Was wir täglich anrichten Bei unserer Ernährung klaffen Wunsch und Wirklichkeit weit auseinander. Der Blick in die Forschung zeigt, was man im Alltag ändern kann. Drei Thesen zu unserem Essverhalten. von Susanne Schäfer Die Eigentlich-aber-Diät diktiert unseren Speiseplan Eigentlich wollen wir Obst und Gemüse essen. Im Grunde und erklärtermaßen würden wir ja gerne kochen, selbstverständlich mit frischen und natürlichen Zutaten. Wir träumen von Möhrchen, die der Bauer um die Ecke gerade aus seinem Acker gezogen hat, und von Fischen, die nach einem erfüllten Leben aus dem Teich geangelt wurden. Das sagen wir Deutschen jedenfalls, wenn man uns fragt. Untersucht man aber unsere Realität, sieht es eher süß und fettig aus. Schnell wird ein Snack verschlungen, eine Packung mit Fertigessen aufgerissen. Schnitzelähnliche Tiefkühlscheiben landen im Toaster (doch, das gibt’s wirklich). Der Eigentlich-Teil ist gekennzeichnet von lauter guten Vorsätzen, wird geprägt von allerlei Sehnsüchten und lässt sich statistisch gut erfassen: Knapp 70 Prozent der Deutschen sind fest entschlossen, sich bewusst, abwechslungsreich und gesund zu ernähren. So reden wir in Umfragen. Qualität bedeutet für die meisten von uns schon lange nicht mehr nur, dass ein Lebensmittel schmeckt und sicher ist – sondern auch, dass es aus der Nähe kommt, frisch, naturbelassen und gesund ist. Eine der fundiertesten Ernährungsstudien aus den vergangenen fünf Jahren stammt vom Institut für Demoskopie Allensbach. Das hatte 2011 und 2012 den Essensalltag der Deutschen umfassend untersucht, Auftraggeber war Nestlé. Ein Ergebnis musste für den Schweizer Lebensmittelkonzern wie Ironie klingen: Gerade einmal 17 Prozent der Befragten gaben an, der Industrie zu vertrauen. Susanne Schäfer ist Autorin der ZEIT und des ZEIT Wissen Magazins. Sie kocht oft selbst, natürlich mit viel Grün und Bio. Dafür belohnt sie sich großzügig mit Keksen, Kuchen und Schokolade Das Gefühl, das Essen stamme aus suspekten Quellen, dokumentiert auch eine andere Studie aus diesem Jahr: Satte 60 Prozent bezweifeln, dass wirklich in der Packung ist, was draufsteht. (Auch nicht unironisch: Diesmal war der Auftraggeber ausgerechnet das Zertifizier- und PrüfUnternehmen SGS Fresenius.) Aus den Daten der Markt- und Sozialforscher gewinnen wir aber auch Erkenntnisse darüber, wie viele Kalorien und Nährstoffe wir tatsächlich zu uns nehmen und ob wir mehr von den guten oder von den bösen Fetten essen. Kochen ist Kultur (Verwaltung) Am Weißen Berg 3 – 61476 Kronberg [email protected] http://www.kochenistkultur.de www.kochschulefrankfurtmain.de Die Studien gestatten uns einen Einblick in die privaten Essenswelten, von denen wir sonst höchstens kleine Ausschnitte wahrnehmen, meist im Umfeld der eigenen Freunde und Familie. Und da geht es nicht nur darum, was sich die Leute unter gutem Essen vorstellen. Sondern es wird auch deutlich, was im Alltag aus ihren Ansprüchen wird. Erste Erkenntnis: Die anderen sind auch nicht alle Schrot-und-Quark-Streber. Das ist jetzt der AberTeil dieser Diät. So aufgeklärt und anspruchsvoll wir Deutschen sind, so schnell weichen wir im wirklichen Leben von unseren Idealen ab. Zum Beispiel essen wir – gemessen an den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung – notorisch zu wenig Obst und Gemüse. Seit 2005, das hat das Max-Rubner-Institut für Ernährungsverhalten herausgefunden, sank die Obstquote auch noch um 14 Prozent (während die Fettzufuhr stieg). Und auch dieses Klischee stimmt: Insbesondere Männer vertilgen zu viel Fleisch. Dazu kommt, dass vier von zehn Deutschen einmal in der Woche oder häufiger Fertiggerichte essen, wie die Techniker Krankenkasse jüngst herausfand. In der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit gedeiht das schlechte Gewissen. "Ich ernähre mich zu einseitig", "Ich esse zu wenig Gemüse", "Ich würde öfter kochen, wenn ich die Zeit hätte" – dem stimmen vor allem Berufstätige zu. Offenbar leiden viele darunter, dass