Alles, was der Mensch treibt, kultiviert ihn! - Praxis Kulturgeragogik

Alles, was der Mensch treibt, kultiviert ihn!
Kunst macht das Leben interessanter als die Kunst.
Gespräch zwischen Markus Kissling, SPACEWALK, Cornelia Jacomet und Fredi Murbach.
Kapitel 6 im Buch „Zukunftsfähige Soziokultur, Initiative ergreifen, Gesellschaft gestalten, Kultur schaffen,
Kooperation eingehen“, Zürich 2008.
Cj: SPACEWALK hat sich zur Aufgabe gemacht bei Menschen unterschiedlichster
Herkunft das kreative und kommunikative Potential zu entwickeln und zu fördern.
Ziel ist es, diese Menschen ihre Kreativität und Kommunikationsfähigkeit als
Rüstzeug entdecken zu lassen, damit sie sich selber und ihr Umfeld verbessern und
verändern können. Was ist deine Motivation dazu? Warum machst du das?
Mk: Meine persönliche Motivation ist es, ein intensives und sinnvolles Leben zu
führen. Auf der künstlerischen Ebene ist es so, dass Kunst auch in unserer Kultur
erst seit einer relativ kurzen Zeit vom gesellschaftlichen Leben getrennt ist und man
Kunst im Theater oder im Museum anschaut. Mich interessiert die Verbindung von
Kunst und gesellschaftlichen Prozessen. Kunst als ganz selbstverständlicher Teil
des Lebens, als eine Art Lebensmittel. Je mehr Menschen schöpferisch tätig sind,
umso grösser die Chancen für eine offene Gesellschaft. Schöpferisch tätig sein
heisst selber zu entscheiden, was man tut, eigenverantwortlich zu planen und zu
handeln. Diese Erfahrung ist für mich die Voraussetzung für Demokratie. Das sind
die drei Ebenen: die persönliche Motivation, die künstlerische und die
gesellschaftliche.
Cj: Was hat das mit SPACEWALK zu tun?
Mk: Ich gehe nochmals von mir aus: Ich war Schauspieler. Das Entwickeln einer
Rolle, die Proben haben mich immer am meisten interessiert. Die Aufführungen, das
Vorspielen interessierte mich weniger, und schon gar nicht das Zuschauen. Ich habe
mich immer relativ schnell gelangweilt im Theater und auch im Kino. Zuschauen, na
ja. Aber Theater machen, einen Film machen, das ist unglaublich, was man dabei
erleben, lernen und bewirken kann. Wenn also das Machen das Interessanteste ist
an einem künstlerischen Prozess – und nicht das Zuschauen, das Interpretieren –,
dann ist es ein kleiner Schritt dahin, nach Formen zu suchen, in denen die Leute
etwas machen und nicht bloss zuschauen können. Das Ziel ist dann, möglichst viele
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Mitspieler/innen zu finden, Mitspieler/innen im künstlerischen und im
gesellschaftlichen Sinn, Akteure und nicht Zuschauer/innen. Anders ausgedrückt:
Joseph Beuys sagte, dass jeder Mensch das Potential zu einem Künstler hat. Das
ist auch so, definitiv. Wenn nicht in jedem Menschen der Kern zum Künstler steckte,
dann könnte es keiner sein. Das heisst aber nicht, dass jeder ein Künstler ist, in dem
Sinne, dass er sein ganzes Leben auf die künstlerische Tätigkeit setzt. Nicht jeder
kann - wie ein Bildhauer mit 30 Jahren Praxis - etwas aus einem Stein herausholen.
Da muss sehr viel Arbeit hineingesteckt werden. Aber jedem Menschen ist der
Ausgangspunkt eines künstlerischen Prozesses zugänglich. Das ist der Moment
sich zu entscheiden: Was ist für mich das wichtigste. Was ist mein Problem? Womit
will ich mich auseinandersetzen? Unabhängig davon, was andere dazu meinen.
