Was Butter tee und buddhistischer Glaube gemeinsam haben - und warum es Elefantenfüße in der Wüst gibt Es sollte laut Reiseführer ein einfacher „Babytrek“ werden, die Wanderung von Likir nach Tingmogang. Vielleicht überlisteten wir bereits die Einfachheit, als wir vom Ort Alchi aus starteten. Zumindest war von Beginn an das Empfinden „einer einfachen Wanderung“ nicht vorhanden und es sollte für uns persönlich zu einer Tour der besonderen Begegnungen werden. Wir begannen unsere einwöchige Wandertour in dem Klosterort Alchi. Die tausendjährige Anlage thronte nicht wie die meisten Klöster auf Felsen, sondern schmiegte sich in dem kleinen Ort Alchi an andere Wohnhäuser inmitten von Feldern und Bäumen mit Blick auf den Fluss Indus und dem neuen Staudamm zur Stromversorgung. Die buddhistische Anlage bestach durch ihre wunderschönen Holzgiebel im Tempeleingangsbereich, durch besondere Stofftankas und Malereien im Inneren, filigranen Sandmandalas und Butterfiguren. Die Anerkennung zum UNESCO-Weltkulturerbe ließ auf sich warten oder würde vielleicht auch nie erfolgen. Und so bröckelten im Kloster viele der wetterempfindlichen Lehmbauten oder Malereien wurden bereits vom seltenen Regen weggewaschen. Die Zeit nagte an den kulturellen Schätzen, die doch eigentlich der buddhistischen Lehre und deren Vorstellung von Vergänglichkeit entsprach. Mit einer auffälligen wie ansteckenden Ruhe kassierte der einzig anwesende Mönch den Eintritt. Wir waren mit einem anderen Tourist die einzigen Besucher. Er öffnete uns die grossen Vorhängeschlösser an den uralten Holztüren und schloss sie nach der Besichtigung ebenso sorgfältig wieder ab. Wir kehrten am nächsten Morgen während des Sonnenaufgangs zum Kloster zurück und genossen die ersten wärmenden Sonnenstrahlen, die sanft durch die vielen umherstehenden Bäume und deren Laub schienen. Wir saßen auf einer Bank vor dem verschlossenen Tempel und betrachteten die aussenliegenden Holzschnitzereien. Der gleiche, ältere Mönch von gestern saß uns gegenüber. Er fragte nicht, ob wir noch einmal in den Tempel wollten oder was wir hier machten. Wir durften einfach dasitzen, die Stille und den Ort geniessen. Das war das Gefühl, welches wir in Ladakh in vielen Situationen spürten: Hier durfte man einfach sein, auch ohne etwas Sichtbares zu tun. Wir kehrten zum Frühstück in unsere Privatunterkunft zurück. Während wir aßen drehte der Opa bereits seine Gebetsmühle und murmelte Mantras vor sich her. Seine kleine Enkelin malte und die anderen Familienmitglieder starrten schweigsam in ihren ersten Buttertee. Wir packten nach dem Frühstück unsere Sachen und gingen auf der staubiger Schotterstrasse in Richtung Hauptstrasse. Während wir noch den Morgenappell mit Gesang in einer kleinen Dorfschule hörten, stoppte ein Wagen neben uns. Unser Gepäck lag schnell auf der Ladefläche und wir fuhren in Richtung unseres nächsten Ziels Likir. Wir fanden den Vorschlag des Fahrers großartig, dass wir einem alten Trampelpfad über einen Bergsattel nach Likir folgen könnten. Durch die gesamte Hochgebirgswelt - und damit auch durch Ladakh - zogen sich alte Handelswege, die früher von den Karawanen gegangen waren. Die legendäre und sagenumwobene Seidenstraße kannte jeder. Heute bevorzugten die Menschen, die dicht an den Hauptverkehrsverbindungen lebten, eher den verlässlichen Bus als Packtiere. Der Trampelpfad war trotzdem mit Tierdung übersät. Und so folgten wir den ausgetretenen Tierwegen bis hinauf zum Bergsattel. Als Orientierungsmarkierung diente uns eine in der Hochwüste weiß leuchtende Chörte. Der Blick vom höchsten Punkt in Richtung des Tals von Likir war atemberaubend schön. Ein grünes Band von Bäumen und Feldern zog sich entlang des Flusses. Die grüne Oase inmitten tiefer Schluchten offenbarte in der Ferne die erhöht liegende Klosteranlage von