sie an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. Schuldgefühle verderben jedoch nicht nur die Laune. Ein schlechtes Gewissen macht uns auch anfällig für allerlei Kompensationsangebote. Die eigentlich lobenswerten Hinweise auf den Verpackungen – "100 Prozent natürliche Zutaten", "ohne künstliche Aromen und Geschmacksverstärker" – zielen letztlich auf unsere nagenden Skrupel. Immer neue Auswege aus unserem falschen Leben findet die Lebensmittelindustrie: So suggeriert sie erfolgreich, dass auch natürliche Stoffe wie Laktose oder Gluten schädlich sind – nicht nur für die wenigen, die an einer echten Unverträglichkeit leiden, nein, für alle. In Supermärkten gibt es inzwischen komplette "frei von"-Zonen. Dabei bieten die teuren Produkte Gesunden keinerlei medizinischen Vorteil. Mehr noch, mit vielfältigen Angeboten für alle vermeintlichen Ernährungssünder hat sich ein florierender Ablasshandel etabliert. Vitaminpillen-Hersteller machen uns weis, wir müssten selbst verschuldete Defizite mit künstlichen Nährstoffen ausgleichen, entsprechend dem Motto: nach dem Burger eine Multivitamintablette. Obwohl sich einige Nahrungsergänzungsmittel in Studien sogar als gesundheitsschädlich erwiesen haben, nimmt, statistisch gesehen, jeder vierte Deutsche solche Präparate. Nur die allerwenigsten brauchen sie auch. Kochen ist Kultur (Verwaltung) Am Weißen Berg 3 – 61476 Kronberg [email protected] http://www.kochenistkultur.de www.kochschulefrankfurtmain.de Falsche Ideale zwingen Frauen hinter den Herd Geradezu fantastisch für den Verlauf solcher Geschäfte ist das populäre Motiv, der Mensch sei voll mit Giften. Dahinter steckt die Vorstellung, Pommes, Fertig- und Kantinenessen hinterließen eine Art Müll im Körper, von dem dieser regelmäßig befreit ("entgiftet") werden müsse. Entsprechend üppig ist das Angebot von reinigenden Fastenkuren über Spezialtrünke bis hin zu "entschlackenden" und Stress beseitigenden Detox-Fußpflastern. Medizinisch ist all das umstritten. Edzart Ernst, Professor für Komplementärmedizin an der University of Exeter, meint, Verbesserungen des körpereigenen Aufräumsystems seien "nicht notwendig". Und sie könnten schon gar nicht durch Maßnahmen wie die populären Detox-Therapien erreicht werden. Denn in aller Regel ist die Natur solchen Ablassangeboten schlicht überlegen. Solange wir nicht schwer krank sind, entgiftet sich unser Körper selbst sehr effizient. Leber, Nieren und Lungen erledigen diesen Job geradezu optimal. Je hektischer der Alltag, desto mehr idealisieren wir die gemeinsame Mahlzeit Unsere Esskultur schwebt in Gefahr, wenn nicht gar in Lebensgefahr! In unserer beschleunigten Welt, in der alle von Termin zu Termin hetzen, haben Berufstätige nie mehr richtig Feierabend. Immer mehr Mütter arbeiten. Die gemeinsame Familienmahlzeit ist bedroht! So denken viele, und Kulturpessimisten beschwören "das Ende der Familie", wie Kirsten Schlegel-Matthies beobachtet. Die Professorin am Institut für Ernährung, Konsum und Gesundheit an der Universität Paderborn kritisiert, die Deutschen verklärten gemeinsames Essen im Kreis der Lieben. "Die Mutter bereitet das Essen zu als Symbol ihrer Liebe und Fürsorge", sagt Schlegel-Matthies, "dieses traditionelle Bild ist immer noch in uns verankert." Unversöhnlich scheinen tief verwurzelte Idealbilder den aktuellen Ernährungstrends gegenüberzustehen. Tatsächlich essen Eltern mittags immer seltener gemeinsam mit ihren Kindern. Aktuelle Daten der Deutschen Gesellschaft für Konsumforschung belegen zudem, dass immer weniger Deutsche selbst kochen. Und doch ist es keineswegs so, dass Familien nicht mehr gemeinsam essen. Wenn in 65 Prozent der Haushalte täglich warm gekocht wird, ist das immer noch ein beachtlicher Befund. Eine Erklärung ist, dass oft die gemeinsame Mahlzeit einfach vom Mittag auf den Abend verschoben wird. Im Alltag finden die Eltern darüber hinaus zahlreiche pragmatische Lösungen: Sie nehmen die Hilfe von Großeltern in Anspruch