SWR2 Musikstunde

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Musikstunde
Expeditionen ins deutsche Herz
Teil IV – Harzreisen im Winter
Von Katharina Eickhoff
Sendung:
Donnerstag, 22. Januar 2015
Redaktion:
Norbert Meurs
9.05 – 10.00 Uhr
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
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Musikstunde mit Katharina Eickhoff
Donnerstag, 22. Januar 2015
Expeditionen ins deutsche Herz
Teil IV: Harzreisen im Winter
Indikativ
Ende November 1777 ist Goethe dann mal weg.
Er verschwindet vom Radar, unangekündigt und unabgemeldet, und
geht sich selber suchen...Im Harz, diesem legendenumwobenen
Gebirge, das die Romantiker nach ihm dann anzog wie ein Magnet, auf
den Harzhöhen also will er ein paar Antworten finden, - und um
überhaupt nur die Fragen zu formulieren, braucht er mal ein bisschen
Seelenruhe.
Die ist ihm gerade abhanden gekommen. Im Sommer ist seine
Schwester Cornelia gestorben, mit der ihn seit Kinderzeiten eine
unterirdisch-symbiotische Beziehung verbunden hat – trotzdem oder
deswegen hat er sich die letzten Jahre von ihr ferngehalten, und da ist
sie eben gestorben, und der übriggebliebene Bruder fühlt sich nun
entwurzelt. Und dann natürlich die Sache mit Weimar: Seit zwei Jahren
lebt er, der berühmte Dichter, jetzt da, und weil der blutjunge Herzog und
dessen auch noch ziemlich junge Mama Anna Amalia ihm einfach alles
zutrauen, ist er inzwischen einer der mächtigsten Männer dort. Zuletzt
haben sie ihn, und das gefällt in Weimar vielen überhaupt nicht, als
Legationsrat ins „Geheime Consilium“ berufen, den allerkleinsten,
allerobersten Regierungskreis. Aber Goethe nimmt die Verantwortung
ernst – er will es gut machen, will nicht dilettieren als Politiker, sondern
kompetente Entscheidungen zu aller Wohl fällen.
Regieren!! - hat er vor Kurzem in sein Tagebuch geschrieben,
unterstrichen und mit zwei Ausrufezeichen, und man ahnt, dass für ihn
genauso viel Last wie Lust in dem Wort steckte.
Er muss sich jetzt vom Poeten zum Pragmatiker wandeln, sich um Dinge
wie Wegebau, Brandschutz, Steuerfragen kümmern – und er hat
berechtigte Angst, dass ihm der Poet dabei irgendwie abhanden kommt.
War es richtig, nach Weimar zu gehen? Braucht ein Dichter nicht die
Welt?
Und dann ist da natürlich noch Charlotte von Stein: Die Frau des Herrn
von Stein ist ziemlich schnell sein Fixstern in Weimar geworden, das
Gegenüber all seiner Gedanken, und auch wenn sie, die kühle Hofdame,
ihm beigebracht hat, dass man in höfischer Gesellschaft gefälligst „die
Dehors salvieren“ muss – also: den Schein wahren: Goethe hat mit ihr
sein soul mate gefunden, er liebt diese Frau. Dass er sich nicht
entschließen kann, sie auch als Frau zu erobern, hat ihn wohl selbst
irritiert, und sie vielleicht auch, wer weiß – Facebook-Status: Es ist
kompliziert, oder, wie Eugen Roth dichtete: „Ungern leuchten wir hinein/
in die Affäre Frau von Stein“.
