SWR2 Aula

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Aula
Wie und warum die katholische Kirche
reformiert werden muss (2/2)
Von Hubert Wolf
Sendung: Sonntag, 15. Februar 2015, 8.30 Uhr
Redaktion: Ralf Caspary
Produktion: SWR 2015
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Ansage:
Mit dem Thema: "Wie und warum die katholische Kirche reformiert werden muss, Teil
2."
Der Kirchenhistoriker Professor Hubert Wolf aus Münster steigt heute noch einmal in
die Krypta der katholischen Kirche, um nach verschütteten Traditionen zu fahnden,
die fruchtbar gemacht werden können für eine aktuelle Reform der Kirche.
Und im zweiten Teil beruft sich Wolf auf die Armutstradition, auf den Heiligen Franz
von Assisi, der wiederum ein Vorbild ist für Papst Franziskus.
Hubert Wolf:
„Es ist ein Franz“, so titelte eine deutsche Tageszeitung nach der überraschenden
Wahl des Jesuiten Jorge Mario Borgoglio zum Papst im Frühjahr 2013. Papst
Franziskus hat relativ rasch eine Begründung für die Namenswahl nachgeschoben.
Ein neben ihm sitzender Kardinal im Konklave habe zu ihm gesagt: "Vergiss die
Armen nicht!" Deshalb habe er den Fürsprecher der Armen schlechthin, den Heiligen
Franz zu Assisi, zu seinem Patron gewählt. Es ist zum ersten Mal in 2.000 Jahren
Kirchengeschichte, dass ein Papst den Namen des Armen von Assisi wählt.
Nicht ohne Grund, denn mit Franz von Assisi verbindet sich ein ungeheures
Potential, das eine ganz andere Kirche, als wir sie heute haben, möglich erscheinen
lässt. Sein bisheriges Auftreten lässt Papst Franziskus glaubwürdig erscheinen:
Seine Bescheidenheit, der Verzicht, in den apostolischen Palast einzuziehen, seine
einfache Kleidung – das entspricht seiner Option für die Armen. Dieser Lebensstil ist
zugleich eine sichtbare Kritik an der Kurie und ihrem Gehabe, an dem neobarocken
Pomp, an dem frühneuzeitlichen Fürstenstaat, den wir in den vorhergehenden
Pontifikaten durchaus sehen konnten.
Franziskus verbindet die Wahl seines Namens mit einem umfassenden
Reformprogramm. Der Arme von Assisi, der als mustergültiger Nachfolger des armen
Jesus gilt, der keinen Platz hat, wohin er sein Haupt legen kann, scheint für
Franziskus, den Papst, der ideale Namensgeber zu sein, für den Vicarius Christi, so
der Amtstitel des Papstes, den Stellvertreter Jesu Christi auf Erden.
Aber dass Franziskus ein Heiliger voller Sprengkraft ist, sieht man auf den ersten
Blick nicht. Der Heilige Franz ist ein beliebter Heiliger. Er kommt uns weichgespült
entgegen, ein sympathischer Typ, vor allem im außerkirchlichen Raum.
Umweltbewegte sehen in ihm den Patron des alternativen Lebens und des
Naturschutzes. Auch Blumenkinder und Aussteiger aller Art glauben sich in der
Tradition des Kaufmannssohnes: Giovanni Bernardone hat ja doch nach einem
ausschweifenden Leben alle feiste Bürgerlichkeit hinter sich gelassen. Auch für
Tierschützer ist Franz das Idol, predigte er doch sogar den Vögeln und verwandelte
den bösen Wolf in ein frommes Lamm. Und in Taizé wurde Franz sogar zu einem
Heiligen der Ökumene.
Aber so fromm und so harmlos, wie Franziskus uns hier entgegentritt, war er nicht.
Langfristig scheint sich durch dieses weichgespülte Franziskus-Bild die Strategie des
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damaligen Papstes Gregors IX. durchgesetzt zu haben, denn dieser und seine
Nachfolger hielten Franziskus für hochgefährlich. Er hatte nämlich Ideale, die die
Grundfeste der päpstlichen Macht hätten erschüttern können, weil er letztlich eine
andere Kirche wollte.
