Rückfall als Ausdruck seiner Auseinandersetzung mit dem Konflikt "Drogenkonsum vs. Drogenverzicht", dann werden die Folgen des einmaligen Gebrauchs ganz erheblich danach variieren, wie er zur Zeit erlebt, was dieser einmalige Rückfall für ihn bedeutet, welche Bedingungen sich dadurch verändern etc."14 Prognosen, also Aussagen darüber, wie jemand zukünftig konkret auf den Konsum einer Droge reagiert, haben keine wissenschaftliche sondern bestenfalls individuell intuitive Grundlagen. Offensichtlich spricht einiges dafür, daß der Begriff "Sucht" auch heute in seiner ursprünglichen, sprachgeschichtlich tradierten Bedeutung verwendet wird: Er steht für eine Krankheit, deren Wesen wir nicht verstehen. Dem entspricht, daß die fachliche Auseinandersetzung um das Dogma der Irreversibilität des Kontrollverlustes eher einem Glaubenskrieg als einem wissenschaftlichen Diskurs gleicht. Dies liegt wohl daran, daß mit der Aufgabe dieser Hypothese das inhaltliche Fundament der professionellen Suchtkrankenhilfe zusammenbrechen würde. Das medizinische Krankheitsmodell von "Abhängigkeit" bildet praktisch die entscheidende Grundlage der professionellen Suchtkrankenhilfe. Wie gesagt, diesem Krankheitsverständnis entspricht die Verordnung der Abstinenz als zentrale therapeutische Maßnahme. Das Problem der Therapie verlagert sich damit auf die Frage, wie kann der Patient zu seinem Glück - sprich Abstinenz - veranlaßt werden? Hier boten sich die Disziplinen Psychologie, Soziologie und andere Motivationsspezialisten an und entwickelten raffinierte Psychotechniken und ausgeklügelte pädagogische Strategien, die sich an dieser Zielsetzung orientieren. Parallel dazu wurden mit großem Eifer dementsprechende Theorien entworfen, die den "Abhängigen" die verschiedensten Defizite attestieren. Die Bandbreite und Anzahl dieser Theorien sind für mich als Praktiker kaum noch zu überschauen. Wenn "Defizite" eines Menschen definiert bzw. diagnostiziert werden, werden zwangsläufig paradigmatische Vorstellungen darüber zugrunde gelegt, wie eine "gesunde" psychische Verfassung auszusehen hat - ob sie nun explizit formuliert werden oder nicht. Mit der Frage nach dem psychisch gesunden individuellen Subjekt stellen sich jedoch erkenntnistheoretische Probleme, die bisher noch nicht allgemein befriedigend gelöst sind.15 Allen Theorien, die sich 12 Stanton Peel: "Der Streit um das 'kontrollierte Trinken'"; Psychologie Heute 9/83 und J. Schenk: "Alkoholismus"; in Eyferth, Otto, Thiersch (Hrsg.); "Handbuch zur Sozialarbeit / Sozialpädagogik; Luchterhand Verlag; Darmstadt 1987 13 Forschungsprojekt Selbstheiler - Ausstiegsprozesse bei Heroinabhängigkeit und Polytoxikomanie: "Ausstieg aus der Drogensucht am Beispiel der Selbstheiler - Zwischenbericht 1986"; Fachhochschule Frankfurt; Frankfurt am Main 1987; hektographiert 14 a.a.O.; S. 72 15 Johannes Herwig-Lempp: "Drogenabhängigkeit als Erklärungsprinzip"; drogen-report 1/87; S. 12 ff. Eine aus personenzentrierter Sicht höchst aufschlußreiche erkenntnistheoretische Reflexion zu diesem Themenkomplex enthalten die Artikel von J. Hartmann: "Unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten der 11 bemühen Persönlichkeitsdefizite festzuschreiben, begegne ich auf diesem Hintergrund mit wohl dosierter Skepsis. 4. DIAGNOSE ALS ENTMÜNDIGUNG Die Begegnung zwischen professionell Helfenden und Klienten basiert auf dem Hintergrund dieser Diagnosen grundsätzlich auf einer entmündigenden Ausgangsposition: Der Helfer weiß, welche Lebensentscheidungen für den Patienten richtig sind (nämlich die für Abstinenz) - dieser muß das nur irgendwie einsehen. Im vorletzten Abschnitt wurde darauf hingewiesen, daß das reaktiv erlebte Handeln "Abhängiger", das Gefühl, nicht Souverän der eigenen Handlungen zu sein, von zentraler Bedeutung ist. Genau dieses leidvolle Erleben wird durch die gängige Diagnose in der Suchtkrankenhilfe noch verstärkt. In dem Maße, indem das auf der gängigen diagnostischen Grundlage und der damit verbundenen Haltung entwickelte psychologische und pädagogische Instrumentarium (wie z. B. restriktive Reglementierungen, aufdeckende Verfahren und Konfrontation) für den "Abhängigen" undurchschaubar bevormundend ist, eignet es sich dazu, das Selbsterleben der "Abhängigen", nämlich nicht Subjekt der eigenen Handlungen zu sein, zu verstärken bzw. festzuschreiben. Erscheint dem "Abhängigen" sein Handeln oft als ein für ihn