REPORTAGE Freitag, 13. Oktober 2000 Hamburger Abendblatt 3 Was sind uns unsere Kinder wert? Gesund und fröhlich, so unbeschwert sollten Kinder aufwachsen dürfen. In diesem reichen Deutschland, in dem so viel Geld für allerhand Segnungen der Moderne ausgegeben wird. Aber hier sparen wir in der Gesundheitspolitik massiv bei den Kindern. Warum kann die Gesundheitsvorsorge für sie nicht kostenfrei gehalten werden? Wer würde sich dafür stark machen? Christoph Runge praktiziert seit 1995 in seiner Praxis in Altona. Der 44-jährige Mediziner hat in Holland studiert und eine Spezialausbildung in Davos (Schweiz) absolviert. Foto: SCHWARZ Die Kleinen haben keine schlagkräftige Lobby. Nicht in der Politik und auch nicht im Gesundheitswesen. Ein Hamburger Kinderarzt klagt über schmale Budgets und darüber, wie Prävention sträflich vernachlässigt wird. Foto: MAURIMIT Von FRANK ILSE und STEFAN C. DICKMANN B ären haben wie Menschen eine lange Kulturgeschichte. Was die Bärenmutter an ihre Jungen weitergibt, damit diese in der Wildnis überleben können, ist erlernt und nicht vom Instinkt geleitet. „Ein Bär, der in Gefangenschaft geboren wurde und keine Gelegenheit hatte, das Überleben in Freiheit zu erlernen, wird scheitern“, sagt der Hamburger Kinderarzt Christoph Runge. Er benutzt dieses Bild gern, um auf ähnliche Gefahren hinzuweisen, die er auf unsere Gesellschaft zukommen sieht. „Wenn wir elementare Grundfertigkeiten wie den sorgfältigen Umgang mit Sprache nicht an unsere Kinder weitergeben, bekommen wir Probleme“, sagt Runge. Die Kinder kommen in der Schule nicht mit, sie machen einen schlechteren Abschluss und sind später von Arbeitslosigkeit bedroht. „Wir sehen die Probleme jetzt schon bei Zweijährigen und Älteren. Viele Kinder mit Sprachund Bewegungsstörungen landen bei uns“, sagt Runge. Doch für die notwendigen Therapien sei zu wenig Geld da. Das Problem sei die Budgetierung der Leistungen. Runge und sein Kollege HansEberhard Heuer betreiben ihre Kinderarztpraxis in Altona. 2100 Patienten haben sie im Quartal. Der Ausländeranteil liegt bei mehr als 50 Prozent. Armut und Gewalt in den Familien im Einzugsbereich der Praxis sind keine Seltenheit. Auch Suchtverhalten in den Familien spielt eine Rolle. Die Kinder säßen zu lange vorm Fernseher und Computer, sie stopften Süßigkeiten in sich hinein, und sie läsen immer seltener Bücher. Als Folge treten vermehrt Sprach- und Bewegungsstörungen auf. Eine logopädische, also sprachtherapeutische, Behandlung oder eine Ergotherapie (Bewegungstherapie) würden helfen. Auch als Vorbeugung wären sie wichtig. Doch der Kinderarzt muss mit der Verschreibung vorsichtig sein. „Logopädie und Ergotherapie sind budgetiert“, sagt Runge. „Aus betriebswirtschaftlichen Gründen dürfte ich das gar nicht mehr verschreiben. Dennoch machen es fast alle Kinderärzte in Hamburg trotzdem, denn die Kinder können doch nichts dafür, dass sie in einem schwierigen Umfeld groß werden.“ Hinzu kommt, dass Runge und Heuer in ihrer Praxis etwa 100 Kinder mit Mukoviszidose behandeln − eine Erbkrankheit, die dazu führt, dass sich Schleim in den Bronchien festsetzt und nicht abgehustet werden kann. Außerdem behandeln sie rund 400 Kinder mit zum Teil überdurchschnittlich schwerem Asthma. Diese Kinder erhalten mittlerweile dank des medizinischen Fortschritts Medikamente, die ihre Lebensqualität deutlich verbessern. Aber diese Arzneien sind sehr teuer. Ein schwer asthmakrankes Kind brauche pro Quartal Medikamente für 900 bis 1000 Mark. „Wir verschreiben nur, was medizinisch notwendig ist. Das Dilemma: Wenn ich ein neues, aber hoch wirksames Medikament nicht anwende, mache ich LL mich als Arzt, der einen Eid geschworen hat, immer dem Wohle des Patienten zu dienen, strafbar. Dafür versage ich als Betriebswirt, der mit seinem Haushalt nicht auskommt.