Meine Lieblingsdefinition eines Künstlers ist: “Der ist ein Künstler, der selber sagt,
was sein Problem ist”. Goethe sagte sinngemäss: Alles, was der Mensch treibt,
kultiviert ihn. Ich interpretiere das so: Sich nicht treiben lassen, sondern selber
treiben, nicht getrieben werden, sondern auch im Getriebensein selber zu treiben
seine Pflöcke einzuschlagen. Dazu ein Beispiel, nicht ganz ernsthaft, aber doch
verdeutlichend: ein Bäcker, der am Morgen vor seinem Zopfteig steht und
entscheidet wie er die Stränge formen will. Er entscheidet sich für eine bestimmte
Form. In diesem Moment, in dieser kurzen Sekunde des Entscheidens, ist der
Bäcker nicht anders als Picasso, der vor einer leeren Leinwand steht, nicht anders
als ein Schriftsteller, der zu Schreiben beginnt. Dieser Moment ist das Zentrum
jedes künstlerischen Prozesses und dieser Moment ist jedem zugänglich.
SPACEWALK entwickelt Projekte, bei denen möglichst viele Menschen diesen
Moment möglichst häufig erleben.
Ein anderer Aspekt: Zum SPACEWALK Netzwerk gehören Künstler/innen aus
verschiedenen Kulturen. Für manche von ihnen ist es manchmal schlicht ver-rückt,
was wir tun: Menschen gehen für eine bestimmte Zeit in einen Musiksaal, um Musik
zu hören, und dann, nach der Kunst, kehren sie wieder ins Leben zurück. Kunst als
Zuckerguss für einen kleinen Teil der Gesellschaft. Das ist auch in unserer Kultur
erst seit relativ kurzer Zeit so: Dahinter steht die Vorstellung einer Kunst, die sich
selber genügt, die den Zweck in sich selbst sieht, die überhaupt keinen Zweck nach
aussen hat. Ihr höchstes Gut ist die Autonomie der Kunst. Diese Sichtweise hat
absolut ihre Daseinberechtigung. In den letzten hundert Jahren hat sich die Kunst
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stark in diese Richtung entwickelt. Aber es gibt auch eine andere, genauso
berechtigte Sichtweise, für die ist die Autonomie des Menschen das höchste Gut.
Nimmt man die Autonomie des Menschen als den höchsten Wert, wird alles, auch
die Kunst, in den Dienst dieser Autonomie gestellt. Diese zwei Richtungen reiben
sich. Ich kann damit leben, dass es beides gibt und finde es unnötig, dass man das
eine gegen das andere ausspielt.
Für mich persönlich ist die zweite Sichtweise spannender. “Art makes life more
interesting than art”. “Kunst macht das Leben interessanter als die Kunst”. Kunst ist
ein Mittel, damit das Leben interessanter wird, nicht die Kunst. Für mich steht die
Autonomie des Menschen im Vordergrund. Dann ist Kunst ein Mittel zum Zweck.
Punkt. Es gibt noch viele andere Mittel, aber es scheint mir das umfassendste, das
dem Menschen zugänglich ist. Kunst ist das umfassendste Mittel um die Autonomie
des Menschen zu fördern.
Cj: Wie macht ihr das? Was ist die Methode von SPACEWALK?
Mk: SPACEWALK ist ein Netzwerk von Künstlern, Pädagogen und Wissenschaftlern
aus verschiedenen Kulturkreisen. Wir nutzen Mittel aus allen künstlerischen
Bereichen und gehen damit in gesellschaftliche oder individuelle Spannungsfelder.
Dazu brauchen wir einen Grund von aussen. Einfach ein Theater zu machen, wäre
für uns reizlos. Es muss ein Problem geben. Meist ist es eine Mischung von
Problemen. In diese Problemsituationen entwerfen wir unsere Projekte und dabei
benutzen wir Kulturprojekte als eine Art Trainingsraum. Vereinfacht gesagt: Wenn
zwei Menschen sich streiten, gehen wir nicht hin und sagen, vertragt euch doch, das
Leben ist doch so schön. Das funktioniert nicht. Wir lassen sie weiter streiten und
schauen, ob es in der Nähe der beiden einen freien Platz gibt, möglichst viel Platz.
