WAS IST IHRE DIAGNOSE? 299 Klinische Überlegungen Ein nicht trivialer grippaler Infekt bei einem 37-jährigen Patienten Sabine Giroud a , Anne-Sophie Brunel b , Alban Lovis c , Julien Castioni a a Service de médecine interne, Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV, Lausanne; b Service des maladies infectieuses, Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV, Lausanne; c Service de pneumologie, Centre hospitalier universitaire vaudois CHUV, Lausanne Fallbeschreibung Der 37-jährige Patient sucht die Notfallstation wegen eines vor allem tagsüber auftretenden unproduktiven Hustens, subfebriler Temperaturen, Myalgien seit einer Woche und basal thorakal links lokalisierter, atem- 1. Welche Massnahme erachten Sie zu diesem Zeitpunkt als am aussagekräftigsten? a) b) c) d) Ein Thorax-CT ohne Kontrastmittel Ein Angio-CT des Thorax Eine transthorakale Echokardiographie Eine empirische orale Antibiotikatherapie abhängiger Schmerzen auf. Er befindet sich in einem Ein natives Thorax-CT erlaubt eine präzisere Lokalisa- guten Allgemeinzustand, ist normokard und afebril. tion der Läsion und die Differenzierung zwischen einer Bei der Untersuchung fallen eine Paradontose sowie parenchymatösen und einer pleuralen Pathologie, ist ein holosystolisches Herzgeräusch über dem Aorten- aber nicht direkt notwendig, zeigt doch das Thorax- areal auf. Das Homans- und das Meyer-Zeichen sind Röntgen eine wanddichte Verschattung und eine dis- links negativ, rechts grenzwertig. Bei der Lungenaus- krete Spiegelbildung, verdächtig für einen Abszess im kultation wird eine Abschwächung des Atemgeräuschs linken unteren Lungenlappen. links basal festgestellt. Die Labor untersuchungen zei- Ein Thorax-CT mit Frage nach Lungenembolie erübrigt gen mit einer Leukozytose von 21 G/l und einer Erhöhung sich, nachdem aufgrund des Röntgenbilds eine alterna- der D-Dimere auf 3500 ng/ml eine Entzündung. Das Re- tive Diagnose (Abszess) viel wahrscheinlicher ist und sultat des Thorax-Röntgenbilds zeigt Abbildung 1. im Röntgenbild keine Hinweise auf eine Lungenembolie, wie das Hampton-Zeichen (trianguläre Pleuraläsion als Ausdruck eines Lungeninfarkts) oder das WestermarckZeichen (Hypertransparenz als Ausdruck einer regionalen Minderdurchblutung), ersichtlich sind. Die Erhöhung der D-Dimere kann dem Entzündungszustand zugeschrieben werden. Von einer notfallmässigen Echokardiographie wird abgesehen, weil eine Rechtsherz-Endokarditis mit einzelner septischer Embolisierung in die Lungen unwahrscheinlich ist. Bei einem Lungenabszess werden eine empirische orale Antiobiose mit Clindamycin und eine ambulante Nachkontrolle 72 Stunden nach Therapiebeginn empfohlen. Unserem Patienten geht es nach 72 Stunden Clindamycin per os nicht besser, so dass er hospitalisiert wird. Die Antibiotikatherapie wird nach Abnahme von Blut- und Sputumkulturen um Ceftriaxon und Metronidazol erweitert. Die Kulturen bleiben steril. Dem Patienten geht es aber nach 7 Tagen nicht besser, so dass nun doch ein Thorax-CT (Abb. 2) angefertigt wird. 2. Welche Massnahme ist jetzt am zuverlässigsten zur Sicherung der mikrobiologischen Diagnose? a) b) c) d) Abbildung 1: Konventionelles Thorax-Röntgenbild (p.a., stehend). SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(12–13):299–302 Wiederholung der Sputumkultur Kultur der bronchoalveolären Lavage (Bronchoskopie) Suche nach säureresistenten Bakterien im Sputum Perkutane Biopsie des Abszesses und bakteriologische Kultur des Eiters WAS IST IHRE DIAGNOSE? 