Goethe jedenfalls braucht Abstand im Advent 1777, er, der ihr sonst
täglich mehrmals verliebte „Zettelgen“ schickt, erzählt seinem „Lieb
Gold“, wie er sie nennt, kein Wort vom Harz-Plan und verschwindet
einfach auf seinen Selbstfindungstrip. Offiziell ist er mit dem Herzog auf
Jagdgesellschaft, inoffiziell hat er sich längst abgeseilt, und als er bei
stürmischnassem Wetter davonreitet, über den Ettersberg in Richtung
Erfurt, da lässt er eine ratlose Frau von Stein mit ein paar dürren Zeilen
zurück: „Adieu, liebe Frau, ich streiche gleich ab...Ich bin in wunderbar
dunkler Verwirrung meiner Gedanken. Hören Sie den Sturm, der wird
schön um mich pfeifen.“
3’10
M0019280
T. 6
Franz Schubert/Franz Liszt, Erlkönig
Jewgenij Kissin
4’09
Zugegeben, den „Erlkönig“ hat Goethe erst ein paar Jahre nach seiner
Harz-Flucht gedichtet, und Schuberts geniale Vertonung hat er gleich
ganz ignoriert, von Liszts Klavierfassung sowieso nichts mehr
mitbekommen...aber das Stück passt gar zu schön zum Wetter damals,
und auch zu Goethes Ziel – denn der Harz, und sein höchster Berg, der
Brocken, manchmal auch Blocksberg genannt, sind ja ein heidnischer
Kultplatz und seit Urzeiten immer wieder im Gespräch, wenn es um böse
Geister geht: Alben und Schrate soll es dort geben, Hockaufe und
Truden, Zaunreiter und allerhand Bocksfüßiges, und dazu noch jede
Menge Untote - „The walking dead“, die preisgekrönte Zombie-Serie,
scheint ein Kindergeburtstag gegen das, was einem mit etwas Pech auf
dem Brocken begegnen kann...
Und siehe da: Als ich mich, ungefähr um die gleiche Zeit im Jahr wie
Goethe damals, ihm auf den Fersen zu meiner Harzreise im Winter
aufmache, ist auch gleich schon alles wie verhext. Ich habe natürlich
kein Pferd, vielleicht ist das der Fehler, denn hinter Erfurt hört einfach die
Autobahn auf, und das Navi spielt verrückt, als ob Außerirdische dran
herumspielen. Ich sehe ihn schon von fern, den Harz, aber das System
behauptet, es seien noch knapp fünf Stunden. Das muss die
Relativitätstheorie des Zauberbergs sein...
Irgendwie fahre ich jetzt so auf Verdacht und der Nase nach, vorbei an
schwarzer Erde und verfallenen Gehöften in Richtung Sangerhausen,
dann Nordhausen, dann Abzweig in den Harz, und - los geht der Spaß:
die Straße ist eng und steil und führt durch die Wälder, und die irren
Wurzelformationen scheinen extra hergehext, um arme, müde
Autofahrer vom Wegesrand aus zu verwirren. Nichts da: „Bin gewohnt
das Irregehen, s führt ja jeder Weg zum Ziel...“ – Die „Winterreise“ passt
hier natürlich auch gut her, und Lieder mit Texten von Wilhelm Müller
singt dann tatsächlich auch die Studentenschaft, die Heinrich Heine
droben auf dem Brocken trifft, aber das kriegen wir später, bzw. morgen!
Die Orte haben hier plötzlich einen anderen Charakter, ich fahre durch
ein etwas heruntergekommenes Zuckerbäcker-Märchenland. Mit
Holzlatten geschindelte oder Fachwerk-durchbrochene Häuser, viele
hübsche Bürgerbastionen aus der Jahrhundertwende-Zeit mit Erkerchen
und prachtvollen Jugendstil-Verzierungen - diese Gegend hat mal richtig
gute Zeiten gesehen, damals, als Bergbau noch ein Geschäft war und
der Harz DAS Ausflugsgebiet nördlich vom Weißwurstäquator. Eine Art
Schwarzwald Mitteldeutschlands war das, so scheint’s, und alle sind sie
hier herumspaziert, Andersen und Eichendorff und Heine und tutti quanti,
das gesamte romantische Personal hat sich hier vom rauschenden Tann
inspirieren lassen und für ein bisschen Walpurgisnachtsgrusel und
mythische Schauder den Brocken erstiegen – Goethe allerdings war
ihnen allen eine Nasenspitze voraus. Er war der erste Dichter, der den
Berg bezwungen und daraus dann große Poesie gemacht hat, sein
hymnisches Gedicht „Harzreise im Winter“ nämlich, über das gleich noch
ausführlicher zu reden sein wird, sobald diese fürchterliche Autofahrt im
Winter mal zu Ende ist...Es schneeregnet ohne Unterlass, der Wind
peitscht Wassergarben an die Scheibe, und man ist ja so neidisch auf
Heine, der hier im sonnigsten September über die Wiesen und durch die
Wälder tanderadeite und davon träumte, dass ihm die schöne Ilse den
Berg herunter in die Arme stürzt – die Ilse ist in Wirklichkeit ein
Flüsschen, das den Brocken hinunterfließt...aber das alles kriegen wir
morgen – heute ist Goethes Harzreise, und der hatte schlechtes Wetter.
