SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Expeditionen ins deutsche Herz Teil IV – Harzreisen im Winter Von Katharina Eickhoff Sendung: Donnerstag, 22. Januar 2015 Redaktion: Norbert Meurs 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Im Sommer ist seine Schwester Cornelia gestorben, mit der ihn seit Kinderzeiten eine unterirdisch-symbiotische Beziehung verbunden hat – trotzdem oder deswegen hat er sich die letzten Jahre von ihr ferngehalten, und da ist sie eben gestorben, und der übriggebliebene Bruder fühlt sich nun entwurzelt. Und dann natürlich die Sache mit Weimar: Seit zwei Jahren lebt er, der berühmte Dichter, jetzt da, und weil der blutjunge Herzog und dessen auch noch ziemlich junge Mama Anna Amalia ihm einfach alles zutrauen, ist er inzwischen einer der mächtigsten Männer dort. Zuletzt haben sie ihn, und das gefällt in Weimar vielen überhaupt nicht, als Legationsrat ins „Geheime Consilium“ berufen, den allerkleinsten, allerobersten Regierungskreis. Aber Goethe nimmt die Verantwortung ernst – er will es gut machen, will nicht dilettieren als Politiker, sondern kompetente Entscheidungen zu aller Wohl fällen. Regieren!! - hat er vor Kurzem in sein Tagebuch geschrieben, unterstrichen und mit zwei Ausrufezeichen, und man ahnt, dass für ihn genauso viel Last wie Lust in dem Wort steckte. Er muss sich jetzt vom Poeten zum Pragmatiker wandeln, sich um Dinge wie Wegebau, Brandschutz, Steuerfragen kümmern – und er hat berechtigte Angst, dass ihm der Poet dabei irgendwie abhanden kommt. War es richtig, nach Weimar zu gehen? Braucht ein Dichter nicht die Welt? Und dann ist da natürlich noch Charlotte von Stein: Die Frau des Herrn von Stein ist ziemlich schnell sein Fixstern in Weimar geworden, das Gegenüber all seiner Gedanken, und auch wenn sie, die kühle Hofdame, ihm beigebracht hat, dass man in höfischer Gesellschaft gefälligst „die Dehors salvieren“ muss – also: den Schein wahren: Goethe hat mit ihr sein soul mate gefunden, er liebt diese Frau. Dass er sich nicht entschließen kann, sie auch als Frau zu erobern, hat ihn wohl selbst irritiert, und sie vielleicht auch, wer weiß – Facebook-Status: Es ist kompliziert, oder, wie Eugen Roth dichtete: „Ungern leuchten wir hinein/ in die Affäre Frau von Stein“. Goethe jedenfalls braucht Abstand im Advent 1777, er, der ihr sonst täglich mehrmals verliebte „Zettelgen“ schickt, erzählt seinem „Lieb Gold“, wie er sie nennt, kein Wort vom Harz-Plan und verschwindet einfach auf seinen Selbstfindungstrip. Offiziell ist er mit dem Herzog auf Jagdgesellschaft, inoffiziell hat er sich längst abgeseilt, und als er bei stürmischnassem Wetter davonreitet, über den Ettersberg in Richtung Erfurt, da lässt er eine ratlose Frau von Stein mit ein paar dürren Zeilen zurück: „Adieu, liebe Frau, ich streiche gleich ab...Ich bin in wunderbar dunkler Verwirrung meiner Gedanken. Hören Sie den Sturm, der wird schön um mich pfeifen.“ 3’10 M0019280 T. 6 Franz Schubert/Franz Liszt, Erlkönig Jewgenij Kissin 4’09 Zugegeben, den „Erlkönig“ hat Goethe erst ein paar Jahre nach seiner Harz-Flucht gedichtet, und Schuberts geniale Vertonung hat er gleich ganz ignoriert, von Liszts Klavierfassung sowieso nichts mehr mitbekommen...aber das Stück passt gar zu schön zum Wetter damals, und auch zu Goethes Ziel – denn der Harz, und sein höchster Berg, der Brocken, manchmal auch Blocksberg genannt, sind ja ein heidnischer Kultplatz und seit Urzeiten immer wieder im Gespräch, wenn es um böse Geister geht: Alben und Schrate soll es dort geben, Hockaufe und Truden, Zaunreiter und allerhand Bocksfüßiges, und dazu noch jede Menge Untote - „The walking dead“, die preisgekrönte Zombie-Serie, scheint