Was ist Zeit? Seit Jahrhunderten beschäftigt diese Frage die Menschheit. Eine schlüssige Antwort vermochte bisher niemand zu geben. Und doch versteckt sich Zeit in allem unserem Wahrnehmen und Handeln. Selbst unser Leben ist zeitlich beschränkt. Wie lange ein Leben dauert, weiss niemand. Wenn Neugeborene eine Sprache lernen, lernen sie automatisch auch die Zeitordnung dieser Kultur. Wie lange muss ein Vokal klingen? Welche Zeitformen müssen Verben haben, damit die Kausalkette von Ereignissen als Geschichte verstanden wird? Nicht in allen Kulturen ist Zeit ein lineares Phänomen und Pünktlichkeit eine Tugend. Im Schweizer Alltag ist vom Zeitkorsett, von der unerträglichen Beschleunigung und der genussvollen Verlangsamung von Zeit die Rede. Für den Existenzialisten Jean-Paul Sartre war Zeit der Schlüssel zur Freiheit und Langeweile etwas Wertvolles. Für den Präsidenten Benjamin Franklin hingegen war Musse eine Sünde und Zeit Geld. Während der Architekt Paul Virilio vor dem «rasendem Stillstand» warnt, der uns in den Abgrund führt, rätselt der deutsche Astronom Rainer Mauersberger darüber, warum wir Zeit nicht rückwärts laufen lassen können, was rein physikalisch möglich wäre. Wie leben, erleben und verleben wir Zeit? Im Kunsthaus Grenchen zeigen bis zum 31. Oktober zehn Künstlerinnen und Künstler in ihren Werken verschiedene Aspekte des Phänomens Zeit. Gezeigte Werke Roman Signer «Uhr», 2002 Anregungen für Diskussionen und Klassenarbeiten Zeit als vierte Dimension erleben Wie leichtfertig sagen wir doch im Alltag: «Ich habe die Zeit totgeschlagen.» Der Appenzeller Aktionskünstler Roman Signer hat es tatsächlich gemacht; er hat mit einem gezielten Schuss aus der Pistole die Minutenzeiger einer Wanduhr abgeschossen. Damit zerstörte er auch gleichzeitig das Uhrwerk, die Zeit steht seither still. Wann langweile ich mich und warum? Wie schlage ich Zeit tot? Wann erlebe ich Zeit als kurzweilig? Wann erlebe ich einen Moment des Flows? Wann möchte ich Zeit anhalten können? Was passiert mit der Zeit, wenn die Uhr still steht? Signers Werke werden oft mit dem Etikett «Zeitskulptur» versehen. Einerseits untersucht er in seinen Aktionen die Verwandlung von Materialien und andererseits sind seine Werke vergänglich. Kein Wunder meint Signer denn auch: «Ich würde gerne in Zeitlupe sehen können.» Kunstvermittlung Rosalina Battiston Warum empfinde ich ein Kunstwerk als langweilig und ein anderes als spannend? (Möglichst bekannte Bilder verschiedener Epochen gegenüberstellen und diskutieren. Oder unterschiedliche monochrome Bilder diskutieren.) [email protected] 1 Esther Ernst «Ansichtssachen», seit 2006 Methoden der Erinnerung Wer in seiner Erinnerung gräbt, stöbert Erfahrungen auf, die zuweilen auch andere angehen. Eine Methode für solche Tiefenbohrungen ist das Zeichnen wie es Esther Ernst betreibt. Tagebuch, Blog, Logbuch oder Protokoll halten Ereignisse oder Vorgänge in chronologischer Reihenfolge fest. Seit Jahren zeichnet sie täglich eine Karte im Format A6. Fragmentarische Figuren, Ausschnitte von Landschaften, oder surreale Kompositionen in Bleistift, Buntstift, Kugelschreiber oder Filzstift zeigen Stimmungen, Gefühle oder Eindrücke eines Tages. Die Zeichnungen sind tagebuchartige Aufzeichnungen persönlicher und kollektiver Erinnerungen. Führt als Klasse während eines Monats ein Tagebuch oder einen Blog: Jeden Tag hält jemand anderer ein Ereignis schriftlich, fotografisch oder zeichnerisch fest. Wertet die festgehaltenen Erinnerungen am Monatsende