nicht zu kontrollierender Reflex auf äußere Einflüsse, so müssen ihm seine Reaktionen in der "Therapie" - die er nicht durchschauen kann - als ebensolche Reflexe erscheinen. Die Diagnose "Abhängig" in der Suchtkrankenhilfe wird für den dergestalt Diagnostizierten zu einer psychologistischen Konstruktion - zu einer Art psychischer Gummizelle -, die ihm tendentiell die Möglichkeit raubt, sich als Souverän seiner Selbst zu erleben. Nach dieser Einschätzung ist es verwunderlich, daß im gegenwärtigen Betrieb der Suchtkrankenhilfe "Therapie" überhaupt gelingt. Ich vermute, sie gelingt - trotz der contraproduktiven diagnostischen Vorstellungen - dort wo Helfer und "Abhängige" die institutionell verankerte Begegnungsgrundlage überwinden können. Tatsächlich werden von Mitarbeitern in Einrichtungen der Suchtkrankenhilfe "heimliche Curricular" entwickelt, die im Widerspruch zum herrschenden - finanzierungsfähigen - medizinischen Krankheitskonzept stehen.16 Konfrontation und aufdeckende Verfahren als Interventionsformen in der Suchtkrankenhilfe werden oft mit dem Verweis auf die Arbeit der Selbsthilfegruppen legitimiert. Dabei wird ein entscheidender Unterschied zwischen Selbsthilfegruppe und professioneller Hilfe übersehen: Wenn in der Selbsthilfegruppe ein Teilnehmer recht drastisch eigene Erfahrungen - die eigene Realität - darstellt, dann kann dies auf jene massiv konfrontativ wirken, die sich selbst in den Erfahrungen des anderen ganz unverhofft wiederfinden. In der Selbsthilfegruppe gilt dabei der zentrale Grundsatz, daß jeder nur über sich selbst spricht - nicht über andere. Wenn ein professioneller Suchtkrankenhelfer "konfrontiert", spricht er dagegen nicht von sich und seinen eigenen Erfahrungen, sondern über seinen Gesprächspartner. Hierin liegt der wesentliche Unterschied: Das, was in der Selbsthilfegruppe konfrontativ wirkt, beinhaltet keine Entmündigung. Der Gruppenteilnehmer spricht von sich und urteilt nicht über die Realität eines anderen. Wenn der professionelle Suchtkrankenhelfer "konfrontiert", beinhaltet dies dagegen eine Entmündigung gegenüber dem Ratsuchenden. Der Helfer maßt sich an, die "Realität" des Klienten besser und zutreffender zu erfassen, als dieser selbst. Person- und Klientenzentrierung. Teil I bis III"; GWG Info Nr. 60, 61 und 63; Selbstverlag der GWG Köln 9/1985; 12/1985 und 6/1986 16 Forschungsprojekt Selbstheiler - Ausstiegsprozesse bei Heroinabhängigkeit und Polytoxikomanie: "Ausstieg aus der Drogensucht am Beispiel der Selbstheiler - Zwischenbericht 1986"; Fachhochschule Frankfurt; Frankfurt am Main 1987; hektographiert; S.48) 12 Auf der anderen Seite verführt die Diagnose "Abhängig" in der Praxis auch dazu, daß Helfer Eigenanteile, also emotionale Reaktionen, die die Hilfesuchenden bei ihnen auslösen, in pathologische Zuschreibungen umwandeln. Menschen, die sich selbst als passiv-reaktiv handelnd erleben, die ihr eigenes Handeln oft selbst nicht verstehen - es nicht fassen geschweige denn beeinflussen können, fühlen sich extrem hilflos. Das Auftreten "Abhängiger" heischt oft derart nach Hilfe, daß man eigentlich annehmen müßte, sie seien die idealen Klienten. Da nun aber Helfer nicht ersatzweise das Leben der Hilfesuchenden leben können und sehr schnell an die Grenzen ihrer Möglichkeiten geraten, fühlen sie sich selbst auch bald sehr hilflos - was von ihnen in der Regel als höchst unattraktives Gefühl empfunden wird. Steht eine Person, mit dem beruflichen Auftrag zu helfen, einer Problemsituation hilflos gegenüber, gerät sie leicht in existentiell bedrohliche Legitimationsnöte. Gewinnt das Gefühl der Hilflosigkeit eine Dimension, die für die helfende Person einfach nicht mehr zu ertragen ist, wirkt entschiedenes Handeln ungemein entlastend und erleichternd. Ich denke, daß genau dieses unerträgliche Gefühl der Hilflosigkeit Helfer darin bestärkt, "Abhängigen" eine Diagnose zuzuordnen, die ihnen ihre Verantwortlichkeit für ihre Entscheidungen abspricht. Diese Diagnose befreit Helfer aus ihrer Hilflosigkeit, indem sie erlaubt, Entscheidungen für den "Abhängigen" zu treffen. Das Selbst-Erleben der betroffenen Person, nicht Souverän ihrer Selbst zu sein, wird hierdurch bestätigt. Sich selbst als Subjekt der eigenen Handlungen wahrzunehmen, wird in dieser Situation verhindert. Nimmt der - nunmehr zum "Patienten" avancierte - Ratsuchende diese Diagnose nicht an, reagiert er gar ganz