ein Kindergeburtstag gegen das, was einem mit etwas Pech auf dem Brocken begegnen kann... Und siehe da: Als ich mich, ungefähr um die gleiche Zeit im Jahr wie Goethe damals, ihm auf den Fersen zu meiner Harzreise im Winter aufmache, ist auch gleich schon alles wie verhext. Ich habe natürlich kein Pferd, vielleicht ist das der Fehler, denn hinter Erfurt hört einfach die Autobahn auf, und das Navi spielt verrückt, als ob Außerirdische dran herumspielen. Ich sehe ihn schon von fern, den Harz, aber das System behauptet, es seien noch knapp fünf Stunden. Das muss die Relativitätstheorie des Zauberbergs sein... Irgendwie fahre ich jetzt so auf Verdacht und der Nase nach, vorbei an schwarzer Erde und verfallenen Gehöften in Richtung Sangerhausen, dann Nordhausen, dann Abzweig in den Harz, und - los geht der Spaß: die Straße ist eng und steil und führt durch die Wälder, und die irren Wurzelformationen scheinen extra hergehext, um arme, müde Autofahrer vom Wegesrand aus zu verwirren. Nichts da: „Bin gewohnt das Irregehen, s führt ja jeder Weg zum Ziel...“ – Die „Winterreise“ passt hier natürlich auch gut her, und Lieder mit Texten von Wilhelm Müller singt dann tatsächlich auch die Studentenschaft, die Heinrich Heine droben auf dem Brocken trifft, aber das kriegen wir später, bzw. morgen! Die Orte haben hier plötzlich einen anderen Charakter, ich fahre durch ein etwas heruntergekommenes Zuckerbäcker-Märchenland. Mit Holzlatten geschindelte oder Fachwerk-durchbrochene Häuser, viele hübsche Bürgerbastionen aus der Jahrhundertwende-Zeit mit Erkerchen und prachtvollen Jugendstil-Verzierungen - diese Gegend hat mal richtig gute Zeiten gesehen, damals, als Bergbau noch ein Geschäft war und der Harz DAS Ausflugsgebiet nördlich vom Weißwurstäquator. Eine Art Schwarzwald Mitteldeutschlands war das, so scheint’s, und alle sind sie hier herumspaziert, Andersen und Eichendorff und Heine und tutti quanti, das gesamte romantische Personal hat sich hier vom rauschenden Tann inspirieren lassen und für ein bisschen Walpurgisnachtsgrusel und mythische Schauder den Brocken erstiegen – Goethe allerdings war ihnen allen eine Nasenspitze voraus. Er war der erste Dichter, der den Berg bezwungen und daraus dann große Poesie gemacht hat, sein hymnisches Gedicht „Harzreise im Winter“ nämlich, über das gleich noch ausführlicher zu reden sein wird, sobald diese fürchterliche Autofahrt im Winter mal zu Ende ist...Es schneeregnet ohne Unterlass, der Wind peitscht Wassergarben an die Scheibe, und man ist ja so neidisch auf Heine, der hier im sonnigsten September über die Wiesen und durch die Wälder tanderadeite und davon träumte, dass ihm die schöne Ilse den Berg herunter in die Arme stürzt – die Ilse ist in Wirklichkeit ein Flüsschen, das den Brocken hinunterfließt...aber das alles kriegen wir morgen – heute ist Goethes Harzreise, und der hatte schlechtes Wetter. Was ihn kein bisschen angefochten hat, im Gegenteil, die erhoffte therapeutische Wirkung dieses Trips setzt unverzüglich ein bei ihm. Gleich am ersten Tag notiert er: „Stürmisch gebrochen Wetter, reine Ruh in der Seele.“ 4’00 CD 12 – 058113 T. 1 ausbl. ab 3’28 Felix Mendelssohn Bartholdy, Die erste Walpurgisnacht, Ouvertüre: Das schlechte Wetter Bayerisches Staatsorchester, Kent Nagano „Das schlechte Wetter“ – so hat Felix Mendelssohn diese Ouvertüre hier getauft, sie gehört zu seiner Vertonung von Goethes „Die erste Walpurgisnacht“. Auch so ein Harz-Großgedicht, das Thema Walpurgisnacht hat ihn ja mehr als einmal beschäftigt. Wobei sein „Faust“ mit der allseits bekannten Sause auf dem Brocken erst 1808 herausgekommen ist, die Ballade „Die erste Walpurgisnacht“ stammt aber