Sozialer Abbau – Ende der Eingliederungshilfe? Was können wir Angehörige dagegen tun? Referat von Herrn RA Helmut Böddeling anlässlich einer Regionalversammlung Nord am 06.09.2003 auf dem Bauckhof in Stütensen Was bedeutet Eingliederungshilfe? Seit den 60er Jahren gibt es das Bundessozialhilfegesetz (BSHG). Danach erhalten Menschen in Not ohne irgendwelche Vorleistungen Leistungen nach dem BSHG. Damit unterscheiden sich diese Leistungen von anderen Versorgungsleistungen wie z.B. Arbeitslosengeld, das man erst erhält, wenn man vorher Beiträge in die entsprechende Versorgungskasse geleistet hat. Das BSHG ist untergliedert in Unterabteilungen wie z.B. Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) Hilfe zur Pflege Blindenhilfe Krankenhilfe Eingliederungshilfe In § 39 BSHG ist geregelt, welchem Personenkreis Eingliederungshilfe zu gewähren ist und was ihre Aufgabe ist: Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind, ist Eingliederungshilfe zu gewähren. Aufgabe der Eingliederungshilfe ist es, eine drohende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen oder zu mildern und den Behinderten in die Gesellschaft einzugliedern. Damit ist die Eingliederungshilfe die rechtliche Grundlage, um die Existenz von Menschen mit Behinderung abzusichern. Sie hilft, Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft teilhaben zu lassen. Wenn sich also an § 39 BSHG etwas ändert, ändert sich somit etwas an der Existenzgrundlage behinderter Menschen! Nun steht aber als Bedrohung im Raum, dass das Kabinett in Berlin beschlossen hat, das BSHG im Zuge der anstehenden Veränderungen in der Sozialgesetzgebung abzuschaffen und durch das neue Sozialgesetzbuch XII (SGB XII) zu ersetzen. Der Hintergrund für diese Entscheidung wird vielleicht etwas klarer, wenn man erkennt, welche Kräfte zur Zeit am Werk sind. Ein Blick auf die Entwicklung des Handlungsansatzes für Behindertenhilfe mag dabei helfen. Während es vor Jahrhunderten ein geistiges Anliegen war, für behinderte Menschen zu sorgen und Klöster, Kirchen, Geistliche oder adlige Damen diese Aufgabe übernahmen, stand zu Zeiten der Preußen die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung im Mittelpunkt und die Behindertenhilfe wurde von staatlichen Einrichtungen übernommen. Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die Behindertenhilfe zum Dienstleistungsaustausch, d.h. der Staat zahlt für Leistungen, die von Einrichtungen erbracht werden. Damit wurde die Behindertenhilfe zu einer wirtschaftlichen Angelegenheit und die Verknüpfung mit der wirtschaftlichen Situation im Land begründet. Nun wird aber im Zeitalter der Globalisierung die wirtschaftliche Situation im Land immer mehr vom Einfluss großer Konzerne auf die Rahmenbedingungen mitbestimmt, im Sinne von: wenn ihr wollt, dass wir bei euch investieren, dann nur zu diesen oder jenen Bedingungen – sonst investieren wir woanders. Dieses Denken und diese Haltung /Gesetzmäßigkeiten sollen nun mehr und mehr übertragen werden auf die Soziale Arbeit und die Sozialsysteme, ganz besonders vor dem Hintergrund leerer werdender staatlicher Kassen und der zunehmenden Zahl von Menschen mit Behinderung. Was bedeutet das für den Menschen mit Behinderung und seine Würde konkret? „Würdeäquator“ 1950 60 70 80 90 2000 Seite 1 von 3 Während Anfang der 50er Jahre die Behindertenhilfe rein medizinisch ausgelegt war und z.B. Beschulung von behinderten Kindern überhaupt nicht stattfand, wurden in den 60er Jahren dank des Einsatzes der Lebenshilfe Schulen für behinderte