84. Hauptversammlung Abstracs der Vorträge - PDF

GOETHE-GESELLSCHAFT
und die europäische Romantik
84.
ABSTRACTS
HAUPTVERSAMMLUNG
Weimar , 2 7 . bis 3 0 . Mai 2 015
• SYMPOSIUM JUNGER GOETHEFORSCHER
• FESTVORTRAG | PROF. DR. NORBERT MILLER (BERLIN)
• PODIUM »ROMANTIK GESTERN UND HEUTE«
• KONFERENZ »GOETHE UND DIE EUROPÄISCHE ROMANTIK«
»Es ist Zeit, daß der leidenschaftliche
Zwiespalt zwischen Classikern
und Romantikern sich endlich
versöhne. Daß wir uns bilden ist
die Hauptforderung […].«
(GOETHE AN CARL JACOB LUDWIG IKEN, 27.9.1827)
A B ST R AC TS Z U R 84. H AU PT V E RSA M M LU N G
DER GOETHE-GESELLSCHAFT IN WEIMAR, 27.-30. MAI 2015
»Goethe und die europäische Romantik«
HERAUSGEBER
Goethe-Gesellschaft in Weimar e.V. | Burgplatz 4 | D-99423 Weimar
REDAKTION
Dr. Petra Oberhauser
www.goethe-gesellschaft.de
DRUCK, LAYOUT & SATZ GESPONSERT VON
Bernstein-Verlag, Gebrüder Remmel
Bernstein-Verlagsbuchhandlung, Gebrüder Remmel [R²]
Holzgasse 45 | D-53721 Siegburg
WWW.BERNSTEIN-VERLAG.DE | WWW.BVB-REMMEL.DE
84. HAUPTVERSAMMLUNG
DER GOETHE-GESELLSCHAFT
27. BIS 30. MAI 2015
ABSTRACTS DER VORTRÄGE
INTERNATIONALES SYMPOSIUM JUNGER GOETHEFORSCHER
ANNA CHRISTINA SCHÜTZ (LÜNEBURG)
»Schaffen Sie Gegenbilder zu diesen Kupfern!«
Die Skepsis des Dichters angesichts der Macht des Bildes
Die Ausgaben von Goethes Werken wurden häufig mit bildlichen Darstellungen versehen. Dabei
fällt Goethes Urteil über diese Art von Bildern durchaus ambivalent aus. So lobt er noch in Dichtung
und Wahrheit die Titelvignette Daniel Chodowieckis zu Friedrich Nicolais Die Freuden des jungen
Werthers; in einem Schreiben an Johann Friedrich Cotta stellt er jedoch fest, dass es sehr schwer sei,
»daß etwas geleistet werde, was dem Sinne und dem Tone nach zu einem Gedicht paßt. Kupfer und
Poesie parodieren sich gewöhnlich wechselweise«. Der Vortrag möchte diese Aussage zum Anlass
nehmen, der Auffassung Goethes von Text-Bild-Verhältnissen nachzugehen, um daraus Rückschlüsse auf die spezifischen Wirkungen von Bildern und Texten, die gemeinsam im Medium Buch erscheinen, zu ziehen. Dafür sind nicht nur die in Briefen an Verleger und Freunde getroffenen Aussagen
Goethes über Bilder zu literarischen Werken zu untersuchen, sondern auch das 1800 im Auftrag Cottas geschriebene Prosastück Die guten Frauen als Gegenbilder zu den bösen Weibern. Angenommen
wird, dass es dem Dichter Goethe bedenklich erscheint, wenn sich ein Bild, das im Rezeptionsakt
simultan zu erfassen ist, vor den sukzessiv wahrnehmbaren Text schiebt. Denn Bilder können, um
mit den Worten Henriettes aus den Guten Frauen zu sprechen, einen »unauslöschlichen Eindruck«
machen, der die Wirkung des literarischen Textes entscheidend mitbestimmt.
ANTHONY MAHLER (TÜBINGEN)
Goethes Mäßigung der Form
Im August 1779, vier Jahre nach seiner Ankunft in Weimar, inszeniert Goethe in seinem Tagebuch
die Urszene seiner mittleren Schaffensperiode. Das ästhetische Programm, das nach seinem Tod
als die Weimarer Klassik bekannt wird, beschreibt er als Teil einer neuen Lebensform, die sich vom
subjektiven und mit Leidenschaften überschwemmten Sturm und Drang abwendet. Er steht nun da
»wie einer der sich aus dem Wasser rettet und den die Sonne anfängt wohlthätig abzutrocknen«.