Dann gehen wir zuerst zum einen und fragen ihn: “Was möchtest du auf diesem
Platz machen?” Dann gehen wir zum anderen: “Was möchtest du mit diesem
Freiraum machen? Da ist viel Platz, wir würden dir auch helfen, wenn du eine gute
Idee hast.” Dann sagt der eine vielleicht, er würde gerne Fussball spielen. Gut,
organisieren wir ein Fussballspiel. Der andere sagt, er möchte etwas mit Musik
machen. OK, machen wir ein Fussballspiel mit einem Musikfestival drum herum. Auf
dem Weg dahin, diese Anlässe zu organisieren und durchzuführen, bekommt jeder
der beiden genau das, was er will. Gleichzeitig ist er auf dem Weg zu seinem Ziel
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bereit, sich mit diesem unmöglichen Anderen zu unterhalten. Sie kommunizieren
miteinander. Wir helfen, diese Kommunikation auf das Problem der beiden zu
übertragen und längerfristig nutzbar zu machen. Auch bei sehr komplexen
Problemen, die wir bearbeiten, ist dies das Grundmuster.
Ein konkretes Beispiel: Wolfsburg-Westhagen, eine Hochhaussiedlung mit 10'000
Einwohner/innen aus 56 Nationen, und 4'000 Spätaussiedler/innen.
(Russlanddeutschen) . Eine ganze Reihe von städtebaulichen und sozialen
Problemen überlagerten sich gegenseitig. Der Stadtteil war ghettoisiert, und voller
Vorurteile, weil die Leute sich nicht verständigen konnten. Die Probleme waren
gravierend: Es hatte Tote gegeben, Schiessereien, bevor wir unsere Arbeit in
diesem Stadtteil aufgenommen haben. Es war also keine lustige Situation. Wie
kommen diese Menschen, in dieser Anhäufung von Problemen und obwohl sie
unterschiedliche Sprachen sprechen miteinander ins Gespräch um den Stadtteil zu
verändern? Ausgangspunkt für unser Projekt wurde ein Hochhauskomplex im
Zentrum des Stadtteils. Dieses Gebäude stand sozusagen als Schandmahl da.
“Sprengt dieses Haus, das ist Scheisse, da sind die ganzen Ausländer/innen drin,
das ist Ghetto!” Alle haben sich mit dieser Aussage identifiziert und haben an die
grosse Front dieses Hauses sozusagen ihre negativen Bilder projiziert. Wunderbar,
fanden wir, das funktioniert als riesige Projektionsfläche. Das ist vorhanden. Wir
müssen jetzt lediglich einen anderen Inhalt finden, der projiziert werden kann. Was
könnte das sein? In hunderten von Gesprächen haben wir sondiert und einen
anderer Inhalt gefunden: Wir fragten alle Bewohner/innen, was ihre Vorstellung von
Glück sei. Dazu gingen wir als “Glücksforscher/innen” von Tür zu Tür, stellten
unsere Frage und gaben den Menschen für einen Tag einen Fotoapparat. Wir luden
sie ein, ein Foto zu machen von ihrer Vorstellung von Glück. Diese Bilder haben wir
dann auf diese riesige Wand projiziert, einen Monat lang vom 1. bis zum 24.
Dezember und nannten das Projekt “Weihnachten in Westhagen”. Jeden Tag waren
andere Bilder der Bewohner/innen zu sehen, Tausende von Bildern. Dadurch
konnten wir zeigen, wir haben zwar viele Schwierigkeiten, aber wir haben auch
einen gemeinsamen Schatz. Wenn jeder seine Vorstellung mitteilt und zeigt, was
ihm wichtig ist, sind wir auf einen Schlag einen grossen Schritt weiter. Die
Bilderaktion war ein unmittelbar verständliches Modell für Demokratie. Jeder hat ein
Foto dazu beigetragen. Jedes Foto war gleich wichtig. Keine Vorstellung vom Glück
war besser oder schlechter. Wenn das für dich Glück ist, gut, meine Vorstellung ist
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nicht besser, sondern anders. Die Vorstellung eines dreijährigen Mädchens war
genau so richtig und wertvoll wie die Vorstellung des Bürgermeisters. Das war für
alle ersichtlich. Und es war einfach schön, bunt und reich. Damit haben wir ein Bild
geschaffen, das als Modell diente für einen mehrjährigen Entwicklungsprozess.