schon von 1799. Es ist uralte Überlieferung, dass sich das ganze böswillige Hexen-Gelichter alljährlich auf dem Brocken im Harz trifft, um sich dort mal so richtig gepflegt gehenzulassen. Das jedenfalls haben sich die Leute über Jahrhunderte bibbernd erzählt, und diese Geschichten aus dem Volk, die hatten es Goethe angetan – sicher auch deswegen, weil er seit seinem Selbstfindungstrip mit Ende Zwanzig eine so spezielle, fast magische Beziehung zu diesem Berg gehabt hat. In jedem Fall war er es, der die „Walpurgisnacht“ erst so recht als künstlerisches Sujet in der Kulturgeschichte platziert hat. Und zwar eben nicht bloß mit dem „Faust“. Die Walpurgisnachts-Ballade allerdings erzählt interessanterweise eine völlig andere, nämlich die vermutlich wahre Geschichte hinter dem Hexentreiben, wie sie Goethe damals von einem Altertumsforscher erfahren hat. Dass es nämlich in heidnischen Zeiten der Brauch war, in der Nacht zum ersten Mai droben auf dem Brocken den Naturgottheiten zu huldigen. Was dann natürlich mit Machtübernahme der Christen ganz schnell verboten und verfemt war. Die Leute haben sich aber ihre Verbindung mit der Natur nicht so einfach austreiben lassen, und sie sind auf eine List verfallen – sie haben sich für ihr Ritual auf dem Brocken einfach als Teufel und Hexen verkleidet und jede Menge unheimlichen Radau gemacht; so haben sie sich die vor Angst schlotternde Glaubenspolizei vom Hals gehalten und konnten ganz in Ruhe ihren heidnischen Götterdienst abhalten. Genau davon singt dann der Chor der Druiden in Goethes Ballade: Diese dumpfen Pfaffenchristen, lasst uns keck sie überlisten! Mit dem Teufel, den sie fabeln, wollen wir sie selbst erschrecken. Kommt! Kommt mit Zacken und mit Gabeln, und mit Glut und Klapperstöcken lärmen wir bei nächt'ger Weile durch die engen Felsenstrecken! 2’20 gleiche CD wie eben T. 8+9 T. 8 bisschen einbl., im Übergang zu 9 ausbl. 3’30 Felix Mendelssohn Bartholdy, Die erste Walpurgisnacht, Kommt mit Zacken und Gabeln Audi Jugendchorakademie, Bayerisches Staatsorchester, Kent Nagano Goethe hat sich sein völkerkundlich bewegtes Gedicht von Anfang an als eine Art Kantate vorgestellt und hat es an seinen Busenfreund Zelter geschickt, der zum Glück gleich merkte, dass dieser Schuh eine Nummer zu groß für ihn war, - er hat den Text an seinen jungen Überflieger-Schüler Felix Mendelssohn weitergereicht. Und der hat mit dem ganzen Impetus seiner 21 Jahre dann auch tatsächlich ein Stück für Chor , Orchester und Solisten von geradezu heidnischer Energie daraus gemacht... Auf dem Weg her habe ich seit Nordhausen versucht, einen Blick auf den Brocken zu erhaschen, aber irgendwie ist es wie mit Avalon: Ich fahre ständig um das Trumm herum, die Nebel wallen, aber der Berg zeigt sich nicht, - man muss wohl erst das Zauberwort finden... Goethe hat das Bergobjekt seiner Begierde übrigens auch erst mal tagelang umkreist. Bergwerke hat er besichtigt – das hat er seinem Fürstenfreund Carl August gegenüber als Reisegrund angeben, sie wollen die Minen in Ilmenau wieder flottmachen, und da sollte Goethe mal bei ein paar florierenden Bergwerken vorbeischauen und sich Tipps holen. Und dann besucht er noch in Wernigerode einen gewissen Plessing. Plessing, ein Mensch mit frühromantisch verwirrtem Gemüt, hat keinen seiner vielen Studiengänge so recht zuende gebracht und ist spätestens seit der Lektüre von Goethes „Werther“ völlig durch den Wind, was er dem „Werther“-Autor in diversen langen Hilferufs- und Klagebriefen mitgeteilt hat. Man weiß nicht so recht, wieso Goethe beschlossen hat, nun ausgerechnet diesen Fan kennenlernen zu wollen – der „Werther“ hat ja bekanntlich damals ungezählte junge