Predigt Letzter Sonntag im Kirchenjahr 2015, Psalm 126 Ein Wallfahrtslied. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan! Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. HERR, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. „Wenn der Herr die Söhne von früheren Sklaven und die Söhne von früheren Sklavenbesitzern auf den roten Hügeln von Georgia an einem Tisch der Bruderschaft gemeinsam niedersetzen lässt … Wenn der Herr die kleinen Kinder in der Welt eines Tages in einer Nation leben lässt, in der sie nicht wegen der Farbe ihrer Haut, sondern nach dem Wesen ihres Charakters beurteilt werden, so werden wir sein wie die Träumenden. Wir würden es kaum glauben.“ So hätte man vor knapp 50 Jahre berühmte Worte eines berühmten Mannes in den Psalm 126 einflechten können. Im August 1963 als Martin Luther King verkündete: Ich habe einen Traum. So ist das wenn man träumt. Die Hoffnungen und Ziele fliegen so hoch, dass sie fast nicht zu glauben sind. Der Friedensnobelpreisträger und fromme Christ M-L. King war stark und unermüdlich im Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Er hat ihn mit dem Leben bezahlt. Und doch: dieser Traum in Amerika hat sie alle aufgerüttelt und langsame, vorsichtige Schritte der Veränderung ermöglicht. „Ich habe einen Traum, dass eines Tages jedes Tal erhöht, jeder Hügel und Berg erniedrigt werden. Die unebenen Plätze flach und die gewundenen Plätze gerade, und die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden und alles Fleisch miteinander wird es sehen. Dies ist unsere Hoffnung.“ So predigte Martin Luther King. Biblische Bilder ruft er wach, mitten in der noch gnadenlosen Realität seiner Gesellschaft. Das sind keine Hirngespinste oder weltfremde Phrasen, das ist die Sprache, von deren Kraft und Macht immer noch Aufbruch, Rettung und Veränderung zu erwarten ist. Ich habe einen Traum: Worte wie diese haben die Menschen verändert. Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, werden wir sein wie die Träumenden. Träume verändern Menschen. Menschen verändern die Welt, wenn sie nicht ablassen zu träumen und festhalten, an dem was unerreichbar und traumverloren scheint. Und wenn sie davon sprechen. Wie in den alten Worte der Getrösteten, die noch glaubten, sie träumten als ihnen doch Rettung zuteilwurde. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein. Lange schon träumen die Menschen auf der Erde. Davon berichten alte und uralte biblischen Traumgeschichten. Da sieht ein junger Mann auf der Flucht im Traum eine Leiter, die reicht bis in den Himmel. Hinauf in das Land hoch über allem unserem Sein, von wo aus Gott dem Leben dieses Flüchtlings Jakob Kraft zuspricht und große Nachkommenschaft verheißt. Ein anderer Junge, ein zarter Träumer wie es heißt, war durch den Hass und die List seiner Brüder in fremdes Land verschleppt worden. Der mächtige Pharao dort, ratlos und einsam mit seinen Sorgen, sieht in einem Nachtgedanken fette und magerere Kühe, volles und verdorrtes Korn, die wechseln einander ab. Und Josef – ein Sohn des Jakob – legt diese Bilder aus. Die Träume verändern sein Leben. Und das Leben der damals bekannten Welt. Frieden und Fortschritt und am Ende die Einkehr der ganzen zerstrittenen Familie bilden den Höhepunkt der Biographie von Josef und seinen Brüder. Immer wieder erzählt die Bibel, dass Menschen in Träumen und Visionen etwas erfahren, das sie neu zum Nachdenken bringt; ihnen unbekannte Wege erschließt und Gewissheit gibt, dass Gott gerade dann handelt, wenn Menschen es nicht vermögen. Oder nicht mehr vermögen. Also ist es wichtig, dass Menschen Visionen entwickeln und mit ihren Träumen von einer besseren Welt genauso freudig zum Ziel kommen, wie die Gefangenen Zions zurückkamen aus Babylon. Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens sein. Wege der Erlösung müssen wir gehen lernen. Und es wird uns gelingen, was wir heute kaum glauben können. Es wird uns gelingen, die Leere an unserer Seite zu akzeptieren; anzunehmen, dass diese Frau, dieser Mann, mein Vater, meine Mutter, mein Freund den Weg voraus in die Freiheit der Erlösten gegangen ist. Es wird gelingen, auch wenn ich es heute kaum glauben kann. Es wird uns gelingen, die schreiende Bedrohung von gewaltbereiten, fanatischen Menschen mit der Hoffnung unseres Glaubens zu tragen und zu ertragen. Nicht abzurücken von dem Auftrag, die Liebe zu schützen und Gefühle zu bewahren und zu pflegen, anstatt sie der Kälte und dem Hass und dem Tod zu opfern. Das wäre der Sieg des Todes. Wir aber glauben an den Sieg und die Wahrheit des Lebens. Es wird uns gelingen, die Gedankenlosigkeit und Oberflächlichkeit der breiten Masse in Anteilnahme zu wandeln, das lächerliche stumme „Spazierengehen“, von dem keine Veränderung zu erwarten ist, sondern von dem nur Erschwernis und Belästigung ausgeht, in einen zielgerichteten Auszug zu verwandeln. Ein Weg in die Freiheit, auf dem politische Verantwortung nicht lauthals gefordert, sondern vor allem übernommen wird. Durch Anteilnahme, Verzicht, Gerechtigkeitssinn und Gottvertrauen. Es wird uns gelingen. Dann wird man sagen unter den Heiden: Der HERR hat Großes an ihnen getan! Der HERR hat Großes an uns getan; des sind wir fröhlich. Gott kann das Geschick wenden. So wie er immer wieder nach schwerer Nacht helle Tage geschenkt hat. Die Erinnerung daran gibt Zuversicht auch in der gegenwärtigen Bedrängnis. Die Beter lassen nicht ab, um Gottes Eingreifen in schwerer Zeit zu bitten. Damit das Geschick sich wendet und aus dem Schmerz des Fremdseins und der Ferne ein gelöstes Lachen wird. Die Gefangenen Zions kamen zurück aus Babylon. Sie kamen mit großen Hoffnungen und ernteten zunächst tiefe Enttäuschungen. Ihr Land war von anderen besetzt, zum Teil verwüstet und nicht kultivierbar. Sie gewannen keine Freiheit, sondern fanden das Elend. In dieser Situation entsteht der 126. Psalm. Ein Lied, das bedrängte Menschen aller Zeiten gesungen haben und singen als Ausdruck ihrer Hoffnung, dass auf Tränen Freude folgt und die Treue Gottes noch immer gilt – trotz allen Elends. Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Sie gehen hin und weinen und streuen ihren Samen und kommen mit Freuden und bringen ihre Garben. Mit den Worten ihres Psalms blicken sie zurück, die Heimkehrer aus dem babylonischen Exil. Und preisen Gottes Tat. Heimkehr, ja. Heimkehr ist, wenn die Umwege und Abwege des Lebens einen Ausweg gefunden haben. Wie wäre das, wenn ich nach der Irrfahrt meiner Jahre als Heimkehrer da stünde, zurückgebracht wie einer von diesen Gefangenen? HERR, bringe zurück unsre Gefangenen, wie du die Bäche wiederbringst im Südland. Ganz plötzlich füllten sich die ausgetrockneten Bachbette in der Steppe des Südlandes zur Regenzeit wieder mit Wasser. Wie ein milder Frühregen bringt Gott die Erneuerung der erschöpften Quellen. Lebensspendendes Wasser ergießt sich über die ausgedorrten Seelen. Heimkehr, ja. Ersehnter Tag – aber vielleicht auch gefürchtet. Franz Kafka hat ein Gleichnis zur Heimkehr geschrieben: „Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinander verfahren, verstellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen? Wer wartet hinter der Tür der Küche? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause? … Weil ich von der Ferne horche, erhorche ich nichts, nur einen leichten Uhrenschlag höre ich oder glaube ihn vielleicht nur zu hören, herüber aus den Kindertagen. Was sonst in der Küche geschieht, ist das Geheimnis der dort Sitzenden, das sie vor mir wahren. Je länger man vor der Tür zögert, desto fremder wird man. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Tür öffnete und mich etwas fragte. Wäre ich dann nicht selbst wie einer, der sein Geheimnis wahren will.“ So fragt Kafka in seiner kürzesten Erzählung, mit dem Titel Heimkehr. Wie wäre es, wenn jetzt jemand die Türe öffnete, um mich aus der Kälte der Tage meines Lebens hereinzulassen, in sein warmes Haus, sein Heim, und seine Liebe und Zuversicht mit mir teilte? Wäre das so, wie der Psalm das sagt? Der Psalm, der an diesen letzten Tagen des Kirchenjahres uns auch an unsere letzten Tage erinnern will? Weil wir diesen Traum in uns tragen, dessen Wahrheit und Kraft uns immer wieder umhüllt hat, immer wieder nach vorn gewiesen und immer wieder zuversichtlich auf das Morgen sehen, darum wird es so sein, wie der Psalm es sagt Wenn der HERR die Gefangenen Zions erlösen wird, so werden wir sein wie die Träumenden. Dann wird unser Mund voll Lachens und unsre Zunge voll Rühmens sein.
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