Was ihn kein bisschen angefochten hat, im Gegenteil, die erhoffte
therapeutische Wirkung dieses Trips setzt unverzüglich ein bei ihm.
Gleich am ersten Tag notiert er: „Stürmisch gebrochen Wetter, reine Ruh
in der Seele.“
4’00
CD 12 – 058113
T. 1
ausbl. ab 3’28
Felix Mendelssohn Bartholdy, Die erste Walpurgisnacht,
Ouvertüre: Das schlechte Wetter
Bayerisches Staatsorchester, Kent Nagano
„Das schlechte Wetter“ – so hat Felix Mendelssohn diese Ouvertüre hier
getauft, sie gehört zu seiner Vertonung von Goethes „Die erste
Walpurgisnacht“. Auch so ein Harz-Großgedicht, das Thema
Walpurgisnacht hat ihn ja mehr als einmal beschäftigt. Wobei sein
„Faust“ mit der allseits bekannten Sause auf dem Brocken erst 1808
herausgekommen ist, die Ballade „Die erste Walpurgisnacht“ stammt
aber schon von 1799. Es ist uralte Überlieferung, dass sich das ganze
böswillige Hexen-Gelichter alljährlich auf dem Brocken im Harz trifft, um
sich dort mal so richtig gepflegt gehenzulassen. Das jedenfalls haben
sich die Leute über Jahrhunderte bibbernd erzählt, und diese
Geschichten aus dem Volk, die hatten es Goethe angetan – sicher auch
deswegen, weil er seit seinem Selbstfindungstrip mit Ende Zwanzig eine
so spezielle, fast magische Beziehung zu diesem Berg gehabt hat.
In jedem Fall war er es, der die „Walpurgisnacht“ erst so recht als
künstlerisches Sujet in der Kulturgeschichte platziert hat.
Und zwar eben nicht bloß mit dem „Faust“. Die Walpurgisnachts-Ballade
allerdings erzählt interessanterweise eine völlig andere, nämlich die
vermutlich wahre Geschichte hinter dem Hexentreiben, wie sie Goethe
damals von einem Altertumsforscher erfahren hat. Dass es nämlich in
heidnischen Zeiten der Brauch war, in der Nacht zum ersten Mai droben
auf dem Brocken den Naturgottheiten zu huldigen. Was dann natürlich
mit Machtübernahme der Christen ganz schnell verboten und verfemt
war. Die Leute haben sich aber ihre Verbindung mit der Natur nicht so
einfach austreiben lassen, und sie sind auf eine List verfallen – sie
haben sich für ihr Ritual auf dem Brocken einfach als Teufel und Hexen
verkleidet und jede Menge unheimlichen Radau gemacht; so haben sie
sich die vor Angst schlotternde Glaubenspolizei vom Hals gehalten und
konnten ganz in Ruhe ihren heidnischen Götterdienst abhalten.
Genau davon singt dann der Chor der Druiden in Goethes Ballade:
Diese dumpfen Pfaffenchristen,
lasst uns keck sie überlisten!
Mit dem Teufel, den sie fabeln,
wollen wir sie selbst erschrecken.