oder bedienen sich beim Kochen zeitsparender Halbfertiggerichte. Probleme entstehen dann, wenn unsere Ehrfurcht vor der Norm der gemeinsamen Mahlzeit zu groß ist. Das Idealbild der Familie, die sich morgens, mittags und abends völlig entspannt zu einem intensiven Gespräch um den Tisch versammelt, macht es besonders Frauen schwer, die laut Statistik immer noch meist fürs Kochen zuständig sind. "Frauen stehen unter dem enormen Druck, dem Ideal entsprechen zu müssen", hat Schlegel-Matthies beobachtet. Kochen ist Kultur (Verwaltung) Am Weißen Berg 3 – 61476 Kronberg [email protected] http://www.kochenistkultur.de www.kochschulefrankfurtmain.de Die Energie, die es Frauen kostet, dieses Klischee zu bedienen, ist bemerkenswert. "Offenbar wenden diese Frauen viel Kraft auf, um entgegen dem Trend mittags gemeinsame Mahlzeiten zu ermöglichen", stellt der Sozialwissenschaftler Immanuel Stieß fest. Als er am Frankfurter Institut für sozial-ökologische Forschung den deutschen Ernährungsalltag erkundet habe, sei er überrascht gewesen, "dass auch in Teilzeit berufstätige Frauen den großen Aufwand betreiben, mittags nach der Arbeit das Kind abzuholen und dann zu kochen". Dass viele berufstätige Mütter dann bei sich selbst Abstriche machen, bestätigt Uta Meier-Gräwe, Haushaltswissenschaftlerin an der Universität Gießen. Wer etwa ganztags arbeite, besorge oft in der Mittagspause die Zutaten für das Abendessen, statt selbst in Ruhe zu essen. Am Abend versuchten dann viele, die Rolle der sorgenden Ehefrau und Mutter möglichst perfekt auszufüllen. "Insbesondere berufstätige Akademikerinnen legen großen Wert auf ein schönes Ambiente beim Abendessen: Blumenschmuck und Kerzen kommen durchaus auch werktags auf den Tisch", erzählt Meier-Gräwe. Wie aber ist das Familienessen vor denen zu retten, die es durch Glorifizierung gefährden? "Die Väter sollten sich mehr beteiligen", schlägt der Sozialforscher Immanuel Stieß vor. Mehr noch: Eine Runderneuerung unserer Esskultur erscheint notwendig. Flexiblere Rollen in der Küche und reduzierte Ansprüche an die Regelmäßigkeit und Pünktlichkeit der Mahlzeiten können dabei helfen, im unübersichtlichen Hickhack aus Idealvorstellung und gelebter Wirklichkeit entspannt zu bleiben. Und selbst wenn die Mahlzeit aus Halbfertigprodukten besteht: Die ist doch selbst gekocht. Bei aller Vielfalt – die Kluft zwischen guter und schlechter Ernährung wächst Ob Öko oder Tiko, Salat aus Unkräutern oder Tomaten vom Balkon – Deutschland probiert sich durch. Es stellt keinen Widerspruch mehr dar, wenn man sich mittags an der Wurstbude eine Portion Pommes/Curry holt und abends ins Sternerestaurant geht. Wir kaufen problemlos mal beim Discounter ein und mal auf dem Wochenmarkt. Fleisch vom Grill und vegane Kost nebst grünen Smoothies sind gleichzeitig in Mode, und es gibt sogar einen Ernährungstypus, der all das für sich vereinbaren kann: die "Flexitarier" essen nur ab und zu Tiere und lieben es sonst vegetarisch. Selbst die traditionelle Ordnung der feinen und weniger feinen Speisen ist durcheinandergeraten. Räucherlachs, der früher nur etwas für die besseren Leute war, wird für 2,99 Euro im Kühlregal verramscht, während Spitzenköche Hausmannskost servieren (sogar Koteletts mit Pommes). Warum uns diese Vielfalt so irritiert? Weil Essen Identität stiftet. Wenn es aber nicht mehr die eine Esskultur gibt, die uns und unsere Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Milieu kennzeichnet, sondern unüberschaubar viele – dann macht uns das unsicher. Einige Wissenschaftler versuchen, das stark fragmentierte Feld der Nahrungsaufnahme zu ordnen. Dazu teilen sie die Objekte ihrer Betrachtungen in Esstypen ein. Inzwischen sind um die zehn Kategorien nötig, um unserer zerfaserten, individualisierten Lebensrealität einigermaßen gerecht zu werden. Kochen ist Kultur (Verwaltung) Am Weißen Berg 3 – 61476 Kronberg [email protected] http://www.kochenistkultur.de www.kochschulefrankfurtmain.de So beschreibt