Elterninformation Nr. 63 November 2010 Seite 48 Was Menschen Menschen antun Präsentation der Schülerarbeiten zur Lebenssituation Kriegsgefangener im ehemaligen Auf meinen Lesereisen komme ich viel in Schulen des In- und Auslandes herum, kann vergleichen, kann einigermaßen beurteilen. In der heutigen Zeit erlebe ich nicht gerade täglich etwas Mutmachendes auf dem weiten Gebiet des deutschen Schulbetriebs. Es fehlt nicht nur an Geld. Es fehlt auch an Motivation und ldealismus. Ja, ldealismus ist heute nicht „in“. Oft wird er bereits mit Dummheit gleichgesetzt. Am 10.06.2010 erlebte ich im HansEhrenberg-Gymnasium Sternstunden, die mich überzeugten. Die mich wieder glauben ließen: „Es geht d o c h !“ Schon im Sommer 2009 nahm Rainer Froböse, Deutsch- und Geschichtslehrer der Schule, das Kooperationsangebot von Dr. Jörg van Norden (Universität Bielefeld) und Oliver Nickel (Dokumentationsstätte ,,Stalag 326“) an, mit den Schülerinnen und Schülern seines Differenzierungskurses im Jahrgang 9 die bitteren Aufenthaltsbedingungen russischer Kriegsgefangener im „Stalag 326“ zu erforschen. Studenten der Universität trugen Materialpakete mit Originaldokumenten zusammen und es gelang Herrn Froböse, die Schülerinnen und Schüler zu motivieren, sich anhand weniger Spuren mit ihrer Fantasie in die damalige Situation der Russen hineinzuversetzen. Denn die Präsentationen der von den Jugendlichen erarbeiteten Resultate gingen unter die Haut. Anfangs mag mancher der Zuhörer und Zuschauer gedacht haben: Warum längst vergangene Tragik noch einmal aufrühren und bewusst machen? Lasst doch Vergangenes vergangen sein! Aber alle Präsentationen – z. B. das (fiktive) Tagebuch eines Gefangenen, Gedanken zu dem Tagesablauf der Lagerinsassen, zu ihren ausgemergelten Körpern, zu im Lager entstandenen Zeichnungen, zu Kranken und Verwundeten bei längst nicht ausreichender Nahrung – ließen den einzelnen jungen Menschen empört erkennen, was Menschen Menschen antun können, und führten ihn zu dem energischen Vorsatz, der sicher als Ziel dieser Unterrichtseinheit gedacht war: lch will im Rahmen meiner Möglichkeiten dazu beitragen, dass so etwas nie wieder geschieht! Hier waren engagierte Schülerinnen und Schüler und ein idealistischer Lehrer am Werk, der nicht danach fragte, wie viele Stunden es ihn gekostet hat, die Voraussetzungen für diese Präsentationen zu schaffen. Und dem es gelang, durch sein eigenes Beispiel seine Schüler zu Erkenntnissen zu motivieren, die mithelfen, Menschen menschlicher zu machen. Diese Veranstaltung gab Hoffnung, machte Mut, zeigte, wie Unterricht a u c h gestaltet werden kann! Leider war nur eine geringe Anzahl der Eltern der Einladung zu dieser Präsentation gefolgt. Kann man daraus schließen, dass viele Eltern ihre Kinder im Stich ließen, weil sie deren so intensive, so menschenbildende Arbeit nicht wichtig genug nahmen? Und ich meine, das in das Projekt investierte immense pädagogisch-didaktische Engagement hätte von mehr Eltern Anerkennung und Dankbarkeit verdient. Gudrun Pausewang, Schriftstellerin Über die Ergebnissse der Schülerarbeiten freuen sich (von links) Dr. Jörg van Norden (Universität Bielefeld), Rainer Froböse und Oliver Nickel (Dokumentationsstätte „Stalag 326“, Stukenbrock). Das Schicksal der Kinder im Stalag fassten Sarah Brinkschröder und Angelika Lipp auf einer Kinderfigur aus Pappe zusammen. Foto: Harald Mallas, UK Das Begräbnis (eine präsentierte Schülerarbeit ...) Bei der Zeichnung handelt es sich um eine schwarz-weiß Kohlezeichnung. Auf den ersten Blick ist auf ihr eine Situation zu sehen, die einem Begräbnis ähnelt. darstellen. Links im Vordergrund befindet sich ein älterer Mann in gebeugter, trauernder Haltung, leicht bekleidet mit einer dünnen Jacke, einer Hose und einfachen Schuhen. Er hat eine Schaufel in der rechten Hand und das Gesicht und den Körper nach rechts gewandt. In der Mitte im Vordergrund erkennt man Schraffierungen auf dem Blatt. Sie sollen