Kommt! Kommt mit Zacken und mit Gabeln,
und mit Glut und Klapperstöcken
lärmen wir bei nächt'ger Weile
durch die engen Felsenstrecken!
2’20
gleiche CD wie eben
T. 8+9
T. 8 bisschen einbl., im Übergang zu 9 ausbl.
3’30
Felix Mendelssohn Bartholdy, Die erste Walpurgisnacht,
Kommt mit Zacken und Gabeln
Audi Jugendchorakademie, Bayerisches Staatsorchester, Kent Nagano
Goethe hat sich sein völkerkundlich bewegtes Gedicht von Anfang an als
eine Art Kantate vorgestellt und hat es an seinen Busenfreund Zelter
geschickt, der zum Glück gleich merkte, dass dieser Schuh eine
Nummer zu groß für ihn war, - er hat den Text an seinen jungen
Überflieger-Schüler Felix Mendelssohn weitergereicht. Und der hat mit
dem ganzen Impetus seiner 21 Jahre dann auch tatsächlich ein Stück für
Chor , Orchester und Solisten von geradezu heidnischer Energie daraus
gemacht...
Auf dem Weg her habe ich seit Nordhausen versucht, einen Blick auf
den Brocken zu erhaschen, aber irgendwie ist es wie mit Avalon: Ich
fahre ständig um das Trumm herum, die Nebel wallen, aber der Berg
zeigt sich nicht, - man muss wohl erst das Zauberwort finden...
Goethe hat das Bergobjekt seiner Begierde übrigens auch erst mal
tagelang umkreist. Bergwerke hat er besichtigt – das hat er seinem
Fürstenfreund Carl August gegenüber als Reisegrund angeben, sie
wollen die Minen in Ilmenau wieder flottmachen, und da sollte Goethe
mal bei ein paar florierenden Bergwerken vorbeischauen und sich Tipps
holen. Und dann besucht er noch in Wernigerode einen gewissen
Plessing.
Plessing, ein Mensch mit frühromantisch verwirrtem Gemüt, hat keinen
seiner vielen Studiengänge so recht zuende gebracht und ist spätestens
seit der Lektüre von Goethes „Werther“ völlig durch den Wind, was er
dem „Werther“-Autor in diversen langen Hilferufs- und Klagebriefen
mitgeteilt hat. Man weiß nicht so recht, wieso Goethe beschlossen hat,
nun ausgerechnet diesen Fan kennenlernen zu wollen – der „Werther“
hat ja bekanntlich damals ungezählte junge Männer aus der Bahn
katapultiert, wenn Goethe sich alle die Krisen, die er verursacht hat,
einzeln aufgehalst hätte, wäre aus ihm kein Olympier mehr geworden.
Friedrich Plessing aber hat er besucht, und die Erschüttertheit dieses
Mannes, der genau so alt war wie er selbst, hat Goethe irgendwie
seltsam berührt. Vielleicht ist ihm auch im Angesicht dieses
Weltschmerz-Opfers und seiner verbitterten Weltverneinung erst so
richtig klar aufgegangen, dass seine eigene vermeintliche Krise gar
keine war.
Goethes ganz großes Glück ist es ja gewesen, dass sein Innerstes,
seine „Zitadelle“, wie er das nannte, sein ganzes Leben über
beneidenswert unversehrt geblieben ist – was ihn nicht gehindert hat zu
fühlen und mitzufühlen, aber innerlich schwebte er gleichzeitig über
allem, uneinholbar, unverwundbar, dem Geier gleich...
„Dem Geier gleich“ – so fängt dann das in jeder Hinsicht große, düstere
und ziemlich unzugängliche Gedicht an, das er aus dem Harz mitbringt,
die „Harzreise im Winter“, die es ohne die Begegnung mit dem
unglücklichen Plessing so nicht gegeben hätte, denn im Grunde entwirft
Goethe da ein Bild ihrer so gegensätzlichen Existenzen:
„Dem Geier gleich, / Der auf schweren Morgenwolken / Mit sanftem
Fittich ruhend / Nach Beute schaut, / Schwebe mein Lied. / Denn ein
Gott hat / jedem seine Bahn / Vorgezeichnet, / Die der Glückliche /
Rasch zum freudigen / Ziele rennt...“.