Seine jugendliche Lebensweise, einschließlich ihrer Dichtungsart, versteht er als lebensgefährlich
und ertrunken »in zeitverderbender Empfindung und Schatten Leidenschafft«. »Da die Hälfte nun
des Lebens vorüber ist«, möchte er sich einer Selbstdisziplin unterwerfen, die seinem täglichen Leben, seinen dichterischen Arbeiten und seinem inneren Gefühlshaushalt »festumrissene« Grenzen
setzt. Diese Selbstdisziplin ist eine diätetische Lebensweise und Poetik nach Goethes Auffassung des
stoischen Entsagungskonzepts. Der Vortrag hat das Ziel, den zeitlichen Umfang dieser Lebensweise
und Ästhetik Goethes zu umreißen, um sie dann als tragendes Formprinzip seiner literarischen Entwürfe zu beschreiben.
SEBASTIAN MEIXNER (TÜBINGEN), CAROLIN ROCKS (MÜNCHEN)
Über Dichtung: Episches im Drama und Dramatisches im Erzähltext.
Zur Gattungsfrage bei Goethe und Schiller
In ihrer Programmschrift Über epische und dramatische Dichtung verhandeln Goethe und Schiller
die Leistungsprofile erzählender und dramatischer Texte. Dabei verabschieden sie sich – so unsere
These – rasch von dem Vorhaben einer Differenzierung der Gattungen und verhandeln grundsätzlicher ›über Dichtung‹. Dabei zeigen wir, wie Goethe und Schiller das Modell einer wesensmäßigen
Interdependenz von Drama und Erzähltext konturieren. Unter dem Regiment des übergeordneten
Dichtungskonzepts, das »die eigentliche Aufgabe der Kunst« in einer Harmonisierung gegensätzlicher Größen sieht, versammeln sich beide Gattungen. Zudem legen wir dar, wie Goethes und Schillers literarische Texte jene Phänomene einer »Vermischung und Grenzverwirrung« der Gattungen
als eher agonales denn kooperatives Miteinander gestalten. Wir wollen anhand ausgewählter Texte
eine poetologische Bedeutungsdimension herausstellen, die ein weitaus konfliktreicheres Aufeinandertreffen erzählender und dramatischer Verfahren ins Bild setzt als die Programmschrift und ihre
Paratexte. Reden Goethe und Schiller dort einem Dichtungsmodell von Vermittlung, Kooperation
oder gar Vereinigung im Sinne gesteigerter ästhetischer und ethischer Produktivität das Wort, lassen
sich die an die jeweilige Gattungsgrenze führenden literarischen Textpassagen als ästhetisch-poetologische Bruchstellen lesen. Wo das Drama an seinen Höhepunkten zu erzählen beginnt, wo sich vice
versa der Erzähler im Roman sprachlos zurückzieht und die Begebenheiten scheinbar unmittelbar in
Handlung setzt, verdichtet sich ein kritisches Reflexionspotential ›über Dichtung‹.
DR. MARTIN SCHNEIDER (HAMBURG)
Goethes »Novelle« als eine Kulturtheorie des Ereignisses
Goethes These, seine Novelle erzähle »eine sich ereignete unerhörte Begebenheit«, bietet einen adäquaten Zugang zur Interpretation dieses Textes. In ihm verhandelt Goethe auf exemplarische Weise das Wechselspiel von kultureller Ordnung und Ereignissen, die diese Ordnung begründen, aber
auch destabilisieren können. Die damit verbundenen Probleme narrativer Ereignis-Darstellungen
werden, wie die Analyse der Novelle zeigt, von der strukturalistischen Definition des Ereignisses als
einer zeitlich begrenzten Zustandsveränderung nur ungenügend erfasst. Deshalb wird vorgeschlagen, Goethes Text als eine mimetische Inszenierung von ›Widerfahrnissen‹ zu begreifen, denen eine
chiastische Zeitverschränkung des ›Noch-Nicht‹ und ›Nicht-Mehr‹ zu eigen ist. Das Erzählen hält
damit jenen Zwischenraum offen und erfahrbar, aus dem heraus sich kulturelle Distinktionen und
Bedeutungen bilden können.