Franziskus war ein Revolutionär, der um ein Haar eine Kirchenspaltung verursacht
hätte, wenn nicht sogar die Entstehung einer neuen Religion. Und im Grund ist die
„franziskanische Frage“, der Streit um die rechte Auslegung und zeitgemäße
Umsetzung seiner Ideale, bis heute nicht entschieden. Die Frage, vor der auch Papst
Franziskus steht, indem er diesen Heiligen wählte, ist: Erweist sich die katholische
Kirche im Sinne der franziskanischen Ideale als grundsätzlich reformierbar oder
muss sich eine neue franziskanische Kirche von der Papstkirche abspalten, weil
diese nicht reformierbar ist?
Der Streit um die sachgerechte Auslegung der Ideale des Franziskus und die Frage
nach der rechten Gestaltung der Kirche in dieser Welt hat in der Geschichte der
Kirche zwei ganz unterschiedliche Modelle hervorgebracht, die einander diametral
gegenüberstehen. Das erste Konzept setzt auf die buchstabengetreue Umsetzung
der biblischen Vorgaben im Hinblick auf eine radikal gelebte Armut der Kirche und
ihrer Amtsträger und den Verzicht auf alle weltlichen Güter. Im Neuen Testament
steht: „Selig ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes.“ Und als Jesus einem
reichen Jüngling begegnet, sagt er zu seinen Jüngern: "Amen, das sage ich euch:
"Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes
kommt."
Für diese franziskanische Lesart ist es völlig klar: nur in dieser wortwörtlichen
Nachfolge des armen Jesus besteht die wirkliche Realisierung der Kirche.
Das zweite Konzept, das diesem entgegensteht, muss schon einiges an
argumentativer Kraft aufwenden, um sich zu rechtfertigen. Man argumentiert dann in
etwa so: Die Kirche muss auf Prunk nicht verzichten, sie darf ihn haben, ja, sie
braucht ihn sogar, wenn sie nämlich Jesus Christus, den Gottessohn, verherrlichen
will. In der Eucharistie, bei der Christus mit Leib und Blut gegenwärtig wird, müssen
die Gefäße kostbar sein, aus Gold und Edelsteinen, weil es nichts Kostbareres auf
dieser Welt als das Blut Christi gibt. Und wenn diese Gegenwart Christi in der
Eucharistie gefeiert wird, dann in einem kostbaren Kirchenraum. Wir sind als
Christen zwar nicht von dieser Welt, müssten aber in dieser Welt leben. Und weil wir
in dieser Welt leben müssen, müssen wir die Güter dieser Welt gebrauchen.
Tatsächlich setzt sich dieses Konzept im Lauf der Geschichte immer stärker durch,
weil in dem Moment, wo die Kirche keine verfolgte Kirche mehr ist, in dem Moment,
wo Kaiser Konstantin 313 damit aufhört und das Christentum zur Staatsreligion wird,
etabliert sich eine immer mächtigere, immer politischere, immer reichere Kirche mit
einem ungeheuren Potential an weltlichen Gütern, vor allem auch deshalb, weil beim
Untergang des weströmischen Reiches in den Zuckungen der Völkerwanderung die
einzige Institution, die weiter funktioniert, die katholische Kirche ist, der nach und
nach ungeheure Güter zuwachsen.
Gegen diese Verrechtlichung, gegen diesen Pomp, gegen diese Machtkirche hat es
aber immer wieder auch Oppositionsbewegungen in der Geschichte der Kirche
gegeben. Die größte und wichtigste ist die sogenannte Armutsbewegung des 11. und
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12. Jahrhunderts. An dieser Stelle kann man ganz genau sehen, dass
Armutsbewegte von der Kirche selber entweder zu Heiligen gemacht werden oder zu
Ketzern.