Das ist die eine Seite, aber gleich drauf kommt Goethe auf die armen
Seelen zu sprechen, die es nicht so gut getroffen haben:
„Aber abseits wer ists? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm
schlagen / Die Sträuche zusammen, / Das Gras steht wieder auf, / Die
Öde verschlingt ihn. // Ach, wer heilet die Schmerzen / Deß, dem Balsam
zu Gift ward? / Der sich Menschenhaß / Aus der Fülle der Liebe trank?“
Vor allem diese Stelle ist es, die romantisch mehr oder weniger schwer
erschütterte Seelen von Anfang an innig geliebt haben an diesem
Gedicht.
Johannes Brahms zum Beispiel hat sich da in dieser Definition des
unverstandenen Einzelgängers wiedergefunden, als er 1869 mitansehen
musste, wie Clara Schumanns Tochter Julie, in die er heimlich verliebt
gewesen war, sich von einem italienischen Grafen wegheiraten ließ. „Mit
Zorn!“ habe er ihr dieses Brautlied komponiert, schreibt Brahms an den
Verleger – aber seine Seufzer, die hat er schon auch mit hineinfließen
lassen....
4’30
CD 19 – 051959
T. 2
bis 3’40
Johannes Brahms, Alt - Rhapsodie op. 53
Anne Sofie von Otter, Wiener Philharmoniker, James Levine
Mission accomplished: Der Besuch bei Plessing, hat die intuitiv erhoffte
Wirkung, zumal Goethe dieses Erlebnis des Mitfühlens einwebt in seine
eigentliche Einsamkeits-Mission – er brauchte dringend mal wieder ein
poetisches Erlebnis, das seine dichterische Fantasie beflügelt, also hat
er es sich inszeniert: Der einsame Mann, der große, unzugängliche
Berg, der bittere Winter, voilà, wenn das kein Setting für lyrische
Höhenflüge ist. Um die Romanhaftigkeit der Situation noch zu befördern,
reist er übrigens die ganze Zeit unter falschem Namen, stellt sich überall
als „Maler Weber aus Darmstadt“ vor.
Den falschen Namen verkneife ich mir, als ich da so auf seinen Spuren
im Hotel am Fuß des Brocken einchecke, er selber hat in Torfhaus beim
Förster gewohnt, ein Forsthaus gibt’s da heute auch noch, aber man will
ja heutzutage ungern fremden Privatleuten zur Last fallen... – und ich
will ja im Übrigen auch nur der Inszenierung hinterherreisen und nicht
Teil von ihr sein, wobei: Romanhaft einsam bin ich auch, allerdings eher
unfreiwillig...Es haben mir nämlich im Vorfeld alle, die ich zum
Mitkommen aufgefordert habe, den Vogel gezeigt: In den Harz???
Im Winter??? Bist Du wahnsinnig??? Da gibt’s doch nur Kälte und
Matsch und Resopaltische mit Fondor-Flaschen drauf!
Das ist natürlich Blödsinn, die Slowfood-Bewegung ist inzwischen auch
in den Harz vorgedrungen, und als es endlich mal aufhört zu schütten,
kommt eine einzigartig schöne Gegend zum Vorschein, Wald, Berg,
Ebene, Licht und Nebel, alles ist da – und am nächsten Morgen leider
auch die Sturmwarnung, und die Dame im Hotel wird ziemlich nervös,
als sie hört, dass ich gleich alleine auf den Brocken steigen will.
Da oben werden ja nicht umsonst regelmäßig die höchsten
Windgeschwindigkeiten im ganzen Land gemessen...Aber ich denke an
die Briefstelle, wo Goethe an die Stein schreibt, dass „...doch nichts
abenteuerlich ist als das Natürliche“, ziehe mir den Goethe-Schlapphut
tief ins Gesicht, suche mir bei Torfhaus hinter dem Landschulheim den
Einstieg zum Goethe-Weg und stiefle los.