Likir. Trotz des beeindruckenden Anblicks erschien uns etwas komisch. Hier wehten keine bunten Gebetsfahnen. Es zeigte sich auch kein erkennbarer Trampelweg in das Tal hinunter. Wir probierten mehrere Wege aus, die immer wieder am Abgrund endeten. Schließlich wagten wir den Abstieg über einen steilen Geröllhang. Die letzten schweren Regenfällen hatten diesen wie riesige Elefantenfüße ausgewaschen. Von seinen Zehen ging es mehrere hundert Meter in die Tiefe. Mit jedem Schritt lösten sich scharfkantige Steine, die abrutschten und einem den sicheren Halt nahmen. Nichts schien mehr den Untergrund zusammenzuhalten. Ich (Birte) hegte grundsätzlich die Einstellung, dass die meisten schwierigen Situationen über Konzentration und Ruhe zu lösen sein. In dieser Situation verlor ich jedoch meine wohl zu positive Vorstellung und damit die Macht über meinen Körper, denn ich begann das erste Mal in meinem Leben zu hyperventilieren. Ich klebte hilfesuchend am Hang, anstatt die Haftung meiner Wanderstiefel durch das senkrechte Stehen auszunutzen. Meine Atmung ging nur noch in eine Richtung, nämlich in Richtung meiner Lunge. Das Gefühl kam auf, dass die Lunge auf die Größe eines Taschentuchs schrumpfte. Was sie wohl auch tat. Ingo blieb nichts anderes übrig, als mich und zwei schwere Rucksäcke im steilen Hang zu sichern. Nach zwei langen Stunden, drei unkontrollierbaren Hyperventilierungsattacken und Ingos einsame Schleppen der Rucksäcke näherten wir uns dem Grund der Schlucht. Plötzlich sahen wir aus den Augenwinkeln einen jungen Mann wild winkend auf der anderen Seite der Schlucht stehen. Ja, wir wussten, dass diese Aktion nicht nur dramatisch aussah, sondern auch gefährlich war. Mit flinken Schritten kam er auf uns zu und stieg die letzten hundert Meter ebenfalls den Geröllhang hoch. „very, very dangerous“ aus dem Mund eines Ladakhis meint genau das. Ansonsten hatten wir die Erfahrung gemacht, dass alles eher als leicht oder kurzweilig empfunden wurde. Und so führte er uns den Rest des Abstieg, hielt mich mit starker Hand und ermutigte immer wieder durch energisches „jump“ über die tiefen Auswaschungen zu springen. Unser einheimischer Retter hieß Punchok. Er half so selbstverständlich und lud uns schließlich in das Haus seiner Familie ein, die wir im Laufe des Nachmittags alle kennenlernen sollten. Ob wir diese besondere Gastfreundschaft erfuhren, weil wir nach unserer Odyssee so erschöpft aussahen, oder es die normale ladakhische Gastfreundschaft war, werden wir nur raten können. Die wunderbare Situation war nun die: Wir saßen auf gemütlichen Teppichen vor niedrigen Tischchen, auf denen immer mehr Köstlichkeiten wie Weintrauben, Äpfel, Brot, Saft, Tee und schließlich auch ein warmes Reisgericht standen. Die Gastfreundschaft ließ uns die letzten Stunden schnell vergessen, und so wurden Fotoalben gezeigt und ich bekam ein lächelndes Baby auf den Arm geschoben. Die Gastfreundschaft ging soweit, dass wir die Schlafstätte im Haus dankend ablehnten, aber von ihm noch bis zum Kloster Likir gefahren wurden. Als Einheimischer kannte er viele der Mönche und besonders denjenigen mit dem wichtigen Schlüsselbund. Das Bund wanderte in Ponchuk‘s Hände und schloss alle Tempeltüren auf. Nach den ersten Eindrücken von der Anlage, die wir am nächsten Morgen vertiefen wollten, endete unsere Begegnung mit Ponchok und einer festen, herzlichen Umarmung. Er würde die nächsten Tage nicht als „Ladakh Scout“ bei der indischen Armee im Himalaya oder als UN-Soldat im Ausland dienen müssen, sondern seinen Urlaub mit der Familie verbringen. Wir wollten unsere Wanderung fortführen und uns hoffentlich auf das Niveau eines „Babytreks“ begeben. Unsere Wanderung sollte sich in den nächsten Tagen tatsächlich zu einer „normalen Wanderung“ mit Pässen von nur 4.000 Höhenmetern und großartigen