WOLFGANG HOTTNER (BERLIN)
»Auf eine geheimnisvolle Weise zusammengesetzt«. Zu Goethes Kristallen
Goethes Beschäftigung mit Granit, dessen kristallinen Bildungsgesetzen und Erosionen, fällt in die Zeit
der Fragmente, der Abbrüche und Zerstreuungen – sie ist eine unter vielen »Episoden einer Epoche«,
wie Goethe nachträglich schreibt. Der Vortrag möchte anhand der Reflexionen über den Granit sowie den Plänen zu einem »Roman über das Weltall« einige Formprobleme der Goethe’schen Poetik
aufzeigen. Es geht dabei weniger um eine wissenschaftshistorische Rekonstruktion von Goethes Thesen, sondern vielmehr um die Form der Aneignung, der metonymischen Zerstreuung und Umschrift
geologischer Fragestellungen innerhalb des Prosawerks. Es geht um formale und poetische Probleme,
die für diese Prosa und besonders für die Form des Romans bedeutsam sind: das Problem der Vorgeschichtlichkeit, des Anfangs und »wie es aufeinander gekommen ist«, des Retardierenden, der Erzählperspektive, schließlich der Form des Romans selbst, als jenes »größeren und zusammenhängenden
Ganzen« literarischer Formen. Zugleich figuriert sich im ›Granitischen‹ ein Geschichts- und Geschichtenmodell, das für die innere Dynamik des Goethe’schen Werks, seiner ständigen Rückbezüglichkeit,
der Stellenlese, für Goethes Umgang mit dem Gewordenen und noch Wirkenden entscheidend ist. Das
Nachdenken über Vorgeschichtlichkeiten der 1790er Jahre wird somit selbst zur naturwissenschaftlichen und poetologischen Vorgeschichte, von der jener Roman erzählt, der die Probleme der Form
dieser Gattung zum letzten Mal zu lösen versucht: die Wanderjahre.
OLIVER GRILL (MÜNCHEN)
»Wenn so viele Wesen durch einander arbeiten«. Schwere Kräfte in Goethes Meteorologie
Der Vortrag geht von der Beobachtung aus, dass Goethe das Wetter und seine Erforschung mit der
Gefahr verbindet, im flüchtigen Medium der Atmosphäre den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Immer wieder droht in den meteorologischen Schriften der »Zusammenhalt mit der Erde verloren«
zu gehen. Diese Bedrohung wird verknüpft mit einem Verlust stabiler Formen und (kausaler) Gründe. Dadurch geht eine profunde Verunsicherung vom Wetter aus, die Goethe einerseits zu beherrschen sucht, andererseits aber markiert, reflektiert und so allererst hervortreibt.
Dieses meteorologische Tremendum gibt Anlass, die vielbelächelte Theorie einer pulsierenden
Schwerkraft neu zu lesen. Es gilt zu zeigen, dass Goethe mit seiner tellurischen These einen sicheren Grund bzw. ein Mittel zur ›Erdung‹ der Wetterforschung bereitzustellen sucht. Insofern aber
diese These ihrerseits als willkürliche Setzung ausgestellt wird, vermögen die ›schweren Kräfte‹ in
Goethes Meteorologie den Gravitationsverlust nur bedingt zu bannen. Das beunruhigende Potential
des Wetters überträgt sich vielmehr auch auf den vermeintlichen Stabilitätsgaranten und erzeugt so
bestenfalls einen schwankenden Grund.
ADRIAN ROBANUS (KÖLN)
»Vernunftähnliches« oder »unendliche Kluft«? Die anthropologische und poetische Funktion
von Goethes Tieren in »Satyros«, »Die Wahlverwandtschaften« und »Metamorphose der Tiere«
In Dichtung und Wahrheit bemerkt Goethe, wie irritierend die Verunsicherung ist, die sich aus der Infragestellung der Mensch-Tier-Grenze ergibt: »Wenn sich in Tieren etwas Vernunftähnliches hervortut,
so können wir uns von unserer Verwunderung nicht erholen: denn ob sie uns gleich so nahe stehen,
so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns getrennt und in das Reich der Notwendigkeit
verwiesen«. Hat sich Goethe einerseits, als Zoologe und vergleichender Anatom, lebenslang mit der
Körperlichkeit der Tiere und damit der nahen Verwandtschaft von Mensch und Tier beschäftigt, so
ist er andererseits Vertreter einer strikten anthropologischen Differenz (»unendliche Kluft«). Wie die
Ambivalenz von Tiernähe und Tierferne des Menschen und die damit verbundene Verunsicherung
bei Goethe auf verschiedene Weise literarisch umgesetzt wird, werde ich anhand des frühen Dramas
Satyros oder der vergötterte Waldteufel, der Thematisierung der Affen in den Wahlverwandtschaften
und des umfassenden Ordnungsentwurfs in der Metamorphose der Tiere erörtern. Mit der Lektüre
dieser Werke im Kontext zeitgenössischer zoologischer, anthropologischer und politischer Tierkonzeptionen werde ich in meinem Vortrag insbesondere die grundsätzliche Literarizität, die Gemachtheit der
Mensch-Tier-Grenze untersuchen, die sich als prekäres, stabilisierungsbedürftiges Konstrukt beschreiben lässt. Damit leistet die Analyse einen Beitrag zur Erforschung von Goethes zoologischer Ästhetik.