1’50
12 – 62400
CD2, T. 15
Faust – Die Rockoper – „Zum Brocken!“
Alban Gaya, Falko Illing
1’20
So hört sich das an, wenn Mephisto und Faust zum Hexensabbath auf
den Brocken steigen, und zwar im Rahmen von „Faust – Die Rockoper“,
ein offenbar ziemlich erfolgreiches Event, das in Festspielmanier immer
mal wieder droben auf dem Brocken im Goethesaal des Brockenhotels
aufgeführt wird. Mephisto sieht auf den überall um den Brocken
verteilten Plakaten zwar verdächtig aus wie Gene Simmons von „Kiss“,
aber die Texte, die sie sprechen, sind original Goethes „Faust“, wenn
auch bis zur Unkenntlichkeit zusammengekürzt.
Ganz hübsch ist ja bei Fausts und Mephistos Aufstieg zum Brocken,
dass es Faust ist, der da jugendfrisch volle Kraft voraus nach oben strebt
und Tempo macht, derweil Mephisto, der am Blocksberg doch eigentlich
ganz und gar zu Hause ist, hier anscheinend schon an
Ermüdungserscheinungen laboriert, er findet die Kraxelei anstrengend,
ihm ist es „winterlich im Leibe“, jammert er, und außerdem rennt man ja
bei dieser Dunkelheit alle naslang gegen einen Felsen oder Baum...Das
erinnert eigentlich ein bisschen an Goethes eigene Brockenbesteigung,
die dann am 10. Dezember 1777 stattfindet, oder besser gesagt:
beinahe nicht stattgefunden hätte. Es war nämlich, wie sich rausstellt,
noch nie irgendwer im Winter dort oben, nicht mal der zuständige
Forstmann. Aber Goethe wird den zaudernden Wildhüter mit seinem
Élan vital aus der Reserve locken und als zögerlichen Führer mit auf
Berges Spitze schleppen. - Im Brief an Charlotte von Stein beschreibt er
später, wie unglaublich glücklich es ihn gemacht hat, dass seine innere
Notwendigkeit, diesen Berg zu besteigen, gestillt worden ist:
„Ich habe ein Zeichen ins Fenster geschnitten zum Zeugnis meiner
Freudentränen, und wärs nicht an Sie, hielte ichs für Sünde, es zu
schreiben. Ich habs nicht geglaubt bis auf der obersten Klippe.
Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit, und heute Nacht
bis früh war er im Mondschein sichtbar und finster auch in der
Morgendämmerung, da ich aufbrach. Adieu!...“.
2’00
CD
T. 6
Franz Schubert, Wandrers Nachtlied I
Christoph Prégardien, Michael Gees
EMI 5 55007 2
1’50
...Von meditativer Stille kann nicht die Rede sein, als ich auf dem
Goethe-Weg Richtung Brockenspitze wandere: Der Sturm wird im
Gegenteil mit jedem Schritt heftiger, Schneegriesel weht ins Gesicht und
legt sich auf die Tannen, die immer weißer werden, je höher man kommt.
Als ich die Schienen der Brockenbahn kreuze, liegen die märchenmäßig
bizarren Felsen und Riesenwurzeln schon unter der Schneedecke, die
Vegetation verändert sich, die Bäume werden kleiner, und man versteht
sie irgendwie: Bei diesem Wind hier will man so wenig Angriffsfläche wie
möglich bieten...Oben angekommen, kann man sich dann nur
allerschnellstens ins Brockenhaus retten und sich einen „Schierker
Feuerstein“ bestellen – draußen kriegt man vor lauter Wind nämlich
keine Luft, der Sturm reißt einem den Sauerstoff vom Mund weg, den
man gerade einatmen will. “Was die Stürme für Zeugs in diesen
Gebirgen ausbrausen, ist unsäglich“, schreibt Goethe an Charlotte von
Stein. Und von wegen „Es ist ein muntrer Klub beisammen“ – oben im
Ausflugslokal sitzen zwar nicht Frau Baubo und Herr Urian, aber dafür
eine entsetzlich gutgelaunte Männergruppe beim Bier und prostet sich
röhrend zu. Die sind mit der Brockenbahn gekommen, das sieht man –
sie sind trocken und ungezaust, im Gegensatz zu den paar Wenigen, die
zu Fuß hier sind, und die eine ganz bestimmte Aura um sich haben:
Komplett derangiert, rotgesichtig, zottelhaarig, aber tief beglückt.
