Freie und Hansestadt Hamburg Erster Bürgermeister Trauerfeier zum Gedenken an Ralph Giordano am 8. Januar 2015 Liebe Freundinnen und Freunde von Ralph Giordano, meine sehr geehrten Damen und Herren, das war – auch an dem heutigen, vielfach traurigen Tag – eine schöne Idee, so anzufangen. Ich weiß nicht, welchen spezifischen Musikgeschmack Ralph Giordano hatte. Aber ich ahne, dass sich ein Leben von solcher Bewegtheit und Tiefe, auch mit seinen Untiefen, in den nur scheinbar einfachen Strukturen des Blues spiegeln kann, in zwölf Takten zwischen Himmel und Hölle. Viele hier im Theater wissen vermutlich, dass Axel Zwingenberger noch einer, durchaus verwandten Leidenschaft folgt: Dampflokomotiven zu fotografieren. Auch das passt zu Ralph Giordano: War er nicht so etwas wie „The last of the steam powered trains“? Hat er nicht unverdrossen eine schwere Fracht über rumpelnde Gleise gezogen, über die für viele andere schon bald nach dem Ende des Krieges und der Nazizeit Gras hätte wachsen sollen? Er hat uns, auch in seiner Heimatstadt Hamburg, aus der „zweiten Schuld“ des Verdrängens und Vergessenwollens nicht entlassen. Aber er hat sich auch nie damit zufriedengegeben, anzuklagen. Vielmehr hat Ralph Giordano als Autor, als Journalist, als Mann des Films, als Vortragender, schließlich als das Gesicht des Bertini-Preises immer zu zeigen versucht, wie man schreckliche Irrwege erkennt und vermeidet. Sein Publikum waren, je älter er wurde, immer mehr die jungen Leute. An sie hat er geglaubt und sehr viele haben ihm zugehört und daraus auch eigenes Engagement abgeleitet: für eine Willkommenskultur, für couragiertes Widersprechen und Eingreifen dort, wo ausgegrenzt und angegriffen wird. Ralph Giordano war – so treffend hat es Wolf Biermann neulich geschrieben – „ein tapferer Soldat in Heinrich Heines Freiheitskrieg der Menschheit“. Kein Zweifel, er hätte auch heute, oder schon gestern, zu dem menschenverachtenden Terroranschlag auf die Redaktion der Zeitschrift „Charlie Hebdo“ in Paris Worte gefunden. Uns fallen richtige Worte schwer. - 2 Mit Entsetzen und Trauer haben der Senat und ich die Nachricht von dem Anschlag aufgenommen. Ich möchte auch in diesem Moment hier den Bürgerinnen und Bürgern Frankreichs und Ihrer Regierung mein Beileid und tiefes Mitgefühl aussprechen. Zumal wir wissen – Ralph Giordano hat es uns über Jahrzehnte ständig nahegebracht, mit seiner journalistischen Arbeit für den NDR und WDR und andere –, dass die freiheitlich-demokratische Kultur, die uns nach 1945 wiedergeschenkt wurde, dass sie grundlegend durch die Meinungs- und Pressefreiheit geprägt ist. Welche genutzt und verteidigt werden muss. Wie jener großartige Journalist und Freiheitskrieger – mit der Waffe des Wortes –, wie Heine war auch Giordano in seiner Argumentation beides: aggressiv und feinsinnig, klar und differenziert. All das fast immer. Ganz immer geht nicht, auch mit dem besten Florett kämpft es sich schwer gegen Mistgabeln. Millionen kennen „Die Bertinis“, den Roman seiner Familie, als Buch oder als Film oder beides. Welch Grauen erregendes Gesicht seine Heimatstadt Hamburg im Alltag der Nazizeit dieser so genannten halbjüdischen Familie gezeigt hat, und dem Schüler Ralph Giordano selbst, wissen wir seitdem, auch wenn es wohl kein später Geborener, bei aller Eindringlichkeit der Schilderung, sinnlich ermessen kann. Ralph Giordanos Meisterschaft auf dem Gebiet des Auffächerns schwieriger