Männer aus der Bahn katapultiert, wenn Goethe sich alle die Krisen, die er verursacht hat, einzeln aufgehalst hätte, wäre aus ihm kein Olympier mehr geworden. Friedrich Plessing aber hat er besucht, und die Erschüttertheit dieses Mannes, der genau so alt war wie er selbst, hat Goethe irgendwie seltsam berührt. Vielleicht ist ihm auch im Angesicht dieses Weltschmerz-Opfers und seiner verbitterten Weltverneinung erst so richtig klar aufgegangen, dass seine eigene vermeintliche Krise gar keine war. Goethes ganz großes Glück ist es ja gewesen, dass sein Innerstes, seine „Zitadelle“, wie er das nannte, sein ganzes Leben über beneidenswert unversehrt geblieben ist – was ihn nicht gehindert hat zu fühlen und mitzufühlen, aber innerlich schwebte er gleichzeitig über allem, uneinholbar, unverwundbar, dem Geier gleich... „Dem Geier gleich“ – so fängt dann das in jeder Hinsicht große, düstere und ziemlich unzugängliche Gedicht an, das er aus dem Harz mitbringt, die „Harzreise im Winter“, die es ohne die Begegnung mit dem unglücklichen Plessing so nicht gegeben hätte, denn im Grunde entwirft Goethe da ein Bild ihrer so gegensätzlichen Existenzen: „Dem Geier gleich, / Der auf schweren Morgenwolken / Mit sanftem Fittich ruhend / Nach Beute schaut, / Schwebe mein Lied. / Denn ein Gott hat / jedem seine Bahn / Vorgezeichnet, / Die der Glückliche / Rasch zum freudigen / Ziele rennt...“. Das ist die eine Seite, aber gleich drauf kommt Goethe auf die armen Seelen zu sprechen, die es nicht so gut getroffen haben: „Aber abseits wer ists? / Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad, / Hinter ihm schlagen / Die Sträuche zusammen, / Das Gras steht wieder auf, / Die Öde verschlingt ihn. // Ach, wer heilet die Schmerzen / Deß, dem Balsam zu Gift ward? / Der sich Menschenhaß / Aus der Fülle der Liebe trank?“ Vor allem diese Stelle ist es, die romantisch mehr oder weniger schwer erschütterte Seelen von Anfang an innig geliebt haben an diesem Gedicht. Johannes Brahms zum Beispiel hat sich da in dieser Definition des unverstandenen Einzelgängers wiedergefunden, als er 1869 mitansehen musste, wie Clara Schumanns Tochter Julie, in die er heimlich verliebt gewesen war, sich von einem italienischen Grafen wegheiraten ließ. „Mit Zorn!“ habe er ihr dieses Brautlied komponiert, schreibt Brahms an den Verleger – aber seine Seufzer, die hat er schon auch mit hineinfließen lassen.... 4’30 CD 19 – 051959 T. 2 bis 3’40 Johannes Brahms, Alt - Rhapsodie op. 53 Anne Sofie von Otter, Wiener Philharmoniker, James Levine Mission accomplished: Der Besuch bei Plessing, hat die intuitiv erhoffte Wirkung, zumal Goethe dieses Erlebnis des Mitfühlens einwebt in seine eigentliche Einsamkeits-Mission – er brauchte dringend mal wieder ein poetisches Erlebnis, das seine dichterische Fantasie beflügelt, also hat er es sich inszeniert: Der einsame Mann, der große, unzugängliche Berg, der bittere Winter, voilà, wenn das kein Setting für lyrische Höhenflüge ist. Um die Romanhaftigkeit der Situation noch zu befördern, reist er übrigens die ganze Zeit unter falschem Namen, stellt sich überall als „Maler Weber aus Darmstadt“ vor. Den falschen Namen verkneife ich mir, als ich da so auf seinen Spuren im Hotel am Fuß des Brocken einchecke, er selber hat in Torfhaus beim Förster gewohnt, ein Forsthaus gibt’s da heute auch noch, aber man will ja heutzutage ungern fremden Privatleuten zur Last fallen... – und ich will ja im Übrigen auch nur der Inszenierung hinterherreisen und nicht Teil von ihr sein, wobei: Romanhaft einsam bin ich auch, allerdings eher unfreiwillig...Es haben mir nämlich im Vorfeld alle, die ich zum Mitkommen aufgefordert habe, den Vogel