Landschaften entwickeln. In den kleinen abgelegenen Dörfern, die zukünftig mit einer durchgängigen Teerstrasse verbunden werden sollten, übernachteten wir bei privaten Familien. Diese konnten sich durch ihre „Homestays“ neben ihren landwirtschaftlichen Erträgen etwas Geld dazu verdienen. Wir durften ihr Leben, das Essen, ihre Küchen und Traditionen kennenlernen und sie im Gegenzug uns. Eine Unterkunft in Tingmogang wurde von zwei Schwestern geführt, wovon eine den Weg des Nonnenlebens ausgewählt hatte. Sie zeigte beim gemeinsamen Abendessen immer wieder auf Ingo‘s Kinnbärtchen und lachte dabei lauthals los. Wir schätzten ihr Alter auf dreißig, wobei sie sicherlich auch noch mit achtzig Jahren diesen unbestechlichen Schalk im Nacken haben würde. Sie wirkte so unglaublich selbstbewusst mit ihren kurz geschorenen Haaren und ihren fehlenden Zähnen. Irgendein Umstand hatten ihr drei der vorderen Zähne inklusive eines Schneidezahns genommen. Aber dies stand mit ihrer fröhlichen Ausstrahlung und natürlichen Schönheit in keinem Widerspruch. Und auf ihrem Weg zur Erleuchtung und dem gewählten Leben sowieso nicht. Am Morgen warteten wir wie einige andere Bewohner des Dorfes auf den Bus, der uns zur Hauptstrasse und dann weiter mit einem anderen Bus nach Lamayuru bringen sollte. Buszeiten gab es kaum, nur so ungefähre Schätzungen. Und während wir noch die zu bewältigende Strecke im Kopf durchspielten, hielt unaufgefordert ein Einheimischer an, der noch freie Plätze im Auto hatte. Im nächsten größeren Ort durften wir ihn noch zu einem Tee einladen, bevor er alleine eine andere Richtung einschlug. Sein Tipp, einfach einen Wagen an dem militärischen Kontrollpunkt für die nächste Weiterfahrt zu fragen, brachte uns die Bekanntschaft zweier indischer Soldaten ein. Sie saßen etwas oberhalb der staubigen Hauptstrasse, die in Richtung Westen, sprich pakistanischer Grenze verlief, hinter einem völlig fehlplatziert scheinenden Schreibtisch. Auf diesem eingestaubten Arbeitsplatz wurde handschriftlich jede passierende Person in ein großes Buch eingetragen. Wir konnten ihre Höflichkeit nicht bremsen, denn sie erhoben sich von ihren Stühlen, um sie uns anzubieten. Mit schnellen Bewegungen wurde ebenfalls die Uniform geradegerückt und der offene Hosenreissverschluss geschlossen. Es kamen nicht viele vorbei, so dass genügend Zeit zum Plaudern blieb. Irgendwann fand sich nach einer Stunde unsere Mitfahrgelegenheit in Form eines einsam eisenden Australiers in einem für den ganzen Tag angemietetem Wagen. Er hatte so wenig Zeit, dass er nicht einmal die Ortnamen kannte, die sein Fahrer ihm „schnell mal“ zeigen musste. Unser nächster Stopp sollte in dem kleinen Klosterort Lamayuru sein. Mittlerweile waren zu dieser Jahreszeit die wenigen Ausländer aus Ladakh verschwunden, aber die mittelständischen Inder aus den überfüllten, stickigen Metropolen Delhi, Kolkatta oder Bangalore entdeckten diesen abgeschiedenen Teil Indiens. Sie rauschten mit ihren ebenfalls für mehrere Tage angemieteten Taxen in die Orte der buddhistischen Sehenswürdigkeiten und schossen schnell Fotos, bevor die Zeit wieder drängte. Wir gaben in vielen Momenten scheinbar ein interessantes Fotomotiv ab, als es die Buddhas vermochten. Am späten Nachmittag wurde es allerdings in der Klosteranlage ruhig. Die kleinen Mönche konnten ihre Schulbänke verlassen und tobten auf Strümpfen laufend durch die engen Gassen. Ihre friedliebende Lebenseinstellung ließ noch auf sich warten und so bewarfen sie sich mit Steinen. Zumindest waren sie so groß, dass sich ein Junge hilfesuchend hinter meinem Rücken verstecken wollte. Der trotzdem geworfene Stein verfehlte mich und die dahinter liegende Fensterscheibe nur um Millimeter. Ein älteren Mönch fand seine abgeschiedene Ruhe im Rohbau eines neuen Gebäudes zwischen kaltem