selbstbestimmt, indem er sagt "So stimmt das nicht!", verärgert den Helfer dieser "Widerstand". In dieser Situation greift er zur "Konfrontation" und "stellt Realitätsbezug her", weil er im Unterschied zum Klienten besser weiß, was Realität ist und was nicht (denkt er!). In Konzepten der Fachkliniken für "Abhängige" ist oft eine erste "Phase" vorgesehen, in der die therapeutische Zielsetzung darin besteht, daß die Klienten "Krankheitseinsicht" gewinnen. Man mache sich allein die Bedeutung dieser Wortschöpfung klar: Unterstellt wird die Notwendigkeit, daß jemand, der sich offensichtlich gar nicht krank fühlt, mit medizinischen, pädagogischen und anderen "therapeutischen" Interventionen traktiert werden muß, damit er sich krank fühlt - also "Krankheitseinsicht" erhält! Es gibt noch ein anderes, im Alltag der Suchtkrankenhilfe handlungsleitendes, Motiv: Angst. In diesen Fällen schildern Suchtkrankenhelfer ihre Begegnungen mit "Abhängigen" wie Zweikämpfe bzw. Duelle. So z.B. in der Formulierung "Der wollte mich über den Tisch ziehen", o.ä.. Hinter dieser Ausdrucksweise steht meinem Eindruck nach die Angst, sich gegenüber dem "Abhängigen" nicht genügend abgrenzen zu können. Ich selber habe immer wieder erlebt, wie ungeheuer schwierig dies ist. Das therapeutische Instrument der Wahl in diesen Fällen heißt "Grenzen setzen". Nicht weil der Therapeut dies braucht (was ich ja nur allzugut verstehen kann!), sondern weil es gemäß der Diagnose "für den Klienten therapeutisch konstruktiv und wichtig" ist. Die Lebensführung der Klienten ist in sämtlichen Fachkliniken extrem reglementiert. Sexuelle Beziehungen sind entweder ganz verboten oder müssen mindestens im Plenum "aufgearbeitet" werden. (Wer möchte schon vor großem Publikum ausbreiten, daß zwischen ihm und jemand anderem ein zartes Pflänzchen der Liebe durch den Boden gebrochen ist?) Das störungstypische Selbsterleben, nicht Souverän der eigenen Handlungen zu sein, wird mit diesen Interventionen eher verstärkt. Es dürfte deutlich sein, daß diese Strategien professionellen Helfern kurzfristig Entlastung bieten, daß sie aber keineswegs geeignet sind, "Abhängigen" in ihrem zentralen Problem zu helfen. Gefühle wie Hilflosigkeit, Wut oder Angst bei Helfern sind sicherlich nicht abzuschaffen. Nur sollte man m.E. davon absehen, die Menschen zu pathologisieren, die bei Helfern derartige Gefühle auslösen. Die Gefühle der Helfer sind Thema der Supervision. In der Suchtkrankenhilfe wird heute noch häufig die "Verstärkung des Leidensdruckes" als konstruktive therapeutische Intervention erachtet. Für Betroffene erscheint dies - wie andere in 13 der Suchtkrankenhilfe favorisierte "konfrontative" Strategien - als Druck, das persönliche Selbstkonzept gefälligst aufzugeben. Ist es aber nicht so, daß jeder äußere Druck, der die Zerstörung des Selbstkonzeptes erzwingen will, uns Menschen in der Regel dazu veranlaßt, nun erst recht besondere Anstrengungen zu unternehmen, an unserem Selbstkonzept - und sei es noch so brüchig - festzuhalten? Bedeutet die Aufgabe des Selbstkonzeptes unter solchen Bedingungen nicht den Verlust der eigenen Identität als selbstbestimmtes Subjekt? Mobilisiert dies nicht die Angst, sich zu verlieren - zu sterben? In der Suchtkrankenhilfe wird zum Teil ganz explizit die Haltung vertreten, der Zusammenbruch des Selbstkonzeptes sei eine notwendige Grundlage, um anschließend im "Therapieprozeß" eine neue, "gesunde" Identität entwickeln zu können - wird die Identität des Klienten auf diese Weise nicht zum Spielobjekt und Ersatzprodukt des Therapeuten? Fakt ist jedenfalls, daß viele "Abhängige" diese Art von "Hilfe" nicht wollen - lieber schlucken, drücken oder schnüffeln sie sich zu Tode. Im Unterschied zu den Therapeuten ist es den Drogen nicht möglich, den Menschen das Gefühl zu nehmen, daß "sie sich treu geblieben sind". 5. PERSONENZENTRIERTE PSYCHOTHERAPIE FÜR "ABHÄNGIGE" An dieser Stelle möchte ich ausführen, daß ich in der personenzentrierten Psychotherapie ein durchaus adäquates und konstruktives Hilfsangebot für "Abhängige" sehe. Darüber hinaus werde ich den Versuch unternehmen, störungsspezifische Problemstellungen im Hinblick auf personenzentrierte Psychotherapie mit "Abhängigen" zu beschreiben. Ich betrachte diesen Versuch als einen Anfang - d.h. vieles von dem, was ich hier verallgemeinernd formuliere, bleibt ohne empirische Überprüfung hypothetisch und unvollständig. Hinzu kommt, daß dieser Versuch auf meinen Erfahrungen im Setting einer Beratungsstelle basiert. Sicherlich stellen sich beispielsweise im klinischen Setting andere Probleme. 