Nach diesem Modell haben wir Arbeitsgruppen und Bürgerversammlungen
strukturiert und die Beteiligung an der städtebaulichen Planung organisiert. Wenn es
dann zum Beispiel später darum ging den Marktplatz neu zu gestalten, und es gab
richtig Streit, konnten wir sagen: Mein Gott, das ist jetzt eine richtig schwierige
Frage, zu entscheiden, wie der Marktplatz aussehen soll. Aber schaut mal, wir
haben schon ganz andere Sachen gemeinsam geschafft, wir haben Tausende von
Menschen mit unseren Bildern begeistert, da werden wir es auch schaffen, dieses
Problem zu lösen. Die Erfahrungen sind dann tatsächlich direkt nutzbar.
Cj: Wenn du diese Methode in einem Satz zusammenfassen müsstest: Wie würde
dieser Satz lauten?
Mk: SPACEWALK realisiert Kulturprojekte als Katalysator für individuelle und
gesellschaftliche Entwicklungen. Dabei gehen wir die Probleme nicht direkt an,
sondern entwerfen in dem jeweiligen Spannungsfeld ein Kulturprojekt, das allen
Akteur/innen einen individuellen Zugang ermöglicht. Die in diesem neutralen
Trainingsraum entwickelten und eingeübten Inhalte und Strukturen werden auf die
Problemsituation übertragen.
Fm: Und dieses Modell, von dem du gesprochen hast, ist dann das
Referenzbeispiel. Das heisst, im künstlerischen Ausdruck entsteht ein Beispiel für
das Gemeinsame das nachher wieder genutzt werden kann, um daraus Kraft zu
schöpfen...
Mk: ... und um zu begreifen, was man macht. Es ist ja bei Problemen oftmals
unglaublich schwierig zu begreifen – vor allem auch, wenn man verschiedene
Mitspieler/innen hat – zu begreifen, was eigentlich passiert. Das erreichen wir durch
den Symbolgehalt der Projekte. Die Projekte liefern Bilder, Metaphern die
verschiedene Ebenen ansprechen, so dass das dreijährige Mädchen und der
Bürgermeister wissen, dass sie zwar vom Selben sprechen aber jeder auf seiner
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Ebene. Jeder kann sich entsprechend seinem Potential und auf seiner Ebene
beteiligen. Sonst ist es nicht interessant. Erwachsene müssen eine andere
Herausforderung haben als ein Kind, aber sie müssen am selben arbeiten können.
Im besten Fall gelingt es uns ein Symbol, eine Metapher zu finden, die alle
Komponenten enthält, die es längerfristig braucht, um das Problem zu lösen.
Cj: Man entwirft ein Projekt. Im Kern dieses Projekts ist das enthalten, was das
Verbindende ist und das auch benennt, worum es geht, am Schluss geht es also
wieder um Sinnfragen. Wenn du dein Beispiel nimmst vom Glück und dem
Wohnghetto wo niemand sich wohl fühlt und Angst hat und nur dort wohnt weil es
keine anderen Möglichkeiten gibt, wenn du da jemanden fragst: Was ist für dich
Glück? kann er oder sie auf die Hauswand auch etwas anderes projizieren. Die
Wand ist dann nicht mehr das Symbol für Aggression oder erfahrene Gewalt,
sondern das für Glück, für Schönheit und Sinn.
Mk: Genau. Das passiert auf der Ebene der Vorstellung, des Bewusstseins. Aber
genauso wichtig für die Entwicklung ist der Prozess an sich, das gemeinsame Tun.
Die vielen kleinen Begegnungen und Entscheidungen auf dem Weg zum
gemeinsamen Resultat.
Cj: Und die haben Strukturen geschaffen, Strukturen, die ermöglicht haben, dass
mehr Sicherheit, mehr Kontakt, mehr Verbindung, mehr gesellschaftliche Anlässe
stattfinden.
