Leserbriefe - Swiss Medical Forum

LESERBRIEFE
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Leserbriefe
Überlegungen zum Sozial­
versicherungsbetrug
Leserbrief zu Frei A. Sozialversicherungsbetrug
als forensisch-psychiatrisches Problem.
Schweiz Med Forum. 2014;14(47):887–9.
Mit grossem Interesse haben wir den oben
genannten Beitrag gelesen und möchten im
Folgenden an diesen anknüpfen.
In der gutachterlichen Praxis kann – in einigen
Fällen – die Erfassung des psychiatrischen
Querschnittsbefundes, bedingt durch eine
verstärkte Symptompräsentation bzw. eine
SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM
2015;15(7):167–168
defizitorientierte Beschwerdenschilderung
der Probanden, erschwert oder gar verunmöglicht sein. Dabei sollten aber in die Überlegungen miteinbezogen werden, dass solche
Konstellationen durchaus auch krankheitsbedingt vorkommen können und durch die
spezielle gutachterliche Situation noch zusätzlich moduliert werden, im Sinne einer
Verdeutlichung als normalpsychologische
Reaktion.
Zwar hat der Gutachter bei Hinweisen auf
eine nicht authentische Beschwerdepräsentation eine Vortäuschung (Aggravation, Simulation) in Betracht zu ziehen; allerdings setzt die
Feststellung einer Simulation voraus, dass ein
gesundheitliches Leiden nicht vorhanden ist
und Beschwerden bewusst bzw. zielgerichtet
vorgetäuscht werden, um einen Vorteil zum
Beispiel finanzieller Natur zu erlangen (vgl.
ICD-10 Z76.5 und DSM-V V65.2).
Die Beantwortung der Frage, ob nicht authentische Beschwerden/Symptome vorliegen, bedarf einer grossen Erfahrung und ergibt sich
aus einer breit abgestützten multimodalen
interdisziplinären Beurteilung aufgrund verschiedener Datenebenen inklusive Verhaltensparametern, wie sie auch bei Observationen
erfasst werden können. So ist zu berücksichtigen, dass punktuell «nachgewiesene» Antwortverzerrungen – beispielsweise im Rahmen von
Beschwerdevalidierungstests – keineswegs
einen Rückschluss auf das Fehlen von gesundheitlichen Einschränkungen erlauben.
In Fällen, in denen ein nicht authentisches
Verhalten die Beurteilung der tatsächlichen
gesundheitlichen Situation erschwert, ist eine
diagnostische Einschätzung bzw. Beurteilung
der tatsächlichen Leistungsfähigkeit im beruflichen Kontext häufig unmöglich bzw. zumindest erschwert (vgl. Merten 2013, S. 76).
Diese Feststellung sollte vom medizinischen
Experten dann dementsprechend transparent
gemacht werden.
Grundsätzlich empfiehlt sich ein mehrdimensionales Vorgehen (Nedopil, S. 213ff.) mit
einer detaillierten Langschnittbeurteilung,
dem Erfassen von Inkonsistenzen, unter Berücksichtigung von zusätzlichen (objektiven)
Informationen, beispielsweise Laborergebnissen (Medikamentenspiegelkontrollen), fremdanamnetischen Quellen oder den Resultaten
einer Observation.
Letztgenanntes Element – wie es in der Falldarstellung von Dr. Frei prominent im Zentrum stand – kann durchaus Informationen
über einzelne Aspekte der Leistungsfähigkeit
der Probanden, beispielsweise Angaben
über die Verkehrsfähigkeit, das Kommunikationsverhalten, möglicherweise auch über die
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affektive Modulationsfähigkeit und die Psychomotorik (auch in Anlehnung an das MiniICF-App), liefern. Allerdings werden andere
Dimensionen (z.B. die Anpassung an Regeln
und Routinen, die Fähigkeit zur Anwendung
fachlicher Kompetenzen) wohl eher selten
ableitbar sein und können so den Gutachter
und Rechtsanwender im Bezug auf eine Einschätzung des Leistungsvermögens in einer
«falschen Sicherheit» wiegen. Aus Sicht der
Autoren scheint es zudem essentiell, die oft
in einem bestimmten Kontext (Freizeitverhalten) dokumentierten Funktionen dann
auch mit den konkreten beruflichen Anforderungen in Beziehung zu bringen. Beispielsweise kann ein Feuerwehrmann, der an einer
posttraumatischen Belastungsstörung infolge
eines Berufsunfalls leidet, durchaus in seinem
Freizeitverhalten (z.B. Ferien, Restaurantbe-
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such, sportliche Aktivitäten) unauffällig sein,
dennoch in seiner angestammten Tätigkeit
erhebliche funktionelle Einschränkungen aufweisen. Zu diskutieren sind aus gutachterlicher Sicht natürlich die Verweistätigkeiten,
die sich aber ebenfalls nicht allein aus dem
Observationsmaterial ableiten lassen.
Korrespondenz:
Dr. med. Michael Liebrenz
Gutachtenstelle für Zivilund Öffentlichrechtliche Fragestellungen
der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürch
Militärstrasse 8
CH-8021 Zürich
Michael.Liebrenz[at]uzh.ch
Roman Schleifer a, Gerhard Ebner b,
Erich Seifritz a, Michael Liebrenz a
a
Gutachtenstelle für Zivil- und Öffentlich rechtliche
Fragestellungen der Psychiatrischen
Universitätsklinik Zürich,
b
Zentrum für Begutachtung, Rehaklinik Bellikon
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Literatur
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Stevens, A., Friedel, E., Mehren, G., & Merten, T.
(2008). Malingering and uncooperativeness in
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Prevalence and effects in a German sample of
claimants. Psychiatry research. 157(1), 191–200.
Merten, T. (2013). Beschwerdenvalidierung (Vol. 14).
Hogrefe Verlag.
Nedopil, N. (2012). Forensische Psychiatrie:
Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen
Psychiatrie und Recht; 69 Tabellen. S. 213ff.
Georg Thieme Verlag.