PHILIPP RESTETZKI (MAINZ)
»Streben« und »Liebe« als spinozistische Motive in den »Faust«-Szenen
»Prolog im Himmel« und »Bergschluchten«
»Es irrt der Mensch so lang er strebt«. Erst mit diesem Vers kann das Schicksal Fausts seinen Lauf
nehmen, wird damit doch Mephisto die Erlaubnis erteilt, Faust zu versuchen. Aber nicht nur in diesem Sinne spricht der Herr im Prolog im Himmel diese Worte aus; ihr Echo mündet in den Bergschluchten in jene Versen, die die Rettung der Seele Fausts begründen: »Wer immer strebend sich
bemüht / Den können wir erlösen«. Im Verweis auf den Prolog verbinden die Engel in derselben
Strophe den Begriff des Strebens nun direkt mit der Liebe, die in Relation zum Göttlichen gedacht
wird und sinnstiftend für die letzte Szene, mithin für die Auflösung der Tragödie ist.
Goethes intensive Beschäftigung mit dem lange als Atheisten geschmähten Philosophen Baruch
de Spinoza ist kein Geheimnis und gut dokumentiert – von seiner frühen Begeisterung um 1774 bis
zu seiner Rolle im Pantheismusstreit und darüber hinaus. Und wie Goethes Faust beginnt auch Spinozas Ethica in ihrem Bezug auf den Menschen mit dem Streben (conatus) und endet in der letzten
Erkenntnisstufe mit der Liebe (amor dei intellectualis).
Der Vortrag soll verdeutlichen, dass das in beiden Werken miteinander verbundene Begriffspaar
›Streben‹ und ›Liebe‹ in den zwei Faust-Szenen in seiner spinozistischen Bedeutung von Goethe
nutzbar gemacht und uns so eine neue Beurteilung der Erlösung Fausts ermöglicht wird.
FESTVORTRAG
PROF. DR. NORBERT MILLER (BERLIN)
Euphorions Flug. Über Goethe und Lord Byron
An der deutschen Spätromantik vorbei, der Goethe nach 1814 mit Skepsis begegnete, sah er in
Childe Harold’s Pilgrimage, dieser glänzenden, Europa hinreißenden Bekenntnisdichtung eines romantischen Außenseiters, das Pendant zu seinem eigenen, mit dem Werther so früh errungenen
Weltruhm. Mit kritischer Bewunderung folgte er Lord Byrons dichterischer Entwicklung und seinem
exzentrischen Lebenslauf. Für Byron blieb Goethe zeitlebens identisch mit der Figur seines Werther,
die er als wahlverwandt empfand. Daneben bewunderte er von Ferne Goethes Faust-Dichtung und
strebte ihr in Dramen wie Manfred, Cain und Sardanapalus nach. Dieses Stück und sein letztes, Werner, sind Goethe in Freundschaft zugeeignet. Dass der aus England verbannte Lord an dem Freiheitskampf der Hellenen sich beteiligte und in dem bedrohten Missolunghi starb, wurde für Goethe zum
Anlass, ihn als den kühnen, keiner Regel sich beugenden Euphorion in den Faust II einzuführen, Sohn
der griechischen Helena und des deutschen Magiers. Sein Tod war Goethe wie eine Vorwegnahme
des eigenen Todes.
PODIUM
»ROMANTIK GESTERN UND HEUTE«
PROF. DR. ANNE BOHNENKAMP (FRANKFURT A. M.)