gezeigt: In den Harz??? Im Winter??? Bist Du wahnsinnig??? Da gibt’s doch nur Kälte und Matsch und Resopaltische mit Fondor-Flaschen drauf! Das ist natürlich Blödsinn, die Slowfood-Bewegung ist inzwischen auch in den Harz vorgedrungen, und als es endlich mal aufhört zu schütten, kommt eine einzigartig schöne Gegend zum Vorschein, Wald, Berg, Ebene, Licht und Nebel, alles ist da – und am nächsten Morgen leider auch die Sturmwarnung, und die Dame im Hotel wird ziemlich nervös, als sie hört, dass ich gleich alleine auf den Brocken steigen will. Da oben werden ja nicht umsonst regelmäßig die höchsten Windgeschwindigkeiten im ganzen Land gemessen...Aber ich denke an die Briefstelle, wo Goethe an die Stein schreibt, dass „...doch nichts abenteuerlich ist als das Natürliche“, ziehe mir den Goethe-Schlapphut tief ins Gesicht, suche mir bei Torfhaus hinter dem Landschulheim den Einstieg zum Goethe-Weg und stiefle los. 1’50 12 – 62400 CD2, T. 15 Faust – Die Rockoper – „Zum Brocken!“ Alban Gaya, Falko Illing 1’20 So hört sich das an, wenn Mephisto und Faust zum Hexensabbath auf den Brocken steigen, und zwar im Rahmen von „Faust – Die Rockoper“, ein offenbar ziemlich erfolgreiches Event, das in Festspielmanier immer mal wieder droben auf dem Brocken im Goethesaal des Brockenhotels aufgeführt wird. Mephisto sieht auf den überall um den Brocken verteilten Plakaten zwar verdächtig aus wie Gene Simmons von „Kiss“, aber die Texte, die sie sprechen, sind original Goethes „Faust“, wenn auch bis zur Unkenntlichkeit zusammengekürzt. Ganz hübsch ist ja bei Fausts und Mephistos Aufstieg zum Brocken, dass es Faust ist, der da jugendfrisch volle Kraft voraus nach oben strebt und Tempo macht, derweil Mephisto, der am Blocksberg doch eigentlich ganz und gar zu Hause ist, hier anscheinend schon an Ermüdungserscheinungen laboriert, er findet die Kraxelei anstrengend, ihm ist es „winterlich im Leibe“, jammert er, und außerdem rennt man ja bei dieser Dunkelheit alle naslang gegen einen Felsen oder Baum...Das erinnert eigentlich ein bisschen an Goethes eigene Brockenbesteigung, die dann am 10. Dezember 1777 stattfindet, oder besser gesagt: beinahe nicht stattgefunden hätte. Es war nämlich, wie sich rausstellt, noch nie irgendwer im Winter dort oben, nicht mal der zuständige Forstmann. Aber Goethe wird den zaudernden Wildhüter mit seinem Élan vital aus der Reserve locken und als zögerlichen Führer mit auf Berges Spitze schleppen. - Im Brief an Charlotte von Stein beschreibt er später, wie unglaublich glücklich es ihn gemacht hat, dass seine innere Notwendigkeit, diesen Berg zu besteigen, gestillt worden ist: „Ich habe ein Zeichen ins Fenster geschnitten zum Zeugnis meiner Freudentränen, und wärs nicht an Sie, hielte ichs für Sünde, es zu schreiben. Ich habs nicht geglaubt bis auf der obersten Klippe. Alle Nebel lagen unten, und oben war herrliche Klarheit, und heute Nacht bis früh war er im Mondschein sichtbar und finster auch in der Morgendämmerung, da ich aufbrach. Adieu!...“. 2’00 CD T. 6 Franz Schubert, Wandrers Nachtlied I Christoph Prégardien, Michael Gees EMI 5 55007 2 1’50 ...Von meditativer Stille kann nicht die Rede sein, als ich auf dem Goethe-Weg Richtung Brockenspitze wandere: Der Sturm wird im Gegenteil mit jedem Schritt heftiger, Schneegriesel weht ins Gesicht und legt sich auf die Tannen, die immer weißer werden, je höher man kommt. Als ich die Schienen der Brockenbahn kreuze, liegen die märchenmäßig bizarren Felsen und Riesenwurzeln schon unter der Schneedecke, die Vegetation verändert sich, die Bäume werden kleiner, und man versteht sie irgendwie: Bei diesem Wind hier will man so wenig Angriffsfläche wie möglich bieten...Oben