Tatsächlich ist mir an diesem Schneesturm-Morgen beim Aufstieg weit
und breit keine Menschenseele begegnet. Umso besser: So kann man
sich ganz auf diesen Berg konzentrieren, der, das spürt man auf jedem
Meter, wirklich ein ganz besonderer Berg ist – Goethe jedenfalls hat er
erst mal die Sprache verschlagen, und als er dann, wieder unten, an
Charlotte schreibt, kann er sein tiefes Glück immer noch nicht so recht in
Worte fassen.
Diese Brockenbesteigung war für ihn nicht bloß eine poetische
Unternehmung, sondern eine unbedingt notwendige kathartische Aktion,
eine Mutprobe, ein, wie er es nennt, „Befestigungszeichen“, dass er
insgesamt eben doch auf dem richtigen Weg und ganz bei sich ist.
„Liebe Frau“, schreibt er, „mit mir verfährt Gott wie mit seinen alten
Heiligen, und ich weiß nicht, woher mir’s kommt...Das Ziel meines
Verlangens ist erreicht, es hängt an vielen Fäden, und viele Fäden
hingen davon, Sie wissen, wie symbolisch mein Dasein ist - - Ich will
Ihnen entdecken (sagen Sie’s niemand), dass meine Reise auf den Harz
war, dass ich wünschte, den Brocken zu besteigen, und nun, Liebste, bin
ich heut oben gewesen...Aber das Wie, vor allem das Warum soll
aufgehoben sein, wenn ich Sie wiedersehe. Wie gerne schriebe ich jetzt
nicht!“
Wir wissen nicht, was Goethe dann nach der Rückkehr der Frau von
Stein noch alles von seiner Selbstwiederfindung erzählt hat, und ob sie
das überhaupt hat hören wollen, immerhin ist er ja grußlos abgehauen...
Aber wir haben dieses Gedicht, diese „Harzreise im Winter“, die auf den
ersten Blick so unzugänglich wirkt, und in der doch, wenn man die
Geschichte dahinter kennt, so viel brennendes Gefühl steckt.
Gegen Ende wirft sich der Dichter der mächtigen Natur in die Arme und
lässt den von Menschenverwirrung so unberührten Berg zum großen
Tröster werden:
„Du stehst mit unerforschtem Busen / Geheimnisvoll offenbar / Über der
erstaunten Welt / Und schaust aus Wolken / Auf ihre Reiche und
Herrlichkeit, / Die du aus den Adern deiner Brüder / Neben dir wässerst.“
Brahms hat den Text in seiner Alt-Rhapsodie nur bruchstückhaft vertont,
es musste erst Wolfgang Rihm kommen, um das schöne große Ganze
zu Musik werden zu lassen – eine Art Riesenlied hat er geschrieben für
den vielleicht einzigen, der sowas heute verstehend singen kann, für
Christian Gerhaher. Der hat Rihms „Harzreise im Winter“ letzten Juni in
Würzburg zusammen mit Gerold Huber am Klavier uraufgeführt, danach
noch mal in Salzburg gesungen, und diesen Mitschnitt gibt’s jetzt hier
zum ersten mal in SWR2 zu hören, vollständig, dreizehneinhalb Minuten,
Goethes Reise auf den Brocken und ins Ich...
4’00
EBU-Mitschnitt
13’30
Wolfgang Rihm, Harzreise im Winter
Christian Gerhaher, Gerold Huber
(Live-Mitschnitt BR von den Salzburger Festspielen)