Den »leidenschaftlichen Zwiespalt« endlich versöhnen?
Zum Projekt eines Deutschen Romantik-Museums in Frankfurt am Main
Seit über 100 Jahren sammelt das Freie Deutsche Hochstift Handschriften aus der Epoche der deutschen Romantik; erste Pläne zu einem Romantikmuseum in Frankfurt am Main entwickelte bereits
Ernst Beutler. Nach der Zerstörung des von Beutler dafür vorgesehenen Stammhauses der Familie
Brentano in Frankfurt wandte sich das Hochstift nach dem Krieg verstärkt der Grundlagenforschung
zur Romantik zu und setzte die Sammlungstätigkeit fort. Mit dem Freiwerden des südlich an das
Elternhaus Goethes angrenzenden Grundstücks am Großen Hirschgraben bietet sich gegenwärtig
die historische Chance, das Frankfurter Goethe-Museum in unmittelbarer Nachbarschaft zum Goethe-Haus um einen Ausstellungsort zu erweitern, der sich der weitgefächerten Bewegung der Romantik und ihrem spannungsreichen Verhältnis zu Goethe widmen soll. Mit der 1827 publizierten
Helena – dem späteren 3. Akt des Faust II – verband dieser ausdrücklich das Anliegen, dass »der
leidenschaftliche Zwiespalt zwischen Classikern und Romantikern sich endlich versöhne« (an Carl Jacob Ludwig Iken, 27.9.1827). Das Referat informiert über den Stand des Neubauprojekts am Großen
Hirschgraben und gibt erste Einblicke in das Konzept der geplanten Museumserweiterung.
PROF. DR. JOHANNES GRAVE (BIELEFELD)
Klassisch-romantische Bildkritik:
Gemeinsamkeiten zwischen Goethe und den romantischen Malern
Ungeachtet der vielen persönlichen Kontakte, die Goethe zu Künstlern der Romantik wie Philipp Otto
Runge, Caspar David Friedrich oder Peter Cornelius pflegte, gilt der Weimarer Dichter als entschiedener Kritiker der romantischen Kunst. Spätestens mit der fundamentalen Kritik der »neudeutsch
religios-patriotischen Kunst«, die er und Johann Heinrich Meyer im Jahr 1817 formulierten, etablierte Goethe selbst diese Sicht auf sein Verhältnis zur Romantik. Die Differenzen im Kunstverständnis
haben jedoch davon abgelenkt, dass Goethe und die Künstler der Romantik in ihrem Denken über
Bilder bemerkenswerte Übereinstimmungen zeigen. Beide Positionen reagieren auf grundlegende
Herausforderungen der Bildpraxis um 1800, indem sie darauf beharren, die Differenz zwischen Bild
und Wirklichkeit nicht zugunsten einer Ästhetik der Illusion oder Immersion vergessen zu machen.
Gemeinsam ist den Romantikern und Goethe daher ein Interesse daran, über die Voraussetzungen,
Potenziale und Grenzen des Bildes nachzudenken; und gerade mit diesem Interesse können sie aktuellen bildtheoretischen Debatten wichtige Anregungen vermitteln.
PROF. DR. DR. H. C. MULT. PETER GÜLKE (WEIMAR)
Goethes romantisch-musikalisches Wunschdenken –
vom Nebeneinander pragmatischer und utopischer Vorstellungen
Goethe mit Romantik, Wunschdenken und Utopie in Verbindung zu bringen, grenzt an Provokation.
Eben dies jedoch kennzeichnet eine Spannweite seines Interesses an Musik, die törichte Simplifizierungen veranlasst hat – er sei nicht besonders musikalisch, sei dem konservativen Carl Friedrich
Zelter hörig gewesen, habe Franz Schubert abblitzen lassen etc. Nicht nur hat er, undenkbar ohne
den Hintergrund tiefer Erlebnisse, wunderbare Dinge über Johann Sebastian Bach gesagt, hat am
Frauenplan teilweise regelmäßig musizieren lassen und im schönsten Musikgedicht unserer Sprache
den »Götterwert der Töne wie der Tränen« besungen.
Einerseits war ihm der Gebrauchswert wichtig – Melodie als Transportmittel poetischer Texte –,
andererseits hat ihn über Jahrzehnte hin das Projekt einer Tonlehre beschäftigt, mit dem er, auf
Parallelitäten zur Farbenlehre fixiert und manchen Dissens riskierend, nicht zurecht gekommen ist.