Beton. Andere Mönche trafen sich auf einer Mauer, dessen Lage die letzten wärmenden Sonnenstrahlen einzufangen vermochte. Es kehrte Ruhe ein. Doch ein besonderer Bau ließ dann doch noch unser Adrenalin im Blut ansteigen. Etwas entfernt und nicht leicht zu finden, lag der Tempel der Schutzheiligen, der durch seinen roten Anstrich zu erkennen war. Ein Mönch sagte uns zuvor, dass wir hineingehen konnten. Beim Eintritt durch die niedrige Tür schlug uns Dunkelheit entgegen, die durch die einzige angezündete Kerze nicht zu vertreiben war. Im Nebenraum glotzten uns im Schein unserer Taschenlampen die böse aussehenden Schutzgötter an, die ihre Aufgabe der Vertreibung und damit Verteidigung des Glaubens wirklich ernst nahmen. Skelette tanzten an den Wänden und erinnerten an die Vergänglichkeit des Lebens. Aber wie man bis zum Tod das Lebens genoss und lebte, zeigte uns an diesem Tag noch eine andere Familie in Lamayuru. Ihr gutes Essen und ihre fröhliche Ausstrahlung hatten uns zu ihnen geführt. Nichts schien ein Problem für sie zu sein. Das abgelegenen und staubige Lamayuru war ihre Heimat, in der sie glücklich waren. Sie hatten sich hier eine kleine Privatpension, ein Strassenrestaurant und ein Kiosk aufgebaut. Und weil in den letzten Jahren immer mehr ausländische Touristen kamen, ging ihnen die englische Sprache mittlerweile fließend über die Lippen. Ebenso wie das immer wiederkehrende Lächeln oder laute Lachen, dass jedoch niemals aufgesetzt wirkte. Als wir am nächsten Morgen in ihrem kleinen Strassenrestaurant auf den Bus zurück nach Leh warteten, parkte der Familienvater daneben und schmiss - mal wieder lachend - eine Holzkugelmatten vom Fahrersitz nach draussen. Er hatten sich diesen kleinen Maruti-Suzuki vom Schwager geliehen, um seine Schwiegermutter aus dem Krankenhaus abzuholen. Natürlich aus Leh, weshalb er ebenso schnell und selbstverständlich unsere Rucksäcke in den ausgeliehen Wagen - jetzt ohne Massagekugeln auf dem Sitz - verstaute, uns einlud und losfuhr. Alles schien sich für uns „zurechtzulaufen“, wie man es noch in der deutschen Redensart weiß. Vielleicht kam es auch daher, weil wir uns die Zeit und Ruhe für das „Zurechtruckeln“ nahmen. Kamen wir nicht an diesem Tag an den gewünschten Ort, würden wir ihn eben am folgenden Tag erreichen. Und so kamen wir mit unserem ewig lachenden Ladakhi in seinem winzigen Wagen nach drei Stunden in Leh an. Während der Autofahrt erzählte er auch von seiner Militärzeit, von seinen 20 Jahren in Schnee und Eis an der pakistanischen Grenze während des Krieges. Nein, sein Leben hatte nicht nur auf der Sonnenseite stattgefunden. Aber als er einen bestimmten Satz über seinen buddhistischen Glauben sagte, konnten wir erahnen, was sein Leben erfüllte. Er sagte: „Könnt ihr euch vorstellen, dass mal ein Franzose zu mir gesagt hat, dass er keinen Glauben hat?“ Dabei lachte er laut, umlenkte die Manimauer neben der geteerten Strasse und fuhr fast seinen kleinen Wagen zu Schrott, „nur“ weil Buddhisten immer im Uhrzeigersinn alle Reliquien oder andere buddhistische Gegenstände umrunden. Diese Begegnung und die vielen anderen sollte uns nach unserer Wanderung mehr im Kopf bleiben, als die durchwanderte Berglandschaft. In Ladakh faszinierte das Himalaya, aber nicht wegen seiner Naturlandschaft, sondern wegen seiner offenherzlichen Menschen und ihrer gelebten, buddhistischen Kultur, wobei der Buddhismus zum Alltag dazu gehörte, wie ihr Buttertee, die Gerste, ihr bierähnliches Getränk Chan oder das Feiern. Ihr praktizierter Glaube ist nicht durch die Zahlung einer Steuer oder einem offiziellen Schreiben besiegelt. Wie konnte es uns nur in den Sinn kommen, dass es Menschen ohne Glauben gab? Hier, auf dem Dach der Welt, kam es uns tatsächlich unglaublich vor.
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