Als Beispiel dienen hier die Biografien von Petrus Waldes und Franz von Assisi, die
man durchaus als Parallelbiografien beschreiben kann. Petrus Waldes hatte 1179 ein
Erweckungserlebnis. Er verschenkte seinen ganzen Besitz, wendet sich der
radikalen Nachfolge Jesu Christi zu und predigt gegen die Sekte der Katharer.
Franziskus gehörte einer etwas späteren Generation an, geboren Ende 1181, ein
jugendlicher Zecher, der Mittelpunkt der Stadtjugend, er hat das nötige Geld, weil er
ein reiches Elternhaus hat. Er lässt nichts aus. Durch ein Kriegserlebnis und eine
Krankheit kommt es zu einer Bekehrung. Er bricht mit seiner Familie und will
ausschließlich dem armen Jesus nachfolgen. Kein Geld, keine Vorratstasche, kein
zweites Hemd, keine Schuhe, keinen Wanderstab. Das sagt Jesus den Aposteln, das
soll auch für Franziskus gelten. Und es gilt in gleicher Weise für Petrus Waldes.
Zwischen diesen beiden Männern, zwischen den Zielen dieser Männer gibt es im
Grunde keinen Unterschied. Beide sind armutsbewegt, beide wollen Christus
nachfolgen, beiden geht es zuerst um das rechte Handeln, weniger um die rechte
Lehre. Beide leben radikal die Armut. Beide orientieren sich an der Heiligen Schrift,
da sie aber keine Kleriker sind, brauchen sie Übersetzungen der Schrift in ihre
Muttersprache.
Aus dieser Grundposition ergibt sich für beide die Kritik an der reichen Kirche: Prunk,
Paläste, Kirchen, feierliche Liturgie, Machtentfaltung des Papsttums und
Verrechtlichung der Kirche. Das Ziel ist eine Rückkehr zur einfachen Urgemeinde
und eine radikale Reform, eine Rückformung, nach biblischem Vor- und Urbild. Dass
darin eine gewaltige Gefahr für die kirchliche Hierarchie steht, ist völlig klar. Deshalb
legt das Kirchenrecht fest: Predigen, also verkündigen, dürfen nur geweihte Kleriker.
An dieses Verbot können sich aber weder Franziskus noch Petrus Waldes und seine
Anhänger halten. Wer von Christus betroffen ist, der muss anderen davon erzählen.
Am Umgang mit dem Verbot der Laienpredigt entscheidet sich das Schicksal aller
Armutsbewegten. Petrus Waldes kommt nach Rom und legt ein Glaubensbekenntnis
ab, ohne Wenn und Aber. Er ist aber nicht bereit zu akzeptieren, dass er von seinen
Erfahrungen mit Christus, dem armen Christus, nicht reden darf, nicht verkünden
darf. Und deshalb wird er 1184 von Lucius III. exkommuniziert. Waldes sagt: "Ich
muss aber doch Gott mehr gehorchen als den Menschen, denn im Evangelium steht
doch: Geht hinaus in alle Welt und verkündet allen Menschen das Evangelium und
tauft sie." Die Kirche selber hat also einen rechtgläubigen Mann armutsbewegter
Herkunft zu einem Ketzer gemacht.
Genau dasselbe Schicksal droht Franz von Assisi. Nur Franz von Assisi findet in
einem mächtigen Kardinal, Ugolino von Ostia, einen Fürsprecher, der nämlich kapiert
hat: Wenn wir so weitermachen mit unserer Politik, dann werden wir ausschließlich
Ketzer produzieren, weil diese armutsbewegten Menschen im 11., 12. Jahrhundert
nicht mehr eingefangen werden können. Deshalb macht Ugolino von Ostia eigentlich
etwas relativ Kluges. Er sagt, okay, Franziskus soll meinetwegen predigen, aber er
muss irgendwie eine kirchliche Organisation annehmen. Am besten wäre, er gründet
einen Orden. Das will Franz aber nicht. Er will eine Gemeinschaft niederer Brüder
haben. Es kommt zu einem Kompromiss: Alle Anhänger des Franz müssen die
Tonsur übernehmen, also eine niedere Weihe. Damit gehören sie irgendwie, wenn
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auch nicht so richtig, aber doch schon zum Klerus. Und er muss so etwas formulieren
wie eine Regel. 1209 formuliert Franziskus eine Ur-Regel, die lediglich aus
Bibelversen zum Thema Buße, Armut und Nachfolge Christi bestand. Papst Innozenz
III. ist damit einverstanden. Er bestätigt diese Regel der „Pauperes Minores“, der
„kleinen Armen“. Und er gibt ihnen auch die Erlaubnis zur Wanderpredigt. Franziskus
ist um ein Haar dem Schicksal des Petrus Waldes entgangen.