Seine theoretische Wertschätzung der Musik liegt nahe bei der der Jüngeren, deren Prämissen er
sonst nicht mochte, und selbst eine scheinbar einseitig auf Gebräuchlichkeit abgestellte Konzeption
wie die des Strophenliedes enthält ein utopisches Moment – die Idealvorstellung einer Melodie, die
genau und ausschließlich den Eigenton des jeweiligen, zugleich vielstrophigen Gedichts träfe.
PROF. DR. ULRIKE LANDFESTER (ST. GALLEN)
Eiertänze. Brentanos Antworten auf Goethes Romantik
Der Eiertanz, den Goethe die Figur der Mignon in seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre mit
verbundenen Augen aufführen lässt, ist wohl eine der berühmtesten poetologischen Passagen in
seinem Werk und zugleich eine ironische Antwort auf die intuitionsgeleitete Poetik der eben beginnenden Frühromantik. Viele Schriftsteller der Romantik nahmen die Figur selbst auf, die mit ihrem
androgynen Erscheinungsbild und ihrer musikalischen Begabung damit zum Prototyp des naturpoetischen Kindes schlechthin wurde; Clemens Brentano aber war der Einzige von ihnen, der das Motiv
des Eiertanzes aufnahm. Schon in der frühen, wohl 1816 entstandenen Fassung seines Märchens Gockel, Hinkel und Gackeleia gibt er mit dem hier höfisch-repräsentationsgeleitet inszenierten Eiertanz
der Entourage von König Eifraßius damit seinerseits eine ironische Antwort auf Goethes Verständnis
der Romantik. In der 1838 erschienenen Spätfassung schließlich faltet er das Motiv noch einmal neu
und weiter aus, um daran Antworten auf Goethes Auseinandersetzung mit der Romantik zu geben,
darunter auch auf die Beziehung Goethes mit Marianne von Willemer, während er gleichzeitig das
Modell der Lehrjahre in seinen religiösen Schriften, insbesondere seiner Rekonstruktion des Lebens
Jesu aus den Visionen der stigmatisierten Nonne Anna Katharina Emmerick, weiterverarbeitet. Brentanos Spätwerk lässt sich mithin als eine ganze Sequenz von Eiertänzen um, mit und gegen Goethe
lesen, in denen Brentano auch und gerade seinen eigenen Romantikbegriff entwickelt.
WISSENSCHAFTLICHE KONFERENZ
»GOETHE UND DIE EUROPÄISCHE ROMANTIK«
ARBEITS GRUPPE A
PROF. DR. JUTTA MÜLLER-TAMM (BERLIN)
»… das Produktive mit dem Historischen zu verbinden«.
Wissenschaftsgeschichte bei Goethe und um 1800
Die Geschichte der Wissenschaften, schreibt Goethe in der Farbenlehre, ist »mit der Geschichte der
Philosophie innigst verbunden, aber ebenso auch mit der Geschichte des Lebens und des Charakters
der Individuen sowie der Völker«. Die Historisierung des Denkens, so belegen derartige Äußerungen,
erfasst um und nach 1800 auch die Wissenschaften als Gegenstandsbereich. Bei Goethe schlägt sich
dieses gesteigerte Interesse an biographischen und epochalen Bedingtheiten des Wissenschaftsprozesses im umfangreichen Historischen Teil der Farbenlehre mit seinen Charakterskizzen verschiedener Forscherpersönlichkeiten, seiner »aphoristischen« Erzählung von den Schicksalen des Farbenwissens und seinen geschichtstheoretischen Überlegungen nieder. Mit Blick auf Konzepte wie
Autorität, Überlieferung, Zufall und Irrtum, auf Geschichtsmodelle und -metaphern, auf Fragen der
Epochenbildung und der historiographischen Darstellung sowie auf die Rolle von Psychologie, Autobiographie und typologischen Verfahren soll Goethes Auffassung von Geschichte und Geschichtsschreibung der Wissenschaften ins Verhältnis zur romantischen Wissenschaftstheorie eines Johann
Wilhelm Ritter und Carl Gustav Carus gesetzt werden.