wohl einen staubigen, nur spärlich mit Gras bewachsenen Boden Rechts im Vordergrund sieht man einen Soldaten, der die Vorgänge in aufrechter Haltung und mit einem Gewehr bewaffnet beobachtet und die anwesen- Beschreibung Seite 49 Nr. 63 November 2010 Elterninformation Stammlager „Stalag 326“, Stukenbrock in der Aula der HES den Gefangenen bewacht. Sein Gewehr hängt an einem Gurt über seiner linken Schulter, sein Gesicht und sein Körper sind nach links gedreht. Direkt vor dem Soldaten am Boden befindet sich ein Baumstumpf. Im Mittelpunkt des Bildes liegt zusammengekauert ein wahrscheinlich toter Kriegsgefangener auf seiner rechten Körperhälfte. Er ähnelt dem Gefangenen, der links im Vordergrund steht, aufgrund der kurz geschorenen Haare, der zerschlissenen Kleidung und der Holzschuhe. Der offensichtlich Verstorbene liegt auf einem Leinentuch, das an zwei Holzstangen befestigt ist. Links neben ihm kann man ein offenes Grab erkennen, wahrscheinlich ausgehoben von dem Gefangenen links im Vordergrund und von einem der Gefangenen im Hintergrund, da beide Schaufeln in ihrer rechten Hand halten. Die zentrale auf diesem Bild dargestellte Handlung, das Begräbnis, ist also im Bildmittelpunkt zu erkennen. Im Hintergrund in der Mitte sieht man den schon erwähnten Gefangenen mit der Schaufel in der rechten Hand und zwei weitere Kriegsgefangene rechts und links hinter ihm, alle mit dem Gesicht der Leiche zugewandt. Der links stehende Gefangene hat seine Hände unter der Hüfte wie zum Gebet gefaltet und seinen Kopf nach vorne geneigt. Auch er zeigt eine trauernde Haltung. Wahrscheinlich trägt er ein Hemd, eine Hose und dazu einfache Holzschuhe. Der Gefangene, der rechts steht, sieht nicht direkt zur Leiche, sondern eher nach rechts in die Ferne. Er trägt das Gleiche wie der vorher beschriebene Gefangene. Deutung Wie schon in der Beschreibung erwähnt, ist auf dem Bild ein Begräbnis dargestellt. Diese Behauptung kann man mit der trauernden Haltung von fast allen Kriegsgefangenen, den Schaufeln in den Händen von zwei Gefangenen und dem leblosen Gefangenen auf der Trage begründen. Das Be- gräbnis wird von einem Soldaten bewacht. Die Zeichnung zeigt zum einen die Solidarität zwischen den Gefangenen, weil es bestimmt ein großer Kraftaufwand war, das Grab trotz der Unterernährung auszuheben, und zum anderen den traurigen Alltag, das beständige Sterben entkräfteter Gefangener, das im Gefangenenlager Stalag 326 an der Tagesordnung war. Meine Geschichte zur Zeichnung „Das Begräbnis“ Wieder ist einer gestorben. An dem Üblichen. Erschöpfung oder vielleicht Hunger? Ich weiß es nicht. Ich kannte ihn schließlich auch nicht. Er war ein Mann, der im Dreck schlafen musste. Er war ein Mann, der nichts als einer Wassersuppe mit schon verdorbenem Gemüse zu essen bekam. Er war ein Mann, der gearbeitet hat, bis er bewusstlos in den Staub gefallen ist und den Kampf um das Überleben schließlich aufgeben musste. Er war einer von uns. Für mich ist er ein Mann, der vielleicht Familie hat. Vielleicht ein Mann, der von seinen Kindern vermisst wird, um den seine Eltern weinen? Für die Deutschen war er nur Vieh. Nicht einmal das. Ich bezweifle, sie könnten Tieren das antun, was sie uns antun. Immerhin durften wir ihm ein Grab ausheben. Sonst werden die Leichen einfach in eine Grube geworfen, neben der wir unter grausamen Magenschmerzen einzuschlafen versuchen. Fliegen fangen schon an, sich über den Leichnam herzumachen. Und ich sehe nur dabei zu. Es ist mir gleichgültig. Es macht nichts mehr einen Sinn, weder diesen Mann zu begraben, noch zu versuchen, hoffnungsvoll weiter für mein Überleben zu kämpfen. Niemand hat bisher versucht uns zu retten und es wird auch weiterhin niemand versuchen. Dieser Mann hat die einzige für ihn richtige Entscheidung getroffen. Er ist nun frei ... Früher dachte ich, es gäbe nichts Schlimmeres als den Tod ... Heute weiß ich es besser ... Fury Moszyk, jetzt Jahrgang 10
© Copyright 2024 ExpyDoc