“ Und zwar so eklatant, dass allein durch das Überziehen seines Arzneimittel-Budgets die Existenz der Praxis gefährdet sein könnte. Für 172 000 Mark habe er bislang in diesem Jahr Medikamente verschreiben dürfen. Tatsächlich verschrieben hat Runge aber für 1,2 Millionen Mark. Schon 1999 hat die Praxis ihr Arzneimittel-Budget um eine Million Mark überschritten. Die Budgets sind vom Gesetzgeber als Mittel zur Kostendämpfung beschlossen worden. Jeder niedergelassene Arzt hat ein Praxis-Budget, aus dem er unter anderem sein Honorar bezieht, und ein Arzneimittel-Budget. Überzieht er den Haushalt, kann er in Regress genommen werden. Entweder persönlich, wenn ihm nachgewiesen wird, dass er schuldhaft überzogen hat, oder pauschal, wenn ein Überziehen unvermeidlich war. Dann teilen sich alle Hamburger Ärzte das Defizit. Über Runges Praxis entscheidet darüber in diesen Tagen der Prüfungsausschuss der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigung Hamburg. Runge hofft auf eine Freistellung vom Regress, denn das Gesetz sieht diese Ausnahmen bei Schwerpunktpraxen vor, zu denen Runge seine auf die Behandlung von Asthma und Mukoviszidose spezialisierte Praxis zählt. Für den Kinderarzt bedeutet diese Entscheidung Pleite oder Das verdienen deutsche Ärzte n Hamburg arbeiten etwa 130 niedergelassene KinIderärzte in rund 100 Praxen. Nach Abzug der Betriebskosten hatte ein Kinderarzt 1996 in Westdeutschland ein Jahreseinkommen von im Schnitt 174 000 Mark brutto. Der Durchschnitt aller Ärzte lag bei 185 000 Mark. Ein Hals-Nasen-Ohrenarzt kam auf 251 000 Mark brutto, ein Allgemeinmediziner auf 156 000 Mark. 1997 betrug der Durchschnittsverdienst aller Hamburger Ärzte 124 000 Mark brutto. Allgemeinmediziner kamen 1998 auf 110 000 Mark. Dass das Einkommen hier niedriger ist, liegt an der hohen Ärztedichte. Problematisch ist für Kinderärzte vor allem die Höhe der Arzneimittelkosten, die sie pro Kind im Quartal verschreiben dürfen. Laut Kassenärztlicher Vereinigung Hamburg sind dies 48,81 Mark. Zum Vergleich: Allgemeinmediziner dürfen für Menschen unter 65 Jahren 79,46 Mark für Medikamente ausgeben, für Rentner fast 245 Mark. dick Praxiserhalt. „Unter dem Damoklesschwert der Existenzvernichtung eine medizinisch notwendige Patientenversorgung gewährleisten zu müssen, erscheint kaum denkbar“, schrieb Runge deshalb voller Sorge an Gesundheitsministerin Andrea Fischer (Grüne). Doch ihre Antwort hat ihn tief enttäuscht. Sie sei für seine Probleme beim Arzneimittel-Budget nicht verantwortlich, ließ sie Runge durch einen ihrer Mitarbeiter wissen. Für die Verteilung der Gelder seien die Verbände der Krankenkassen und die Kassenärztliche Vereinigung in Hamburg zuständig. Runge müsse seine Kritik deshalb an diese Vertragspartner richten. „Frau Fischer scheint zu glauben, die Erde sei flach. Sie ist aber nun einmal rund. Es gibt Tatsachen, an denen wir nicht vorbeikommen. Wenn mein Budget verbraucht ist und ich mich dann weigere, notwendige Medikamente zu verschreiben, mache ich mich