angekommen, kann man sich dann nur allerschnellstens ins Brockenhaus retten und sich einen „Schierker Feuerstein“ bestellen – draußen kriegt man vor lauter Wind nämlich keine Luft, der Sturm reißt einem den Sauerstoff vom Mund weg, den man gerade einatmen will. “Was die Stürme für Zeugs in diesen Gebirgen ausbrausen, ist unsäglich“, schreibt Goethe an Charlotte von Stein. Und von wegen „Es ist ein muntrer Klub beisammen“ – oben im Ausflugslokal sitzen zwar nicht Frau Baubo und Herr Urian, aber dafür eine entsetzlich gutgelaunte Männergruppe beim Bier und prostet sich röhrend zu. Die sind mit der Brockenbahn gekommen, das sieht man – sie sind trocken und ungezaust, im Gegensatz zu den paar Wenigen, die zu Fuß hier sind, und die eine ganz bestimmte Aura um sich haben: Komplett derangiert, rotgesichtig, zottelhaarig, aber tief beglückt. Tatsächlich ist mir an diesem Schneesturm-Morgen beim Aufstieg weit und breit keine Menschenseele begegnet. Umso besser: So kann man sich ganz auf diesen Berg konzentrieren, der, das spürt man auf jedem Meter, wirklich ein ganz besonderer Berg ist – Goethe jedenfalls hat er erst mal die Sprache verschlagen, und als er dann, wieder unten, an Charlotte schreibt, kann er sein tiefes Glück immer noch nicht so recht in Worte fassen. Diese Brockenbesteigung war für ihn nicht bloß eine poetische Unternehmung, sondern eine unbedingt notwendige kathartische Aktion, eine Mutprobe, ein, wie er es nennt, „Befestigungszeichen“, dass er insgesamt eben doch auf dem richtigen Weg und ganz bei sich ist. „Liebe Frau“, schreibt er, „mit mir verfährt Gott wie mit seinen alten Heiligen, und ich weiß nicht, woher mir’s kommt...Das Ziel meines Verlangens ist erreicht, es hängt an vielen Fäden, und viele Fäden hingen davon, Sie wissen, wie symbolisch mein Dasein ist - - Ich will Ihnen entdecken (sagen Sie’s niemand), dass meine Reise auf den Harz war, dass ich wünschte, den Brocken zu besteigen, und nun, Liebste, bin ich heut oben gewesen...Aber das Wie, vor allem das Warum soll aufgehoben sein, wenn ich Sie wiedersehe. Wie gerne schriebe ich jetzt nicht!“ Wir wissen nicht, was Goethe dann nach der Rückkehr der Frau von Stein noch alles von seiner Selbstwiederfindung erzählt hat, und ob sie das überhaupt hat hören wollen, immerhin ist er ja grußlos abgehauen... Aber wir haben dieses Gedicht, diese „Harzreise im Winter“, die auf den ersten Blick so unzugänglich wirkt, und in der doch, wenn man die Geschichte dahinter kennt, so viel brennendes Gefühl steckt. Gegen Ende wirft sich der Dichter der mächtigen Natur in die Arme und lässt den von Menschenverwirrung so unberührten Berg zum großen Tröster werden: „Du stehst mit unerforschtem Busen / Geheimnisvoll offenbar / Über der erstaunten Welt / Und schaust aus Wolken / Auf ihre Reiche und Herrlichkeit, / Die du aus den Adern deiner Brüder / Neben dir wässerst.“ Brahms hat den Text in seiner Alt-Rhapsodie nur bruchstückhaft vertont, es musste erst Wolfgang Rihm kommen, um das schöne große Ganze zu Musik werden zu lassen – eine Art Riesenlied hat er geschrieben für den vielleicht einzigen, der sowas heute verstehend singen kann, für Christian Gerhaher. Der hat Rihms „Harzreise im Winter“ letzten Juni in Würzburg zusammen mit Gerold Huber am Klavier uraufgeführt, danach noch mal in Salzburg gesungen, und diesen Mitschnitt gibt’s jetzt hier zum ersten mal in SWR2 zu hören, vollständig, dreizehneinhalb Minuten, Goethes Reise auf den Brocken und ins Ich... 4’00 EBU-Mitschnitt 13’30 Wolfgang Rihm, Harzreise im Winter Christian Gerhaher, Gerold Huber (Live-Mitschnitt BR von den Salzburger Festspielen)
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