ARBEITS GRUPPE B
PROF. DR. THORSTEN VALK (WEIMAR)
Goethe und die romantische Oper in Frankreich
Im 19. Jahrhundert greifen die Repräsentanten des französischen Musiktheaters mit bemerkenswerter Häufigkeit auf Goethes Romane und Dramen zurück. Gounods Faust und Massenets Werther,
die auch heute noch auf vielen Bühnen präsent sind, dürfen in diesem Zusammenhang als die beiden bedeutendsten Opern angesehen werden. Zwar adaptieren sie Goethes Dichtungen auf sehr
unterschiedliche Weise, doch lassen sie in einer spezifischen Hinsicht auch markante Gemeinsamkeiten erkennen: Die Libretti, die Gounods und Massenets Opern zugrunde liegen, ›romantisieren‹
Goethes Dichtungen, indem sie diese aus ihren kulturgeschichtlichen Verankerungen im späten 18.
Jahrhundert herauslösen und durch teils rigorose Akzentverschiebungen für jene Fragestellungen
öffnen, die ein französisches Publikum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich bewegen. Dieser zunächst auf der Ebene der Libretti sich vollziehende Prozess einer entschiedenen Romantisierung Goethe’scher Dichtungen findet im romantischen Klangidiom der beiden Opern seine
konsequente Entsprechung.
ARBEITS GRUPPE C
DR. JOHANNES RÖSSLER (BERN)
Goethe und Meyer in der Sammlung Boisserée.
Überlegungen zu der antiromantischen Rezeption altniederländischer Malerei
Der Vortrag versucht, Goethes und Johann Heinrich Meyers Beschäftigung mit der Sammlung Boisserée erneut in den romantischen Rezeptionskontext zu stellen. Erstens formuliert Goethe in dem
Aufsatz Ueber Kunst und Alterthum in den Rhein- und Maingegenden weniger eine klassizistische
Antithese zur romantischen Sichtweise Friedrich Schlegels, sondern geht mehr vom visuellen Eindruck aus, was den Schlegel-Boisserée‘schen Historisierungsentwurf besonders stützt. Goethes und
Meyers spezifische Rezeption der Werke der Sammlung ist in einem zweiten Schritt zu untersuchen:
Unter Einbeziehung ungedruckter Dokumente wird Meyers in der Sammlung gemachte ›primäre
Aufzeichnung‹ mit der zweiten, an Maria Pawlowna übermittelten Fassung der Sammlungsbeschreibung verglichen. Anhand der Auseinandersetzung mit den Lieferungen des von Johann Nepomuk
Strixner geleiteten lithographischen Mappenwerks zu der Sammlung sind drittens die dazugehörigen Rezensionen in der Zeitschrift Ueber Kunst und Alterthum in den Blick zu nehmen: Die Lithographie, die durch ihr breites Darstellungsspektrum nach 1800 zum romantisch konnotierten
Universalmedium aufsteigt, wird in der spezifischen Umsetzung von Strixner zum geeigneten Reproduktionsmedium für die formalen Besonderheiten der nordalpinen Malerei. In den Rezensionen der
›Weimarischen Kunstfreunde‹ werden die Werke der Sammlung Boisserée zum Teil eines dezidiert
anti-romantischen Kunstprogramms erhoben, indem ihre Besprechungen der kunstpolitischen Steuerung dienen.
ARBEITS GRUPPE D
PROF. DR. BARBARA NAUMANN (ZÜRICH)
Romantische Momente. Ungewöhnliche Perspektiven in Goethes »Wahlverwandtschaften«
In mancherlei Hinsicht scheint der Roman Die Wahlverwandtschaften die bekannten anti-romantischen Äußerungen seines Verfassers zu unterlaufen. Goethes Vorbehalte und Aversionen gegen das
Romantisieren tragen häufig ideologischen Charakter; oftmals sind sie nicht nur gegen Schreibweisen und poetologische Konzepte, sondern gegen bestimmte Autoren gerichtet. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch: Die Wahlverwandtschaften sind mit einer ganzen Reihe von Konzepten
befasst, die ihrerseits eine Verwandtschaft mit romantischen Vorstellungen aufweisen. Besonders
sei hier die Auseinandersetzung mit dem Komplex Stillstellung, Mortifikation und Todesverfallenheit
genannt, die den Roman über weite Strecken charakterisieren. Nicht zuletzt lässt sich dieser Komplex an der strategischen Verwendung von Bildern (Tableaus wie Gemälden) im Roman beobachten.
Sie fungieren als quasi-romantische Modi der Romanpoetik. Goethes Gebrauch von Bildern im Roman steht deshalb im Zentrum des Vortrags.