der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Das ist eine Straftat“, sagt der Kinderarzt. Wer hat nun Schuld an der Misere − die Ärzte oder die Politiker? Es ist ein offenes Geheimnis, dass Kinderärzte in der Selbstverwaltung der Ärzteschaft kaum eine Lobby haben. Wenn es dort um die Verteilung der Gelder geht, haben sie es schwer. Sie sitzen zwischen den Stühlen, sind offiziell Fachärzte mit einem breiten Spektrum, für die Eltern dagegen Hausärzte, die ihre Kinder bis zur Pubertät betreuen. Sie hängen am Ende eines Systems, das nicht frei ist von Absurditäten. So hat zum Beispiel die Pharmaindustrie wie jeder Industriezweig ein großes Interesse am Profit. Die deutschen Apotheker ebenfalls. Runge schätzt, dass bei einem Medikamentenverbrauch von 1,2 bis 1,4 Millionen Mark pro Jahr nur durch seine Praxis die Apotheker einen Brutto-Gewinn von etwa 400 000 Mark dadurch haben, dass sie die Medikamente „über den Tisch reichen“. Der Staat verdiene an seinem Medikamentenverbrauch allein 220 000 Mark durch die Mehrwertsteuer. Das Geld, das durch die Beiträge der Krankenversicherten zur Verfügung steht − im gesetzlichen System sind das 250 Milliarden Mark − hält aber offenkundig nicht mehr mit dem medizinischen Fortschritt mit. Sobald Ärzte die guten, teuren Medikamente verschreiben, sprengen sie das gesetzlich festgelegte Budget. Die Folge: Die immer knapper werdenden Mittel müssen die Ärzte unter sich selbst aufteilen. Jeder ist sich selbst der Nächste. Und wer − wie die Kinderärzte − immer den kleinsten Brocken erwischt, steht vor dem Problem, sich für das Ethos oder die Wirtschaftlichkeit zu entscheiden. Wie soll es weitergehen? Die Fronten zwischen Gesundheitsministerin Fischer und der Ärzteschaft sind so verhärtet, dass sie einem Stellungskrieg gleichen. Gesundheitsexperten sind sich einig, dass spätestens in der nächsten Legislaturperiode 2002 bis <> Nr. 239 2006 das Gesundheitssystem so reformiert werden muss wie zurzeit das Rentensystem. Wenn die Menschen stabile Krankenkassenbeiträge wünschen, können sie nach Expertenmeinung nur dann vom medizinischen Fortschritt profitieren, wenn sie zu mehr Eigenverantwortung − höheren Zuzahlungen oder privater Vorsorge − bereit seien. Doch nicht bei den Kindern, Seite 3 2 fordert Runge und fragt zu Recht: „Was sind dieser Gesellschaft ihre Kinder wert? Wir sparen in der Gesundheitspolitik massiv bei den Kindern. Wir müssen aufpassen, was wir uns damit antun. Kinder großzuziehen ist eine eine große soziale Leistung. Das ist lebensbejahend. Dazu gehört auch die Gesundheitsvorsorge. Die müsste für Kinder risikofrei, also kostenfrei, gehalten sein.“ Schwarz E-Blau E-Rot E-gelb Und Runge macht noch eine Feststellung: „Kinder liegen nicht im Blickfeld der politischen Entscheider. Sie haben keine Lobby. Medizinisch im Fokus ist das, was die Mandatsträger auch selbst betreffen könnte. Zum Beispiel die gesamte Herz-Kreislauf-Medizin. Es gibt auch zu wenig Mandatsträger, die selbst Kinder haben.“ Bei der Kinder- und Jugendmedizin gehe es um die Si- cherung der gesellschaftlichen Zukunft. Deshalb sei gerade hier Prävention so wichtig. „Im Grunde müsste man Präventionsmodelle über 20 und 30 Jahre hinweg anlegen. Wie ein Förster, der bei der Pflege seines Waldes auch sehr langfristig, Generationenübergreifend denken muss. Doch welcher Politiker würde sich schon auf eine so lange Frist festlegen?“ L
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