Mk: Strukturen und ganz persönliche Beziehungen. Ein Physiker beschrieb unsere
Arbeit einmal mit dem Modell von dissipativen Strukturen. Dissipative Strukturen, so
wie ich es verstehe, sind vergleichbar mit der Auenlandschaft um einen nicht
kanalisierten Fluss. Eine intakte Flusslandschaft lebt vom Überfluss, von der
Verschwendung des Hauptflusses. Wasser versickert und taucht an einer anderen
Stelle vielleicht wieder auf. Unsere Projekte haben einen Kern, in den wird viel
hineingepumpt, viele Ideen, vieles, das nicht sofort effizient ist. Hier etwas und da
noch eine Idee und da ein weiteres kleines Projekt - vieles, das anschliessend
wieder versickert. Durch diese Auenlandschaft, durch Begegnungen, durch
gemeinsame Erlebnisse, Assoziationen lebt das Gesamtsystem. In unserem
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gesellschaftlichen Leben kommt uns dies ziemlich abhanden. Alles ist so kanalisiert,
so effizient, schon bei den Kindern. Die spielen nicht mehr, sondern leben auch
ausserhalb der Schule in ihren Stundenplänen. Das Versickern geht verloren. Man
hat in der Natur, die Flüsse begradigt und gemeint, man habe den selben Fluss nur
kontrolliert. Jetzt sehen wir, man hat eben auch Nachteile, wie Überschwemmungen.
Gleichwohl herrscht die Tendenz das soziale Leben zunehmend zu kanalisieren.
Fm: Kannst du das Auenbild nochmals mit dem Projekt in Verbindung bringen?
Mk: Wenn wir einen Auftrag haben, z.B. die Entwicklung eines schwierigen
Stadtteils, dann sind das in der Regel Aufträge, die nicht zu erfüllen sind. Es ist eine
Überforderung. Es sind zu viele Probleme, die es zu lösen gilt. Vor allem, wenn man
sie einzeln angeht. Chancenlos. Wir setzen dann mit viel Energie so etwas wie
einen natürlichen Fluss in dieses schwierige Feld. Durch die Erfahrung mit diesem
Fluss, durch seinen Überfluss und die Beteiligung der Menschen bringt er die
Gesamtsituation wieder in Fluss und die einzelnen Probleme können auf eine neue
Weise angegangen werden.
Cj: Du hast jetzt schon viel dazu gesagt, zu Vision, zum Menschenbild. Doch noch
einmal nachgefragt: Was ist dein Ausgangspunkt, wovon gehst du aus?
Mk. Ausgangspunkt finde ich einen schönen Begriff. Der Ort wo ich am Anfang
stehe. Mein Standpunkt. Damit Menschen miteinander sprechen können, brauchen
sie einen Standpunkt. Ohne einen eigenen Standpunkt gibt es nur
Missverständnisse, weil nicht klar ist, worauf sich eine Aussage bezieht. Darum so
eine Frage wie, “Was ist Glück für dich?” So entsteht ein Ausgangspunkt. Du weisst,
wo jemand steht, weil er seine Sicht mitteilt.
Der Standort ist ausschlaggebend für die jeweilige Perspektive. Das ist auch hier im
Karl der Grosse sehr wichtig. Was euch von anderen Zentren vor allem
unterscheidet: Ihr habt einen besonderen Standort. Man sagt, das wichtigste an
einer Immobilie sei die Lage, am zweitwichtigsten die Lage und am drittwichtigsten
die Lage. In der Kommunikation ist das vielleicht auch so. Am wichtigsten ist der
Standpunkt, dann der Standpunkt und am drittwichtigsten der Standpunkt. Wenn
man einen Standpunkt hat, kann man zuhören, was der andere für einen Standpunkt
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hat. In einer Diskussion wird es schwierig, wenn keine Standpunkte bezogen
werden. Die Leute sind dann adrenalinbesessen von irgendetwas, aber sie kommen
nicht vorwärts. Du kannst nur dann einen Schritt tun, wenn du einen Ausgangspunkt
hast.
Cj: Mich interessiert, was du zu den Begriffen “Vision” und “Strategie” zu sagen hast.