5.1. Die Bedeutung des Symptoms In der personenzentrierten Theorie werden Symptome als Bewältigungsstrategien verstanden, die einmal eine optimale Problemlösung dargestellt haben, die aber im Verlauf der Biographie der Betroffenen dysfunktional geworden sind. Im Verlauf einer personenzentrierten Psychotherapie besteht die Möglichkeit, daß der Klient ganz allmählich seine Selbstwahrnehmungs- und Selbstexplorationsfähigkeit soweit entwickelt, daß er die Bedeutung des Symptoms in seinem persönlichen Bezugsrahmen zu erkennen vermag. In diesem Prozeß kann der Klient sich zunehmend auch damit auseinandersetzen, ob ihm das Symptom auch aktuell noch nutzt und was es ihm nutzt. Erst wenn das Symptom gegenwärtig eindeutig als obsolet und destruktiv begriffen und erlebt wird, besteht die Veranlassung, das Symptom aufzugeben. In der Therapie wird folglich nicht das Ziel verfolgt, das Symptom rasch zu beseitigen, sondern es wird in seiner Bedeutung respektiert. Nicht so in der Praxis bei Suchtproblematiken. Das, was im Hinblick auf andere Symptome erst als mögliches Ergebnis einer Psychotherapie erwartet wird, wird in der gängigen Praxis der Suchttherapie zur Voraussetzung gemacht, bevor mit der Therapie begonnen wird. Für viele Menschen, die Probleme mit ihrem Suchtmittelkonsum haben, stellt dies eine unüberwindbare Barriere dar. Demgegenüber stellt personenzentrierte Psychotherapie ein adäquates und konstruktives Hilfsangebot dar. Hier wird von den Hilfesuchenden nicht von vornherein ein bedingungsloses Bekenntnis verlangt, dem Symptom entsagen zu wollen (ohne zu wissen, welche Bedeutung es eigentlich einnimmt). 14 In der Suchtkrankenhilfe heißt das zentrale Symptom "Kontrollverlust" - manchmal auch "Rückfall" genannt.17 Aus dem Blickwinkel des persönlichen Erlebens bezeichnet der Begriff "Kontrollverlust", daß mir meine eigenen Handlungen (beispielsweise Trinken, Geld verspielen, Hungern etc.) als unbeeinflußbare Reflexe auf äußere Einflüsse erscheinen. Genau diese reaktiv erlebten Handlungen erscheinen mir als ein gemeinsames Erlebensmerkmal aller "Sucht-Erscheinungen". Der Blick konzentriert sich hierbei nicht nur auf den Kontrollverlust bezogen auf das spezifische Suchtverhalten. Auch wird damit nicht die Hypothese der Irreversibilität des Kontrollverlustes verbunden. Der Blick richtet sich vielmehr auf ein Erleben, das ich bei "Abhängigen" für typisch halte und das sich bei ihnen in allen Lebensbereichen immer wieder aktualisiert. Im Sinne von ROGERS können reaktiv erlebte Handlungen als Anteile des Gesamterlebens verstanden werden, die in unvereinbarem Widerspruch zum Selbstkonzept stehen. Diese Handlungen können aufgrund ihres Widerspruches zum Selbstkonzept vom Individuum nur als nicht beeinflußbare Reflexe auf äußere Einflüsse wahrgenommen werden. Sie können gar nicht anders erlebt werden, als etwas, das einfach "passiert", das sich eben "so ergibt". So verstanden, erscheinen reaktiv erlebte Handlungen als Symptom, als Aktualisierung der Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und Gesamterleben. Diese Definition wird möglicherweise für viele Alltagshandlungen eines "normalen", "nicht-abhängigen" Bürgers ebenfalls zutreffen. Hier stellt sich das gleiche Problem, das auch für den Begriff "Sucht" zutrifft. Die Grenze zwischen reaktiv erlebten Handlungen und jenen Handlungen, die als souveräne und selbstbestimmte Lebensäußerungen empfunden werden, ist nicht objektiv meß- bzw. bestimmbar. Da diese inhaltliche Zuordnung aus dem Blickwinkel des Erlebens der Betroffenen formuliert ist, kann auch keine Fremdzuschreibung vorgenommen werden. Jeder kann nur für sich selbst "diagnostizieren", ob er das eigene Verhalten als reaktiv erlebt, oder ob er sich als aktiv und souverän handelndes Subjekt erlebt. Ich vertrete in diesem Zusammenhang die Auffassung, daß jene Menschen, die ihr Erleben, nicht Souverän der eigenen Handlungen zu sein, als behandlungsbedürftige psychische Störung empfinden, einen Anspruch auf psychotherapeutische Hilfe haben. 