Kinder entwickelt. In den 70er und 80er Jahren wurde der therapeutisch pädagogische Ansatz immer bedeutungsvoller und Begriffe wie Recht auf Teilhabe, Eingliederung und Ganzheitlichkeit der Eingliederungshilfe wurden geprägt und mit Leben gefüllt. Seit ca. 10 Jahren sind deutliche Rückschritte bei der finanziellen Situation von Einrichtungen festzustellen und es ist eindeutig so, dass der Markt, wo Angebot und Nachfrage den Preis bestimmen, als Steuerungsinstrument in Sozialarbeit und Behindertenarbeit eingebracht werden soll bzw. wird. Damit ist die Zeit des vernünftigen Sparens vorbei, jetzt ist die Existenz und die Würde des Menschen mit Behinderung bedroht: Um den Gesetzen der Marktwirtschaft zu genügen, muss Leistung messbar/ bewertbar gemacht und kontrolliert werden. Dafür ist immenser wachsender bürokratischer Aufwand nötig, wodurch die Zeit für den Kontakt und Zuwendung für den Menschen mit Behinderung immer kürzer wird. Ganzheitlichkeit wird abgebaut zugunsten Segmentierung, d.h. für die Pflege ist ein anderer Kostenträger zuständig als für die pädagogische Betreuung. Heute ist alles in einzelne Pauschalen für einzelne Segmente aufgeteilt. Mit diesen Pauschalen „kauft“ der Mensch mit Behinderung heute die Leistungen der Behindertenhilfe bei den Anbietern ein, er wird von diesen als „Kunde“ bezeichnet. Dies ist ein Begriff, der nicht passt für seelenpflegebedürftige Menschen. Das BSHG sieht die Bedarfsdeckung vor, d.h. der bestehende Bedarf muss abgedeckt werden, egal, wie hoch er ist. Die Hilfe richtet sich nach der Individualität des Empfängers. Diese Formulierungen vertragen sich nicht mit den Gesetzen der Marktwirtschaft und mit Pauschalen. Hier steht nicht der individuelle Bedarf des Empfängers im Vordergrund, sondern der Preis der Leistung bestimmt, wie viel Leistung für die Pauschale „gekauft“ werden kann. Inzwischen finden die Gesetze des Marktes bereits Anwendung bei Neugründung von sozialen Angeboten/ Einrichtungen. So wurde z.B. in Westfalen-Lippe nicht dem anfragenden Anbieter der Zuschlag für die Neugründung eines Angebotes erteilt, sondern dem im Ausschreibungsverfahren ermittelten günstigsten Anbieter. Dabei bleibt unberücksichtigt, dass sich Markt und die Beziehung zwischen Mensch mit Behinderung und Betreuer nicht vereinbaren lassen. Daraus erwachsen Unsicherheit, Intoleranz und Kurzlebigkeit. Lesen Sie dazu bitte den beigefügten Artikel des polnischen Soziologen Zygmunt Baumann. Seit nunmehr 10 Jahren gibt es im Bereich der Behindertenhilfe massive Einsparungen, z.B.: Deckelung der Leistungsentgelte: Die vom Leistungsträger zugebilligte jährliche Steigerung der Leistungsentgelte deckt nicht einmal die realen Kosten, wie z.B. gestiegene Personalkosten aufgrund von Tariferhöhungen. Ablehnung von bisher bewilligten Leistungen: Anträge auf Leistungen der Eingliederungshilfe werden immer häufiger negativ beschieden. Die Antragsteller müssen massiv für ihre Rechte kämpfen. Mancher hat dafür keine Energien mehr. Abschiebung in Pflegeheime: Dann ist die Pflegekasse als Leistungsträger zuständig. Als daraus resultierende Auswirkungen sind spürbar: die Personaldecke wird dünner die Gruppengrößen verändern sich Substanz- und Qualitätsverlust an vielen Stellen Aktueller Entwicklungsstand: Das BSHG wird es im nächsten Jahr nicht mehr geben. Es soll ersetzt werden durch das sogenannte SGB XII, welches im Kabinett am 13.08.2003 „durchgepeitscht“ wurde und jetzt dem Bundestag vorliegt mit der Kernaussage „Fördern und fordern“. Danach soll ein