Mk: Der Begriff Vision ist nicht so einfach, weil er zu sehr belegt ist, zu häufig
angewendet wird, auch im Wirtschaftsbereich. Mir ist der Begriff Utopie viel lieber.
Utopie heisst “Nicht-Ort”. In gewissem Sinne schaffen wir mit unseren Projekten für
eine begrenzte Zeit eine Utopie. Man sagt ja, Utopien seien Spinnerei, sie würden
nichts bewirken. Von mir aus gesehen völlig falsch. Sie bewirken viel mehr als
Visionen. Visionen tendieren für mich in Richtung einer Verkrampfung. Man hat eine
Vorstellung und ist bereits auf dem Weg dazu, diese auch umzusetzen. Das ist so
eine kanalisierte Vorstellung. Nach meiner Erfahrung geschehen Dinge nicht so.
Eine Utopie bringt Entlastung, weil sie ja nicht realisiert werden muss. Niemand
glaubt daran, dass man das Glück auf Erden schaffen kann, also kann man sich
darüber Gedanken machen, wie es wäre wenn. Und Im-Gedanken-Machen und im
Umsetzen von dem, wie man es ausdrücken könnte, kommuniziert man und schafft
neue Strukturen, die genutzt werden können. Wenn zwei streiten, beschäftigt sich
eine Vision damit, wie man die Situation verbessern könnte. Die Utopie sagt: Vergiss
es. Da drüben gibt es einen Platz. Dort machen wir etwas, an diesem Nicht-Ort, in
diesem Trainingsraum entwickeln wir gemeinsam etwas, bei dem es nicht darum
geht, das Leben bereits zu verändern. Wir entwickeln etwas, und schauen was
dabei herauskommt. Unsere neuen Erfahrungen können wir dann nach und nach
übertragen, nicht 1:1, aber ein Stück weit. Die Beschäftigung mit der Utopie hat
dann einen direkten Einfluss auf die Realität. Visionen haben die Gefahr, zu sehr
engen Hierarchien zu führen. Auch faschistische Staaten können tolle Visionen
haben. Utopie wird niemals dem Faschismus dienen können, es ist kein Anspruch
damit verbunden, dass etwas verwirklicht wird.
Strategie, ist ein Begriff, den ich sehr mag. Strategisch vorzugehen heisst für mich,
herauszufinden, was ist das Wichtigste. Was ist mein Problem? Die Ausgangsfrage
des Künstlers. Aber nicht nur. Auch der Philosoph Karl Popper sagt: “Der ist ein
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Philosoph, der selber sagt, was sein Problem ist.” Auch ein guter Philosoph ist einer,
der selber treibt und nicht getrieben wird. Das ist für mich der Kern des
strategischen Vorgehens, immer wieder den eigenen Standpunkt zu definieren. Der
grosse Vorteil eines künstlerischen Projektes ist es, dass man während dieses
Prozesses bereits Resultate entwickeln kann, dass man zum Beispiel nachher Bilder
hat. Damit ist man sehr viel weiter, als nur darüber zu sprechen, wie etwas sein
könnte.
Fm: Der Begriff “Probleme” beschäftigt mich noch. Du brauchst ihn viel. “Problem”
ist für mich mit Getriebensein verbunden, mit Nicht-selber-etwas-in-die-Handnehmen, nicht selber gestalten. Beim Selber-Gestalten kommt mir eher das Wort
“Lösung” in den Sinn.
Mk: Das Wort “Problem” ist für mich überhaupt nicht negativ besetzt. Probleme sind
notwendig, damit man sie lösen kann. Um nochmals Karl Popper zu zitieren:
“Alles Leben ist Problemlösen”. Die Frage ist, mit welchen Problemen wir uns
beschäftigen. Lassen wir uns nur von vorgegebenen Problemen treiben oder
bestimmen wir, zumindest zum Teil selbst, womit wir uns beschäftigen wollen?
Dadurch ändert sich die Perspektive grundlegend. Gerade dadurch, dass ich etwas
zu meinem Problem mache, ergibt sich die Chance, dass ich zum Schöpfer einer
Lösung werde.
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