5.2. Das personenzentrierte Beziehungsangebot für "Abhängige" Im Abschnitt "2.2." habe ich eine Beziehungsdynamik skizziert, die ich bei "Abhängigen" für typisch halte. "Abhängige" haben erfahrungsgemäß vorzugsweise Sozialpartner, die sich für das Handeln der "Abhängigen" so verantwortlich fühlen wie für das eigene. Gleichzeitig stellt der Kontrollverlust in der suchttypischen Beziehungsdynamik ein effektives Machtmittel gegenüber dem Sozialpartner dar. In dem Maße, in dem sich der "Abhängige" als lebensuntüchtig präsentiert, fühlt sich der Sozialpartner gezwungen, sich für ihn einzusetzen. Meiner Auffassung nach reproduzieren Therapeuten diese Beziehungsstruktur, wenn sie (wie die Mutter im Beispiel) eine bevormundende Haltung gegenüber "Abhängigen" einnehmen. Gerade die in der Suchttherapie favorisierten Techniken, wie aufdeckende Verfahren und Konfrontation, resultieren aus einer Haltung, die dem Klienten die Fähigkeit abspricht, selbst 17 Diese handlichen Begriffe haben es mir schwer gemacht, mich konsequent auf das persönliche Erleben der Betroffenen einzulassen, welches sich hinter diesen Begriffen verbirgt. Die Begriffe suggerieren allzuleicht, daß man versteht worum es geht und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Aus personenzentrierter Sicht ist es zunächst erforderlich, die Symptome aus dem subjektiven Erleben der Betroffenen zu beschreiben und nachzuvollziehen. In einem zweiten Schritt kann sich die Frage anschließen, welche Bedeutung dieses spezifische Erleben im subjektiven Bezugsrahmen der Betroffenen einnimmt. 15 entscheiden zu können wann er was einbringen will, um für sich weiterzukommen (siehe Abschnitt "4."). Ein personenzentriertes Beziehungsangebot bietet dagegen die Chance, die Beziehungsstruktur "Abhängiger" gerade nicht zu reproduzieren. Personenzentrierte Psychotherapie beläßt die Entscheidungskompetenz, wann und was vom Klienten eingebracht wird, konsequent bei ihm. Im Unterschied zu etlichen anderen Hilfsangeboten haben "Abhängige" in einer personenzentrierten Psychotherapie die Chance sich selbst weiterzuentwickeln, ohne unter einem athmosphärischen, äußeren Druck zu stehen, sich in irgendeiner Weise zu verändern. Das personenzentrierte Beziehungsangebot - geprägt von Kongruenz, bedingungsloser Akzeptanz und Empathie - ist die nötige und ausreichende Voraussetzung für Wachstum und Veränderung. Hier können "Abhängige" ihre Selbstwahrnehmung weiterentwickeln. Warum sollte ausgerechnet für "Abhängige" das von ROGERS formulierte Axiom der Aktualisierungstendenz nicht zutreffen? 5.3. Störungsspezifische Merkmale der Therapeutenvariablen: "Akzeptanz, Empathie und Kongruenz" Die Therapeutenvariable bedingungslose Akzeptanz hat auch in der personenzentrierten Psychotherapie mit "Abhängigen" ihre konstitutive Bedeutung. Die therapeutische Aufgabe besteht darin, den Suchtmittelkonsum und die übrigen Erlebens- und Verhaltensweisen "Abhängiger" aus ihrem Bezugsrahmen heraus verstehen zu lernen. So provozierend es klingen mag, auch wenn Klienten sich entscheiden, ihren Suchtmittelkonsum fortzusetzen, ist dieser Entscheidung bedingungslose Akzeptanz entgegenzubringen. Ich habe schon ausgeführt, daß der Kontrollverlust - also reaktiv erlebtes Handeln - von zentraler Bedeutung für "Abhängige" ist. Der suchttypische Kontrollverlust (spielen, trinken etc.) ist für die Klienten häufig mit sehr viel Scham verbunden und hat für sie oft eine viel zu bedrohliche Bedeutung, als daß sie sich damit direkt konstruktiv auseinandersetzen können. Schließlich stellt der suchtspezifische Kontrollverlust im Erleben "Abhängiger" die für sie schlimmste Ausprägung reaktiv erlebter Handlungen dar. Nun erleben "Abhängige" Kontrollverlust nicht nur in Bezug auf ihren Suchtmittelkonsum. Auch in ihrer übrigen Lebensführung erleben sie ihr Verhalten häufig als reaktiv. So lassen sich in der personenzentrierten Psychotherapie reaktiv erlebte Handlungen in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen thematisieren. D. h. in der Therapie können reaktiv erlebte Handlungen auf Bedeutungsebenen reflektiert werden, die den Klienten zugänglich sind - die sie aushalten können. Damit entfällt auch jede Notwendigkeit, bei allen möglichen (und unmöglichen) Gelegenheiten die Klienten mit ihrem spezifischem Kontrollverlust zu konfrontieren. Ähnliches gilt auch für den personenzentrierten Umgang mit dem, was in der Suchtkrankenhilfe als "Vermeidung" bezeichnet wird. Damit ist gemeint, daß "Abhängige" typischerweise ihre "Dreckecken" verheimlichen und/oder lügen. Das, was - m.E. sehr moralisierend - als Verheimlichung und