gemeinsam aus. Welche Ereignisse wurden ausgewählt? Waren es Ereignisse, die am bestimmten Tag auch mir persönlich am wichtigsten waren? Lena Eriksson «Ein Tag im Leben von…», 2008 Eigenzeit versus historische Zeit Seit dem Jahr 2007 hält Lena Eriksson jeweils am 11. September von morgens bis abends stündlich fotografisch fest, was in ihrem Leben an diesem Tag passiert und verarbeitet es zeichnerisch. Historische Ereignisse können für eine Generation oder für eine Gesellschaft zur historischen Demarkationslinie werden: Vor oder nach dem Fall der Berliner Mauer. Vor oder nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Vor oder nach dem 11.09.2001. Welche sind die Demarkationslinien meiner Generation? Und welche sind meine persönlichen? Den 11. September 2001 bezeichnet sie als historische Demarkationslinie, die im Gegensatz zu ihren alltäglichen, persönlichen Erlebnissen steht. Seither gewährt sie immer am 11. September Einblicke in diesen Tag ihres Lebens. Kunstvermittlung Rosalina Battiston Wie halte ich persönliche Erinnerungen fest? Warum fällt es uns leichter zu rekonstruieren, was wir am 11. September 2001 gemacht haben, als am 11. Juni 2010? Was bestimmt meine Erinnerung? Kann ich bewusst vergessen? Kann eine Gesellschaft kollektiv Erinnertes verändern? [email protected] 2 Sara Rohner «Traumfliegerisch», 2007 Die Fotografie als Zeitzeugin Nichts ist so alt wie die Zeitung von gestern im digitalen Zeitalter. Die Geschichte ist gedruckt; die Information weitergereicht; das Papier kann für die Abfuhr gebündelt werden. Welche Bedeutung haben für mich Zeitungen im digitalen Zeitalter? Wie gehen Medien mit Zeit um? Was hält eine Fotografie fest? Dass dem nicht so ist, zeigt die Bielerin Sara Rohner. Sie macht aus Zeitungen zeitlose Kunst. Seit Jahren sammelt Rohner Zeitungsbilder, übermalt sie und schafft damit einen neuen Zeit- und Erzähl-Raum. Was erzählen uns die Fotos in den Zeitungen? Suche in den Zeitungen nach guten und schlechten Zeitdokumenten – und begründe deine Wahl. Wähle Bilder oder Texte aus Zeitungen und komponiere sie neu zu einer eigenen Geschichte, die sich zu einem bestimmten Zeitpunkt ereignet hat. René Zäch «Ohne Titel», 2002 Zeit als Ordnungsstruktur einer Gesellschaft «Alles ist relativ», lehrte uns der Physiker Albert Einstein. Der Künstler René Zäch führt es uns vor Augen. Für den Soziologen Norbert Elias ist Zeit eine «Ordnungsmöglichkeit des Nacheinanders, die bei jedem Individuum, in jeder Kultur und in jeder Epoche anders ist». 1:55 Uhr? 18:25 Uhr? 5:10 Uhr? Der Winkel zwischen Minuten- und Stundenzeiger ist immer gleich. Statt zwölf Zifferblätter, hat Zäch den Minuten- und Stundenzeiger nur einmal aus einem weiss lackierten Stahlblech herausgeschnitten und dafür zwölf Aufhänge-Kerben auf die Rückseite der Uhr angebracht. Man kann die Uhr drehen und hat zwölf verschiedene Zeiten. In Teilen Indiens wird der Tag beispielweise nicht in Stunden unterteilt. Man verabredet sich nicht für 14 Uhr, sondern: Zur der Zeit, wenn die Kühe trinken gehen. Was könnten wir für eine neue, andere Zeitrechnung einführen? Sammle Metaphern und Redewendungen zum Thema Zeit – in verschiedenen Sprachen. Weisen sie auf einen kulturell unterschiedlichen Umgang mit Zeit hin? Wie erlebe ich beim Reisen den anderen Umgang mit Zeit? Sind alle so bedacht auf Pünktlichkeit, wie die Menschen in der Schweiz? Kunstvermittlung Rosalina Battiston [email protected] 3 Judith Albert «Voyage», 2008 Zeit und Raum wahrnehmen Mit einer kleinen Kamera