Aber das ist erst der Anfang. Die Juristen in Rom haben klug vorausgedacht. Diese
Ur-Regel, diese Bibelverse funktionieren für eine kleine Gruppe von 10 oder zwanzig
Leuten. Aber was passiert, wenn aus dieser kleinen Gruppe eine Bewegung mit
Tausenden wird? Dann braucht man doch eine Organisation, erste Strukturen. Aus
dieser familiären Gemeinschaft des charismatischen Heiligen wird eine
Massenorganisation.
Franziskus gerät in einen für ihn kaum auflösbaren Konflikt. Er will sich nicht weiter
verrechtlichen und verkirchlichen lassen, er will keine Ordnungen, er will keine
Privilegien. Er kann sich aber nicht so richtig gegen den zunehmenden Druck der
römischen Kurie und dem Druck seiner immer größer werdenden Gemeinschaft zur
Wehr setzen. Er ist zu Kompromissen gezwungen und zieht sich schließlich von der
Leitung seiner Gemeinschaft zurück.
Es kommt 1221 zu einer "Regula non bullata", also noch einmal eine Regel, die der
Papst nicht akzeptiert, weil Franziskus doch wieder im Sinne der Ur-Regel von 1210
Bibelzitate aneinanderreiht. Schließlich aber setzt sich der Papst durch und es
kommt 1223 zur Verkündigung einer "Regula bullata", die ganz deutlich nicht mehr
die Handschrift des Heiligen Franziskus trägt, sondern die Handschrift von Juristen.
Es ist jetzt ein Orden mit klaren Strukturen. Es wird zwar weiterhin von Armut und
einfacher Lebensweise gesprochen, aber es gibt jetzt gemeinsames Gebet,
Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber dem Papst. Man kann sagen, der freie
Schwung eines kühnen Idealismus, der auf grenzenloses Vertrauen auf Gottes Güte
setzt, ist kanalisiert worden in eine kirchenrechtlich feste Struktur.
Franziskus ist mit dieser Entwicklung nicht einverstanden. Als er sich zurückzieht,
bekommt er ja die Wundmale und schreibt 1226 ein Testament. Es lohnt sich, in
diesen Text, der sich gegen Verkirchlichung und gegen Klerikalisierung wendet,
hineinzuschauen. Franziskus schreibt:
„So hat der Herr mir, dem Bruder Franziskus, gegeben, das Leben der Buße zu
beginnen. … Und nachdem mir der Herr Brüder gegeben hatte, zeigte mir niemand,
was ich zu tun hätte, sondern der Höchste selbst offenbarte mir, dass ich nach der
Vorschrift des heiligen Evangeliums leben sollte. Und ich habe es mit wenigen
Worten und in Einfalt schreiben lassen, und der Herr Papst hat es mir bestätigt. Und
jene, die kamen, dies Leben anzunehmen, gaben alles, was sie haben mochten‘
(Tob 1,3), den Armen. Und sie waren zufrieden mit einem Habit, innen und außen
geflickt, samt Gürtelstrick und Hosen. Und mehr wollten wir nicht haben.“
Franziskus verbot in seinem Testament seinen Brüdern noch einmal nachdrücklich,
Kirchen, Wohnungen oder irgendetwas anderes an materiellen Gütern anzunehmen:
"Ich befehle streng im Gehorsam allen Brüdern, wo immer sie auch sind, dass sie
nicht wagen sollen, irgendeinen Brief bei der römischen Kurie zu erbitten." Also ein
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ausdrückliches Verbot, irgendwelche Privilegien von Rom zu bekommen, von den
Päpsten irgendwelche Güter zugeschanzt zu bekommen.