Budget, welches trägerübergreifend verwendet werden kann, bisherige einzelne Leistungen ersetzen. Das Budget ist begrenzt, der individuelle Bedarf ist nicht mehr von Interesse. Es soll der Grundsatz gelten: Ambulant vor stationär. Unter der Hand geäußertes Ziel: in den nächsten 10-15 Jahren sollen vollstationäre Einrichtungen verschwinden. Die Individuelle Hilfeplanung legt die genaue Verwendung des Budgets fest und kontrolliert gleichzeitig den Erfolg. Seite 2 von 3 Nach diesem Vortrag und den daraus gewonnenen Erkenntnissen ist allen TeilnehmerInnen klar, dass dagegen etwas getan werden muss. Die Diskussion darüber, was getan werden kann, wurde nach dem gemeinsamen Essen und einem Rundgang durch die Einrichtung intensiv geführt. Was können wir Angehörige dagegen tun? Herr Böddeling machte an einigen Beispielen deutlich, wie wichtig und bedeutungsvoll Elterneinsätze für den Erhalt von Leistungen und/oder Gesetzen ist. So haben in Schleswig-Holstein 3 (!) Mütter mit Erfolg energisch und nachhaltig dafür gekämpft, dass die Förderung für heilpädagogische Schulen nicht gekürzt wird. Die Lebenshilfe hat in Niedersachsen einen Beschluss der Landesregierung gekippt, nach dem Menschen mit Pflegestufe III ins Pflegeheim gehörten und nicht mehr in Einrichtungen der Eingliederungshilfe aufgenommen werden sollten. Als das Kindergeld für das erwachsene behinderte Kind gestrichen werden sollte, waren massenhafte Elternklagen erfolgreich: es gibt weiterhin Kindergeld.. Dass der Respekt, wenn Mutter oder Vater eines behinderten Menschen oder Kindes etwas fordern, größer ist, als wenn „Fachleute“ etwas fordern, sollte auf jeden Fall motivieren und geradezu zum Handeln auffordern. Dass Eltern wissen, was wichtig und richtig ist für ihr behindertes Kind, wird anerkannt. Die Aussage eines Behördenmitarbeiters „Bei Eltern haben wir Beißhemmung“ unterstreicht dies. Als Ergebnis der anschließenden Diskussion über das ‚was können wir tun?ú wurde festgehalten: Was kann ich selbst tun? + Politiker ansprechen + Gleichgesinnte informieren + + Infos sammeln Bundes- /Landesbehindertenbeauftragte kontaktieren Prominente Kontakte nutzen und einsetzen + Elternverein + Infoabende + Elternvereine begründen + Mitarbeit bei Verhandlungen + Infos über eigene Einrichtung einholen Es muss verhindert werden, dass Politiker ohne detaillierte Kenntnisse/Informationen über die Auswirkungen in die Debatte gehen und der geplanten Änderung zustimmen. Je mehr Betroffene über die Situation informiert sind, desto mehr können sich für den Erhalt der Leistungen einsetzen, je größer wird die Lobby. Nur wer gut informiert ist kann mitreden und sich einsetzen. Kontakte nutzen, um Thema zu transportieren und Öffentlichkeit herzustellen E N D L I C H K E I T Eltern/ Mitglieder informieren und zur Unterstützung aufrufen DER Energien bündeln Rückhalt für Vertreter der Einrichtung z.B. bei ELTERNVerhandlungen zu Leistungsvereinbarungen durch KRAFT Anwesenheit entschlossener Eltern Welche Auswirkungen haben Sparmaßnahmen im einzelnen in der Einrichtung? Region + Mitarbeit im Vorbereitungskreis + Vernetzung auch mit Einrichtungen + Regionalkonferenz BundesElternVereinigung + Informieren über Fakten + Mitglieder werben + Internet nutzen! www.bev-ev.de Ellen Kühn, Hollenstedt, 06.09.2003 Anmerkung von der BundesElternVereinigung: Ihre Information über Ihre Aktivitäten ist wichtig, damit wir sie als eine Anregung für andere Vereine weitergeben können. Seite 3 von 3
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