im Knopfloch ihrer Jacke macht Judith Albert während ihrer Reise Bilder. Jede Sekunde schiesst die Kamera 25 einzelne Bilder, eine Minute Reise wird somit in 1500 Einzelbildern festgehalten. Diese Bilder druckt sie auf Papier und bindet sie zu einem Buch. Damit dehnt sie die Minute der Reise um ein Vielfaches. Inwiefern unterscheidet sich das herkömmliche Fotoalbum einer Reise von Judith Alberts Buch «Voyage»? Jede Betrachterin, jeder Betrachter kann sich nach einem eigenen Zeitmass durch die Bilderlandschaft der Minuten-Reise bewegen, kann Zeit und Raum durch Vor-, Zurück- oder Überblättern individuell gestalten. Dokumentiere mit deiner Handy-Fotokamera einen Spaziergang oder ein Ereignis aus deinem Alltag ohne durch den Sucher der Kamera zu schauen. Diese Art des Fotografierens heisst Lomografie. Druck die Fotos aus und binde sie als Büchlein. Nimmst Du im Buch den Spaziergang anders wahr, als er in deiner Erinnerung ist? Welche Rolle spielt Zeit im Film? Haben Regisseure und Schriftstellerinnen den gleich freien Umgang mit Zeit? Jules Spinatsch «Fabre n’est pas venu», 2006 Unbestimmtheitsrelation Allgemein gilt: Die Fotografie friert den Moment ein. Doch was genau zeigt eine Fotografie? Was dokumentiert ein Zeitungsbild? Es ist unmöglich alles wahrzunehmen, was um uns geschieht. In der Physik spricht man von der «heisenbergschen Unschärferelation» oder von der «UnbestimmtheitsRelation». Schau Dir Fotos in der Zeitung an. Was wollen sie dokumentieren und was zeigen sie wirklich? Diese Fragen beschäftigen den Davoser Jules Spinatsch. Am Freitag, den 30. Juni 2006 hat er die Sitzung des Stadtrates von Toulouse dokumentiert. Er installierte im ganzen Raum verschiedene Kameras, die automatisch alle paar Sekunden von 11:33 Uhr bis 18:01 Uhr Fotos schossen. Aus den so entstandenen 3960 Fotos hat er ein einziges Bild komponiert. Kunstvermittlung Rosalina Battiston Fotografiere mit deinem Handy z.B. den Bahnhofplatz in Grenchen oder den Schulhof fünf Tage hintereinander immer zur gleichen Zeit und vom gleichen Standort aus. Klebe dann die verschiedenen Momentaufnahmen zu einem einzigen Bild zusammen. Was überrascht an dem Bild? Wie wurden grosse Ereignisse dokumentiert als die Fotografie noch nicht erfunden war? Schau Dir z.B. das Bild «Kaiserkrönung Napoleons I» aus dem Jahr 1806 von Jaques Louis David (1748-1825) an. Hätte ein Foto von der Krönung auch so ausgesehen? [email protected] 4 EberliMantel «Mutter / Tochter», Serie Zeit in der Fotografie Die St. Gallerin Simone Eberli und die Zürcherin Andrea Mantel alias EberliMantel ermöglichen mit Fotografien einen neuen Blick auf die Generationenfrage. Nimm alte Familienfotos und halte fest, woran Du erkennst, dass die Personen Mitglieder einer Familie sind. Wie sind die Menschen auf dem Bild gekleidet? Wie schauen Sie drein? Sind sie glücklich? Was verrät ihre Körpersprache? Wer ist auf dem Bild die mächtigste Person? Gleichzeitig machen die beiden Künstlerinnen mit ihren tiefsinnigen Porträts Zeit auch wahrnehmbar. Ist es möglich, mit Gleichaltrigen eine Familie darzustellen? Was brauche ich dafür? Halte den Versuch fotografisch fest. Kannst Du erkennen, wann das Bild geschossen wurde? Gibt es historische Hinweise? Handelt es sich um eine analoge oder eine digitale Fotografie? Saskia Edens «das Märzangebot», 2008 (Video) Stillleben und «rasender Stillstand» Schönheit und Vergänglichkeit sind seit Jahrhunderten wichtige sind grundlegende Themen in der Kunst. Alles zu seiner Zeit! Diese Lebensweisheit