Lüge disqualifiziert wird, ist nach meinem Verständnis die konsequente Reaktion eines Menschen, der an sich Handlungen und Gefühle erlebt, die einfach nicht zu seinem Selbstkonzept passen. Meiner Erfahrung nach erleben "Abhängige" oft auch ihre Lügen als unbeeinflußbare Reflexe auf äußere Einflüsse, also als reaktiv erlebte Handlungen. Anstatt Betroffene mittels "Herstellung von Realitätsbezug" oder "Konfrontation" zurechtzuweisen, kann in der personenzentrierten Psychotherapie verbalisiert werden: "Es ist ihnen eine ganz schlimme Vorstellung, daß jemand sie sieht, wenn sie trinken" "Die Vorstellung, Deine Eltern könnten wissen, was Du tust, macht Dir Angst" Im Abschnitt "2." bin ich bereits darauf eingegangen, daß "Abhängige" oft ihr Selbstwertgefühl extrem ambivalent erleben, und ich habe versucht zu skizzieren, wie dieses Erleben der 16 suchttypischen Beziehungsdynamik entspricht. Auch hier gilt es, sich im personenzentrierten Hilfsangebot um Empathie zu bemühen. D.h. ich versuche mich auch in die Wechselhaftigkeit des Selbstwertgefühls einzufühlen. Dabei wird mir immer wieder deutlich, wie eng diese scheinbar polaren Gefühlszustände beieinander liegen, und wie unvermittelt sie einander abwechseln können, was wiederum für die Klienten selbst oft sehr bedrohlich ist.18 Ich erlebe immer wieder, wie stark ich mich durch "Abhängige" unter Druck gesetzt fühle. Sei es durch die Gefühle, die sie zum Ausdruck bringen oder durch massiv vorgetragene konkrete Erwartungen. In der Suchtkrankenhilfe wird dies als suchttypische Anspruchshaltung auf Seiten der Klienten diagnostiziert. Um diese Anspruchshaltung wegzutherapieren werden Konzepte entwickelt, in denen Klienten Grenzen gesetzt werden, damit diese lernen, mit Grenzen zu leben. Die Haltung, die diesen Verfahren zu Grunde liegt, entfaltet starke entmündigende Effekte. Hier wird den Menschen keine Wertschätzung entgegengebracht, sondern sie werden zum Objekt reduziert, das beschnitten werden muß. Ich versuche dagegen, mich gegenüber Erwartungen insoweit klar und eindeutig abzugrenzen, daß ich für mich noch genug Raum finde und mich hinreichend gelassen fühlen kann, um ein adäquates und therapeutisch konstruktives Beziehungsangebot aufrechterhalten oder neu formulieren zu können. Ich lasse die Grenzen gelten, die ich persönlich auch als meine Grenzen erlebe. So versuche ich Erwartungen nur insoweit zu entsprechen, daß in mir nicht negative Gefühle gegenüber dem Hilfesuchenden entstehen (z.B.: Ärger darüber, daß ich mich ausbeuten lasse o. ä.). Ich halte in diesem Zusammenhang nichts von allgemein gültigen Regelungen oder Kriterien. So lehne ich z.B. nicht grundsätzlich Gespräche ab, wenn jemand unter Drogen steht. Erst wenn ich für mich das Gefühl habe, keinen Kontakt mehr zu meinem Gesprächspartner zu haben, breche ich ein Gespräch ab. 18 In der Suchtkrankenhilfe wird bei "Abhängigen" oft eine Neigung zu extremer Selbstüberschätzung diagnostiziert. Dementsprechend wird der therapeutische Anspruch erhoben, in diesen Situationen Realitätsbezug herzustellen. Ich halte es einfach nicht für erforderlich, Klienten damit zu konfrontieren, wie klein und hilflos sie sind, wenn sie sich gerade groß und stark fühlen. Ich habe meine Zweifel, ob Konfrontationen mit der Personenzentrierung überhaupt vereinbar sind. Der Begriff Konfrontation enthält sicher nicht zufällig die Buchstabenfolge "Front". Ich habe mit diesem Wort immer die Vorstellung eines Kampfes verbunden - mit Siegern und Besiegten. Und ich habe diejenigen, die den Standpunkt vertreten haben, Konfrontation sei in der therapeutischen Beziehung eine Notwendigkeit, immer als Kämpfende erlebt. Nach meiner Auffassung hat Konfrontation in diesem Sinne innerhalb der Personenzentrierung keinen Platz. Sehr viel Raum hat hier dagegen die Präsentation persönlicher Erlebensvorgänge von Seiten des Therapeuten bzw. des Beraters. In diesem Zusammenhang wünsche ich vielen personenzentrierten KollegInnen ein hohes Maß an Mut, sich deutlich zu zeigen. Personenzentrierung beinhaltet für mich allerdings, daß die Präsentation personaler Wahrnehmungen eingebettet bleibt in eine personenzentrierte Haltung. Daß heißt, daß der Therapeut / Berater bereit und in der Lage ist, zu akzeptieren, was immer der Klient / Ratsuchende mit diesen Präsentationen anfängt. Manchmal merke ich, wie ich mit meinem Gegenüber darum ringe, daß es etwas von mir