Franziskus konnte die Entwicklung jedoch nicht aufhalten. Der Orden der
Franziskaner wurde zu einer der reichsten Institutionen in der katholischen Kirche.
Von den Armutsidealen des Franziskus blieb nicht sehr viel übrig. Aber was tut man
mit einem widerspenstigen Gründer, auch wenn er schon tot ist und wenn immer
wieder die Ideale dieses Gründers aktuell werden?
Papst Gregor IX., der frühere Kardinal Ugolino von Ostia, erklärte 1230 schlicht und
ergreifend die Verbindlichkeit des Testaments für ungültig. Gleichzeitig sprach er
Franziskus heilig, erhob ihn zu der Höhe der Altäre im Himmel und entzog ihn damit
den Auseinandersetzungen hier auf dieser Erde.
In der Armutsfrage fand der Papst einen typischen Formel-Kompromiss: Zwar sollten
sich die Franziskaner an die totale Besitzlosigkeit für den Orden und den einzelnen
Bruder halten, aber sie sollten das umfassende Gebrauchsrecht über alle Güter und
Stiftungen haben.
Musste aus dem Aufbruch der Armutsbewegung des Heiligen Franziskus
automatisch -organisationssoziologisch gedacht- zwangsläufig ein Orden werden?
Oder ist dieser Orden ein Verrat an den Ideen des Heiligen Franz? Der Tübinger
Theologe und Historiker Helmut Feld hat das kirchen- und papstkritische Potenzial
bei Franz von Assisi intensiv herausgearbeitet. Seiner Ansicht nach hätte aus der
von Franziskus initiierten Bewegung, "unter anderen geschichtlichen Umständen,
leicht eine neue, von dem damaligen Christentum verschiedene und über es
hinauswachsende Religion entstehen können". Franziskus hätte nicht nur "neuer
Christus", sondern ein "anderer Christus" werden können, ein Religionsstifter werden
können. Und vielleicht sind die "ursprünglichen franziskanischen Ideale" in einem
"unerhört dramatischen Ringen domestiziert, verkirchlicht und damit verfremdet und
umgebogen" worden.
Wenn man sich die Geschichte der Bewegung anschaut, die sich auf den Heiligen
Franziskus zuführt, dann merkt man dieser Bewegung in der Geschichte der Kirche,
aber auch bis heute an, dass der Streit um die rechte Auslegung der Ideen des
Heiligen Franz nicht vorbei ist. In der Geschichte der Kirche gab es ganz radikale
Franziskaner, die sogenannten Spiritualen, die jede Art von Besitz ablehnten und
intensiv als Anhänger des Heiligen Geistes auf das geistliche Prinzip gegen die
materielle Kirche setzten. Sie stützten sich dabei vor allem auf die Ideen von Joachim
von Fiore, der die Weltgeschichte in drei Phasen unterteilt: das Zeitalter des Vaters,
das mit der Schöpfung begonnen hat; das Zeitalter des Sohnes mit der Geburt Jesu
Christ; das Zeitalter des Heiligen Geistes, das im Grunde mit Franziskus
angebrochen ist. Die Kirche müsse zu einer Geistkirche werden. Die Geschichte der
franziskanischen Idee ist geprägt von heftigen Auseinandersetzungen, sie führte
aber auch noch einmal zu einem großen Armutsstreit mit der hierarchischen Kirche
am Beginn des 14. Jahrhunderts.
Die Frage war nämlich: Die Franziskaner haben den Satz aufgestellt: Weder Christus
noch die Apostel haben persönlich oder gemeinsam irgendetwas besessen, sondern
sie sind arm gewesen. Dieser Satz wurde von Papst Johannes XXII. als häretisch
verurteilt. Wer also diesen Satz sagt, ist nicht mehr katholisch. Man kann sich
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vorstellen, warum es zu diesem Urteil kam. Wenn der Papst als Nachfolger Christi
sich daran hält, und wenn Christus und seine Apostel nichts besessen haben, weder
gemeinsam noch einzeln, dann wäre die logische Konsequenz, dass auch der Papst
und seine Kurie nichts besitzen dürfen. Genau deshalb wurde im Armutsstreit genau
dieser Satz verurteilt.