A RBEITS GRUPPE E
PROF. DR. JANE K. BROWN (SEATTLE)
»Faust« und die historischen Romane Walter Scotts
Scotts Romane und der Faust ragen als die grundlegenden Texte des europäischen Nationalismus im
19. Jahrhundert heraus, doch werden sie selten nebeneinandergestellt. Was lernt man, wenn man
sie zusammen liest?
Der Vortrag beschreibt die Verbindungen zwischen den beiden Dichtern, dann die Spuren seiner
Kenntnisse der deutschen Literatur in Scotts Romanen und besonders von Goethes Werken. Danach
wird die Spannung zwischen Epos und Drama in Scotts Romanen und im Faust analysiert. Obwohl
Scott Götz von Berlichingen übersetzte und dadurch zur Erfindung einer neuen Art des historischen
Romans inspiriert wurde, erweist sich Goethes Aufsatz über Epos und Drama als besonders relevant
für die literarische Darstellung der Geschichte bei ihm und bei Scott, besonders in Bezug auf Fausts
Verhältnis zum historischen Roman. Immerhin ermöglicht Fausts dramatische Form einen schärferen Fokus auf die Psychologie, als Scott mit seiner historisierten und rationalistischen Psychologie
erreichen konnte. Also trieb Faust die europäische Kultur noch weiter in die Modernität voran als
Scotts Erfindung der Form des modernen Romans.
ARBEITS GRUPPE F
PROF. DR. MATHIAS MAYER (AUGSBURG)
Eine »Form von oben«: Religion, Liebe und Kunst in Goethes Sonetten
Goethes Sonette sind immer wieder als Liebesdichtung und in ihrem Kunstcharakter beschrieben
worden. Ausgehend von dem 1814 gewählten Motto »Jede Form sie kommt von oben« konfrontiert
der Vortrag Goethes Verhältnis zur Praxis und Theorie des romantischen Sonetts mit seiner eigenen
Positionierung: Sowohl das Gedicht Epoche (über dessen Datierung zu sprechen ist) wie die Behandlung Zacharias Werners in den Annalen führen zur Frage nach Goethes spezifischem Umgang mit
der Religion im Gedichtzyklus von 1807/08. Eine poetisch autonome Weltfrömmigkeit zeichnet sich
dabei als ein Weg in Goethes Spätwerk ab, der »Reflex von oben« weitet sich zur Ironie.
DANK
Für die Unterstützung der 84. Hauptversammlung danken wir sehr herzlich:
▪ DER DEUTSCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT, Bonn
▪ DER MARGA UND KURT MÖLLGAARD-STIFTUNG, Essen
▪ DER BEAUFTRAGTEN DER BUNDESREGIERUNG FÜR KULTUR UND MEDIEN, Berlin
▪ DER MARION DÖNHOFF STIFTUNG, Hamburg
▪ DER STADT WEIMAR
▪ Herrn Dr. Siegfried JASCHINSKI, Frankfurt a. M.
▪ Herrn Dr. Dirk IPPEN, München
▪ Herrn Dr. Walter SPELSBERG, Remscheid
BERNSTEIN-VERLAG
G E B R Ü D E R R E M M E L ▪ S I E G B U R G
Franz Josef Wiegelmann
MAXIMILIAN JACOBI
Mediziner, Publizist und
Menschenfreund
(1775-1858)
Cover-Abbildung:
HA Schult, Köln
ISBN 978-3-939431-02-2
29,80 €
[…] Die vorliegende Arbeit zeichnet den Lebensweg Jacobis chronologisch nach.
Interessante Familienbildnisse, Fotos, Dokumente, Zeugnisse und Zeitungsberichte illustrieren – zum Teil
in Farbe – seinen Weg. […]
Elisabeth Strahler
FAUST
Ein gezeichneter Held
Mit einem Geleitwort von
Manfred Osten
ISBN 978-3-945426-02-9
16,80 €
[…] Unzählige Intellektuelle haben
über »Faust, Mephisto und Goethe«
nachgedacht und geschrieben.
Auch viele Künstler thematisierten
Faust für ihr Schaffen.
Meine Bilder sind nicht als Beitrag
zur Goethe-Forschung gedacht,
sondern die individuelle persönliche Umsetzung der Erinnerung an
eine unvergessliche Theateraufführung. […]
W W W . B E R N S T E I N - V E R L A G . D E