annimmt. Sowie ich dies wahrnehme, versuche ich mich zu entspannen. Ich schmecke in mich hinein und wundere mich, was in mir vorgeht. Meistens bin ich dann zunächst recht verwirrt. Diese Verwirrung habe ich immer wieder als Durchgang zu neuer Erkenntnis und zu neuem Verständnis erlebt. Mir gelingt es heute viel besser als früher, meine Angst vor der Verwirrung zu bewältigen. Ich brauche nicht weiter zu kämpfen. Ich kann mich aber sehrwohl als derjenige präsentieren, mitteilen, der gekämpft hat und sich jetzt darüber wundert. Danach beginnt Begegnung ganz neu. Während meiner therapeutischen Arbeit mit einer Klientin, die von einem örtlichen Psychiater als "Borderliner" diagnostiziert wurde, habe ich genau diesen Prozeß in einer für mich existentiell beängstigenden Intensität durchlebt. Diese Erfahrung gehört heute zu den Bedeutendsten in meinem Entwicklungsprozeß in Richtung Personenzentrierung. 17 6.) PERSONENZENTRIERTE HILFSANGEBOTE FÜR ANGEHÖRIGE VON "ABHÄNGIGEN" Angehörige von "Abhängigen", die sich hilfesuchend an eine Beratungsstelle wenden, haben in der Regel bereits einen langen Leidensweg hinter sich. Ihr Erleben setzt sich aus einem Konglomerat aus überwältigenden Gefühlen zusammen: - Das Verhalten und die Entwicklung der "abhängigen" Angehörigen versetzt sie in Angst. - Das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit ist für sie derart unerträglich, daß sie verzweifelt nach Einflußmöglichkeiten suchen. - Sie haben in der Regel bereits sehr viele Enttäuschungen und Verletzungen erlitten. Wenn sie ihre Wut und ihren Haß wahrnehmen, fühlen sie sich obendrein oft schuldig. - Bei Eltern kommt noch ein besonders starker Druck durch die Außenwelt hinzu: "Nun sagen Sie Ihrer Tochter doch mal, wo`s lang geht! Ich hätte längst ..." Im Abschnitt "2.2." habe ich versucht, die Beziehungsdynamik zwischen "Abhängigen" und deren Angehörigen zu skizzieren. Dem entspricht, daß sich Angehörige typischerweise für das Handeln der "Abhängigen" so verantwortlich fühlen, als wäre es ihr eigenes. Wenn beispielsweise der Sohn die Konsequenzen seines Handelns nicht sehen will, die ihm seine Mutter aber vor Augen halten will, und die ihr von dramatischer Bedeutung erscheinen (ihre Sorge), fühlt sie sich unter Druck diese Konsequenzen auf irgendeine Weise zu verhindern. Angehörige von "Abhängigen" erleben sich als Menschen, die keinen souveränen Einfluß auf ihr eigenes Lebensgefühl nehmen können. Ihr Erleben ist abhängig vom Verhalten der "Abhängigen". Oft können sie auch ihre eigene Zukunft von der der "Abhängigen" nicht unterscheiden. Recht salopp hat dies ein Kollege aus Berlin einmal so formuliert: "So, wie die Junkies sich ihre Droge `reinziehen, drücken sich deren Eltern ihre Kinder rein." Wenn Angehörige von "Abhängigen" sich an eine Beratungsstelle wenden, setzen sie darein oft ihre letzten Hoffnungen, doch noch Einflußmöglichkeiten auf den "Abhängigen" zu finden. Ein personenzentriertes Hilfsangebot beinhaltet in dieser Situation nicht, sich als "Überpädagoge" aufzuführen, der in der Lage sei, allerlei Psychotricks auszupacken, die die Angehörigen vordergründig handlungsfähig machen im Sinne einer Einflußnahme auf den "Abhängigen". Helfer, die dies versuchen, werden von den Angehörigen erfahrungsgemäß schnell enttäuscht. "Ja, aber das haben wir auch schon probiert ...". So oder ähnlich lauten die entsprechenden Reaktionen. Personenzentrierte Hilfe besteht hier darin, die für die Angehörigen so beängstigende Hilflosigkeit wahrzunehmen und auszuhalten. Gleichzeitig gilt es auf Seiten der Helfer, sich in dieser Situation die eigenen Grenzen hinsichtlich der Einflußmöglichkeiten zu vergegenwärtigen. Die Hoffnungen, das Streben und Verlangen der Angehörigen heischen danach, sich über diese Grenzen hinwegzusetzen. Um so klarer müssen Helfer sich dieser Grenzen gewahr bleiben. Dabei kann sich herausstellen, daß es letztlich für die Angehörigen eine enorme Erleichterung bedeutet, sich wirklich und umfassend hilflos fühlen zu dürfen. Während Angehörige auf der einen Seite immer wieder versuchen, auf die Lebensentscheidungen der "Abhängigen" Einfluß zu nehmen, erleben sie andererseits regelmäßig Enttäuschungen, Verletzungen und Kränkungen. Sie schwanken zwischen Hoffnungen, doch noch Einfluß nehmen zu können, und schierer Verzweiflung. Die Vorstellung aus diesem destruktiven Dilemma herauszutreten, indem sie Ihre Grenzen und damit