Wenn wir jetzt nach diesem Durchgang durch die Geschichte der Armutsbewegung,
nach diesem Blick auf den Heiligen Franziskus wieder zurückkommen auf Papst
Franziskus, dann wird vielleicht deutlich, welche Bombe, welches subversive
Potential in der Wahl dieses Papstnamens, der nicht umsonst zum ersten Mal in der
Geschichte der Kirche gewählt wurde, steckt. Der Prunk der römischen Kurie, der
„geistliche Alzheimer“, von dem der Papst in seiner weihnachtlichen Ansprache
redete, das sind Krankheitsphänomene, die man reformieren kann, heilen kann.
Wenn man auf seinen Namenspatron Franziskus blickt, wenn man auf den Poverello,
den Armen, wenn man auf Assisi schaut.
In seiner Weihnachtsansprache sagte der Papst: "Das Weihnachtsfest ist die
Begegnung mit Gott, der in der Armut der Grotte von Betlehem geboren wird, um uns
die Macht der Demut zu lehren. Und in der Tat ist Weihnachten auch das Fest des
Lichtes, das vom erwählten Volk nicht aufgenommen wird, sondern von den armen
und einfachen Leuten, die das Heil des Herrn erwarteten."
Und in seiner Philippika vor den Würdenträgern der Kurie am 22. Dezember hat der
Papst die Krankheit des Hortens unter den Kurialen gegeißelt: "Wenn der Apostel
eine existenzielle Leere in seinem Herzen zu füllen sucht, indem er materielle Güter
anhäuft, nicht aus Notwendigkeit, sondern nur, um sich sicher zu fühlen, dann verrät
er Christus. Denn wir werden nichts Materielles mitnehmen können, nichts
Materielles wird uns helfen an unserem letzten Tag."
Papst Franziskus hat durch die erstmalige Wahl des Namens Franz von Assisi sich
auf ein ungeheuer spannendes Projekt eingelassen. Denn die beiden einander
diametral entgegenstehenden Tendenzen der Kirchengeschichte, die Armut, die
Nachfolge des armen Jesus, der keinen Platz hat, wohin er sein Haupt legen soll,
exemplarisch vorgelegt von dem Armen von Assisi, und die reiche Papstkirche,
verrechtlicht mit all ihrem Pomp, des Vikarius Christi, des Papstes als Stellvertreter
Christi - diese beiden Linien sind in der einen Person des Papst Franziskus
zusammengelaufen. Man darf gespannt sein, welche dieser beiden Grundtendenzen
der Kirchengeschichte sich in Papst Franziskus durchsetzen kann: der Pontifex
Maximus oder der Poverello, der Arme aus Assisi.
*****
Zum Autor:
Prof. Hubert Wolf, geboren 1959, studierte katholische Theologie mit Schwerpunkt
Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, dann Exegese des Neuen und Alten
Testaments; 1983 Diplom, ab 1983 Ausbildung im Priesterseminar, 1985 Ordination
zum Priester. 1990 Promotion zum Dr. theol., 1991 Habilitation, ab 1999 ist Wolf C4Professor an der Katholischen Fakultät der Universität Münster. Seit 2013 leitet er
DFG-Langfristvorhaben „Kritische Online-Edition der Tagebücher von Michael
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Kardinal von Faulhaber (1911-1952“ (mit Andreas Wirsching). 2004 wurde er mit dem
Communicatorpreis des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft
ausgezeichnet.
Bücher:
- Krypta. Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte. Beck-Verlag.
- Die Affäre Sproll. Die Rottenburger Bischofswahl von 1926/27 und ihre
Hintergründe. Verlag Thorbecke.
- Index. Der Vatikan und die verbotenen Bücher. Beck-Verlag.
- Verbotene Bücher. Verlag Schöningh.
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