die Allensbach-Studie von 2011 diejenigen, die zwischen Pommesbude und GourmetDinner pendeln, als die "modernen Multi-Optionalen" (meist: junge Erfolgreiche). Daneben gibt es aber ebenso noch die ganz bodenständigen Esser, die an Gewohnheiten festhalten und kulinarische Moden vorbeiziehen lassen: die "Leidenschaftslosen" mögen am liebsten deftige Hausmannskost. Und auch die "Maßlosen" (oft ledige, junge Männer) sind weniger experimentierfreudig. Sie erwarten nur, dass es schnell geht und schmeckt und die Portionen groß sind. Essgewohnheiten und Vorurteile In Tiefeninterviews hat das Marktforschungsinstitut Rheingold Salon Ernährungstypen wie "Mr. und Mrs. Right" ausgemacht (die ihren hohen sozialen Status über gesunde, nachhaltige Ernährung inszenieren) und "Food Poser" (die eine Designküche besitzen, aber doch lieber essen gehen). Bei aller Zerfaserung bleibt eine Unterscheidung seit Jahrzehnten erhalten: Je höher die Schulbildung und das Einkommen sind, desto gesünder ernähren sich die Deutschen (und desto geringer ist ihr Body-Mass-Index). Wer wenig verdient, isst dagegen überproportional viel Fleisch. Diese Ergebnisse bestätigen Untersuchungen immer wieder, 2008 die Nationale Verzehrstudie, zuletzt im vergangenen Jahr eine Studie der Techniker Krankenkasse. Werden solche Ergebnisse allzu verkürzt dargestellt, können sie allerdings viel Unheil anrichten. Wenn sie uns nämlich glauben machen, aus dem Ernährungsstil weitreichende Schlüsse, ja Urteile ziehen zu können: Wer Fertiggerichte kauft oder Fast Food konsumiert, ist wahrscheinlich auch übergewichtig – und daran auch noch selbst schuld. Der vertrackte Zusammenhang: In der neuen Unübersichtlichkeit kommt jedem Gericht, neben Brennwert und Nährstoffen, ein besonderer symbolischer Gehalt zu. Rohkostsalat und veganes Curry sind eben nicht einfach nur Gerichte, sondern Zeichen. Sie signalisieren, dass der Esser sich diszipliniert, auf sich achtet, verantwortungsvoll in die Zukunft blickt – Eigenschaften, die in unserer Zeit hoch angesehen sind. Ein gesunder Ernährungsstil sei für Menschen aus höheren Schichten ein Mittel, ihre Milieuzugehörigkeit zu demonstrieren und sich gleichzeitig von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzugrenzen, schreibt Eva Barlösius, Soziologie-Professorin an der Universität Hannover, in ihrem Buch Soziologie des Essens: Gerade soziale Aufsteiger achteten besonders oft auf kontrollierte Ernährung. Sie wollten so "ihren ökonomischen Aufstieg kulturell absichern". Wegen der identitätsstiftenden Kraft, die vom Essen ausgeht, können gut gemeinte Kampagnen, die uns zu einer gesünderen Ernährung bewegen sollen, sogar mehr schaden als helfen. Ein wenig Sensibilität im Umgang mit entsprechenden Daten und darauf beruhenden Appellen kann da von Vorteil sein. Zu schnell provoziert Trotz, wer andere mit besserer Ernährung zwangsbeglücken will. Das zeigte sich, als die Idee eines bundesweiten vegetarischen Tags in Kantinen aufkam. Erbost und massenhaft reagierten Fleischliebhaber auf den "Veggie-Day" im Internet: "Dann bringe ich mir mein Wurstbrot eben selbst mit" oder "Jetzt esse ich noch mehr Kochen ist Kultur (Verwaltung) Am Weißen Berg 3 – 61476 Kronberg [email protected] http://www.kochenistkultur.de www.kochschulefrankfurtmain.de Fleisch". Essen stiftet eben auch dann Identität, wenn es weder bio noch fair gehandelt oder vegan ist. Bei all der zu beobachtenden Fragmentierung der Essenslandschaft und dem Streben nach Distinktion übersehen wir jedoch leicht, dass Essen auch größere Zusammenhänge und sogar ganze Gemeinschaften verbinden kann. Fragt man uns Deutsche einmal generell nach unserem Lieblingsessen, antworten wir ziemlich einhellig: Pizza und Pasta. Darauf können wir uns doch schon mal einigen. (Quellennachweis) Artikels aus der ZEIT Kochen ist Kultur (Verwaltung) Am Weißen Berg 3 – 61476 Kronberg [email protected] http://www.kochenistkultur.de www.kochschulefrankfurtmain.de
© Copyright 2024 ExpyDoc