ihre Einflußlosigkeit akzeptieren, ist für Angehörige von "Abhängigen" oft sehr schwer auszuhalten. Dieser Abschied kann ihnen unter Umständen sogar unerträglicher erscheinen, als wenn der "Abhängige" tatsächlich stürbe. Nach meinen Erfahrungen läuft eine Hilfestellung für Angehörige von "Abhängigen" darauf hinaus, sie darin zu unterstützen, loszulassen, Abstand zu gewinnen und ihre Hilflosigkeit - also ihre Grenzen - zu akzeptieren. Oft ist es für sie sehr mühsam, die eigene Lebensperspektive 18 von der der "Abhängigen" zu unterscheiden und zu erleben, daß das eigene Lebensgefühl nicht immer von der Lebenswelt der "Abhängigen" abhängig ist. Schließlich lernen sie, sich selber abzugrenzen - also sich nicht länger als Dienstleistungsservice ausnutzen zu lassen. Die Versuche, eine solche Entwicklung zu forcieren, sind dabei meistens genauso wirkungslos, wie die Versuche, auf den Suchtmittelkonsum der "Abhängigen" Einfluß zu nehmen. Vielmehr geht es darum, einen Entwicklungsprozeß in dieser Richtung zu unterstützen. 19 Literatur: G. Amendt; "Sucht Profit Sucht"; Zweitausendeins; Frankfurt am Main 1984 G. Amendt; "Der große weiße Bluff"; Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1987 E. Biermann-Ratjen, J. Eckert, H. J. Schwartz; "Gesprächspsychotherapie - Verändern durch Verstehen"; 3. Auflage; Verlag W. Kohlhammer; Stuttgart 1983 U. Binder, H.-J. Binder; "Klientenzentrierte Psychotherapie bei schweren psychischen Störungen"; Fachbuchhandlung für Psychologie, Verlagsabteilung; Frankfurt am Main 1981 L. Böllinger; "Drogenrecht, Drogentherapie"; Materialien zur Sozialarbeit und Sozialpolitik, BD. 12; Fachhochschule Frankfurt am Main, FB Sozialarbeit / FB Sozialpädagogik 1983 K. Dörner, U. Plog; "Irren ist menschlich"; Psychiatrie Verlag; Rehburg-Loccum 1984 R. Ferstl; "Abhängigkeit" in R. Asanger, G. Wenninger (Hrsg.); "Handwörterbuch der Psychologie"; Beltz Verlag; Weinheim Basel 1982 Forschungsprojekt Selbstheiler - Ausstiegsprozesse bei Heroinabhängigkeit und Polytoxikomanie; "Ausstieg aus der Drogensucht am Beispiel der Selbstheiler - Zwischenbericht 1986"; Fachhochschule Frankfurt; Frankfurt am Main 1987; hektographiert T. Gordon; "Familienkonferenz"; Hoffmann und Campe; Hamburg 1978 J. Hartmann; "Unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten der Person- und Klientenzentrierung. Teil I"; GWG-info 60; Selbstverlag der GWG; Köln 9/1985 J. Hartmann; "Unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten der Personen- und Klientenzentrierung. Teil II"; GWG-info 61; Selbstverlag der GWG; Köln 12/1985 J. Hartmann; "Unbegrenzte Entwicklungsmöglichkeiten der Person- und Klientenzentrierung. Teil III"; GWG-info 63; Selbstverlag der GWG; Köln 6/1986 J. Herwig-Lempp; "Das Phänomen der sogenannten Neuen Süchte"; Neue Praxis 1/1987; Luchterhand Verlag J. Herwig-Lempp; "Drogenabhängigkeit als Erklärungsprinzip"; drogen-report 1/1987 F. Herzog; "Die Verfolgung der 'Drogenemigration'"; Neue Praxis 6/1987; Luchterhand Verlag R. D. Laing; "Phänomenologie der Erfahrung"; Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1969 R. Lempp; "Spielsucht - Lust, Zwang und schlechtes Gewissen"; Neue Praxis 4/1987; Luchterhand Verlag K. Margolis; "Die Knochen zeigen - Über die Sucht zu hungern"; Rotbuch Verlag; Berlin 1985 W. M. Pfeiffer; "Der Widerstand in der Sicht der klientenzentrierten Psychotherapie"; GWG Zeitschrift Nr. 66; Selbstverlag der GWG; Köln 3/1987 C. R. Rogers; "Therapeut und Klient"; Fischer Taschenbuch; Frankfurt am Main 1983 C. R. Rogers; "Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen. Entwickelt im Rahmen des klientenzentrierten Ansatzes"; Verlag GWG; Köln 1987 J. Schenk; "Alkoholismus"; in Eyferth, Otto, Thiersch (Hrsg.); "Handbuch zur Sozialarbeit / Sozialpädagogik; Luchterhand Verlag, Darmstadt 1987 20 W. Schmidtbauer; "Die hilflosen Helfer"; Rowohlt Verlag; Hamburg 1977 W. Schneider; "Welche Entwicklungsmöglichkeiten haben Heroinabhängige?"; Neue Praxis 3/88; Luchterhand Verlag R. Sickinger; "Drogenhilfe"; Kösel Verlag; München 1982 G. Völger, K. v. Welck (Hrsg.); "Rausch und Realität"; rororo; Hamburg 1982 Daraus: A. Legnaro; "Ansätze zu einer Soziologie des Rausches - zur Sozialgeschichte von Rausch und Ekstase in Europa" und H. G. Levine; "Die Entdeckung der Sucht - Wandel der Vorstellungen über Trunkenheit in Nordamerika"
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