komplexer Sachverhalte hat er aus meiner Sicht am eindrucksvollsten gezeigt – und übrigens sehr aktuell – in seinem Ostpreußenbuch, „Reise durch ein melancholisches Land“. Es ist vielleicht nicht das bekannteste und es hat wenig mit Hamburg zu tun. Aber wer sich auf eine intellektuell und menschlich ungemein kluge Auseinandersetzung mit dem riesigen Themenkomplex einlassen will: Flucht, Vertreibung, nach dem Weggehen anderswo ankommen, mehr oder weniger willkommen geheißen werden; und dann: gute und schlechte Nachbarschaft, Revanchismus, Wandel durch Annäherung, Wandel unter dem Druck der Verhältnisse oder dadurch, dass die einen irgendwann endlich dazulernen und die anderen auch … Um all das geht es in dem Buch, das sich auf den ersten Blick als harmloser Reisebericht zu tarnen scheint. Und all das lässt uns ja nicht los, auch wenn die Schauplätze wechseln und sich inzwischen der Wald – den Staatsgrenzen nicht kümmern – Ostpreußen wiederholt. Während im heutigen Deutschland Flüchtlinge aus anderen Regionen der Welt Schutz und ein gutes Leben suchen, das sie anderswo nicht mehr finden. Ich empfehle auch diese Lektüre, dieses gar nicht harmlose Reisebuch von Ralph Giordano uns allen, übrigens auch und gerade denen von uns, die wir uns immer wieder schwer tun, aus dem periodischen System der Schubladen herauszufinden. War dieser Mann, die große intellektuelle und moralische Autorität Ralph Giordano, zu allen Zeiten seines Lebens das, was man unter „politisch korrekt“ zu verschubladen gelernt hat? War Heinrich - 3 Heine das? Ich will die Frage nicht beantworten, denn es ist keine, die auf leidenschaftliche Selberdenker passt. Eher fällt mir da wieder der „steam powered train“ ein. Giordano konnte auch rollen und stampfen, er konnte Dampf ablassen. Und vielleicht passt auch diese Zeile aus demselben Song auf ihn: „I´m the last of the good old renegades“. Jedenfalls bietet sich hier noch einmal das Bild von dem Zug an, der, einmal in Fahrt, trotzdem Signale gesehen und, wenn nötig, nach besser gestellten Weichen gesucht hat. Dann ging es besser weiter: „And I´m gonna keep rollin´ till my dying day”. Meine Damen und Herren, Hamburg trauert um Ralph Giordano, den Sohn der Stadt, die er geliebt hat. Ausdrücklich. Und warum ausgerechnet Hamburg? Dies konnte man, und kann man ihn nur selbst sagen lassen. Zitat, vor ziemlich genau drei Jahren im Kaisersaal des Rathauses: „Das Stadthaus, Sitz der Gestapo-Leitstelle und fürchterlichster Topos meines Lebens, konnte meine Bindung an Hamburg nicht zerstören. Deshalb ein Geständnis: Wann immer ich hier eintreffe, und aus welchen Himmelsrichtungen, auf welchen Straßen und Schienen auch immer – beim Anblick von Hamburgs Türmen, dieser von Kindheit an vertrautesten aller Silhouetten, jedesmal wieder Herzklopfen – Herzklopfen bis zum Halse. Was kann eine Vaterstadt von ihrem 89jährigen Sohn mehr verlangen?“ Ende des Zitates, und es muss an dieser Stelle unkommentiert bleiben. Hamburgs, und Deutschlands politische Kultur verliert einen ihrer wichtigsten Freunde, einen gänzlich unbestechlichen Beobachter, Kritiker und Berater. Ralph Giordano hat während seines gesamten langen Lebens und publizistischen Wirkens große Intellektualität und tiefe Emotionalität in sich vereint, und er hat es geschafft, vielen Lesern und Zuhörern das zu vermitteln. Er wird seiner Stadt und seinem Land fehlen.
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