ist veraltet. Erdbeeren im Winter sind für uns genauso selbstverständlich wie Skifahren im Sommer. Wir erleben in Echtzeit Grossereignisse am anderen Ende der Welt und machen Zeitreisen – vorerst aber nur im Internet oder im Kino. Mit ihrem Video-Stillleben versetzt Saskia Edens diese Themen in unsere Zeit. Die Video-Projektion wir von einem Prunkrahmen umschlossen wie ein VanitasStillleben aus dem 17. Jahrhundert. Das Video zeigt exotische Früchte und Blumen, die langsam von Schneeflocken zugedeckt werden. Die üppige Pracht verschwindet und erstarrt in Stille. Videostill Edens verweist damit auf unser gestörtes Verhältnis zum Jahreszeitenzyklus. Die Globalisierung ermöglicht uns alles zu jeder Zeit. Schnellere Transport- und Kommunikationsmittel lassen Distanzen und damit den geografischen Raum schrumpfen. Gewinnen wir dadurch Zeit? Nein, meint der französische Philosoph Paul Virilio. Er warnt vor einem «rasenden Stillstand». Durch die Schrumpfung des Raumes liefen die Menschen viel mehr Gefahr, unerträglich nahe zusammen zu rücken. Dies führe zu Aggressionen. Wo erlebst du in deinem Alltag Aggressionen? Auf was führst Du das zurück? Welche moralischen Botschaften steckten hinter den Stillleben des 17. Jahrhunderts? Kunstvermittlung Rosalina Battiston [email protected] 5 Sarah Hugentobler «Hilfestellungen», 2010 Zeitmanagement und Zeitautonomie Die hyperaktiven Akteure der globalisierten Welt müssen ihre Zeit im Griff haben. Die Buchhandlungen sind voll von Ratgebern zum Thema Zeitmanagement und im Internet preisen Tausende Zeitprofis ihre Seminare zum richtigen Umgang mit Zeit an. Denn: Jeder ist seines Glückes und damit seiner Zeit Schmid! In teuren Seminaren lernen sie, sinnvoll mit ihren Zeitressourcen umzugehen. Sie machen Sport, um ihre Stresshormone abzubauen, besuchen Yogakurse, um Ruhe zu finden und holen sich Streicheleinheiten für die Seele in Wellness-Oasen. Zeitprofis und Meditationsgurus leiten sie an zu einem besseren Leben. Stimmt diese Redewendung für mich? Über wie viel Eigenzeit verfüge ich wirklich? Wofür verwende ich diese? Auf was muss ich verzichten? Was hätte ich lieber: Viel Geld oder viel Zeit? Ist Müssiggang tatsächlich aller Laster Anfang? Videostill Sarah Hugentobler zeigt auf ironische Weise, wie wir uns zu einer sinnvollen Work-Life-Balance anleiten lassen – und dabei aus dem Takt geraten. Literaturtipps: Carl Aigner «Zeit/los. Zur Kunstgeschichte der Zeit», 1999, Dumont Michel Baeriswyl «Chillout – Wege in eine neue Zeitkultur», 2000, dtv Nobert Elias «Über die Zeit - Arbeiten zur Wissenssoziologie II», 1984, Suhrkamp Robert Levine «Eine Landkarte der Zeit – Wie Kulturen mit Zeit umgehen», 2000, Piper Jakob Messerli «gleichmässig – pünktlich – schnell. Zeiteinteilung und Zeitgebrauch in der Schweiz im 19. Jahrhundert», 1995, Chronos Helga Nowotny «Eigenzeit – Entstehung und Strukturierung eines Zeitegfühls», 1990, Suhrkamp Kunstforum International «Zeit – Existenz – Kunst», Band Nr. 150, April-Juni 2000 Kunstforum International «Dauer – Simultaneität – Echtzeit», Band Nr. 151, Juli-September 2000 Kunstforum International «Zeichnen zur Zeit», Band Nr. 196, April-Mai 2009 Der Spiegel «Die Entmachtung der Uhren», Nr. 1, 1998 «Nonstop – Ein Lese- und Hörbuch über die Geschwindigkeit des Lebens», 2009, Stapferhaus Lenzburg «Zeit, die vierte Dimension in der Kunst», 1985, Acta Humaniora VCH Weinheim Kunstvermittlung Rosalina Battiston [email protected] 6
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