300 tienten zutrifft. Die Eiterkultur zeigt eine gemischte anaerobe Flora mit Streptococcus milleri. Der Verlauf ist nach der Abszessdrainage günstig, die Thoraxschmerzen klingen ab und die Entlassung nach Hause wird geplant. 3. Welche Antibiotikatherapie schlagen Sie nun vor? a) Clindamycin per os für total 6 Wochen b) Ceftriaxon i.v. 2 Wochen stationär, anschliessend Moxifloxacin per os für 4 Wochen c) Ceftriaxon i.v. ambulant über 4 Wochen, anschliessend Metronidazol per os während 2 Wochen d) Amoxicillin-Clavulansäure i.v. ambulant während 6 Wochen Die empirische Behandlung eines Lungenabszesses beruht vor allem auf Clindamycin, das sich dem Penicillin G in zwei prospektiven Studien als überlegen erwiesen hat. Tatsächlich produzieren mehrere Anaerobier Abbildung 2: Thorax-CT nativ. Verdichtung von 5 × 7 cm im linken Unterlappen mit peripherem Milchglasaspekt und mehreren Luft-Flüssigkeits-Spiegeln im Zentrum der Läsion. der Mundflora (Prevotella, Fusobacterium und Bacteroides non fragilis) eine Penicillinase. Moxifloxacin hat sich zwar bei der Behandlung von Lungenabszessen als wirksam erwiesen, gilt aber nicht als erste Wahl, weil In Sputum- oder Kulturen der bronchoalveolären Lavage immer mehr Enterobakterien gegen Chinolone resis- (BAL) ist es schwierig, anaerobe Keime der oropharyn- tent sind. Metronidazol ist als Monotherapie wegen gealen Flora zu isolieren, die hier in Anbetracht des seiner Ineffizienz gegen Streptokokken weniger wirksam hochgradigen klinischen und radiologischen Verdachts als Clindamycin, kann aber mit Penicillin kombiniert auf einen Lungenabszess vermutet werden müssen. werden. Die Kombination Amoxicillin-Clavulansäure Ausserdem sind diese Probenahmen oft durch die ist eine hervorragende Alternative zu Clindamycin Mundflora kontaminiert. Die Zytologie des Sputums und zeichnet sich durch eine gute pulmonale Penetra- hat eine Sensitivität von lediglich 30–50%, um eine tion aus. Eine initiale orale Verabreichung erwies sich peripheren Neoplasie aufzufinden. Die Bronchoskopie einer parenteralen Induktion gefolgt von einer oralen gilt nicht als Methode der Wahl für die mikrobiologi- Therapie als gleichwertig. Es ist deshalb nicht sinnvoll, sche Diagnostik. Nichtsdestotrotz muss in Anbetracht parenteral weiter zu behandeln, wenn kein Resorptions- der negativen Resultate der ersten Kulturen eine Bron- problem vorliegt. Empirisch wird eine Therapiedauer choskopie erwogen werden. Gewisse Richtlinien emp- von 6–8 Wochen empfohlen mit einer abschliessenden fehlen die Bronchoskopie in der Tat als Teil des Abklä- radiologischen Kontrolle. Die Experten empfehlen mikrobiologischen eine Fortsetzung der Behandlung, bis der Abszess nicht Diagnostik, sondern auch zur Erfassung einer zugrun- mehr nachweisbar ist oder auf tiefem Niveau grössen- deliegenden Neoplasie im Falle einer atypischen Prä- stationär bleibt. rungspfads, nicht nur zur sentation oder zum Ausschluss einer endobronchialen Obstruktion. Eine Lungentuberkulose ist in Anbetracht der Lokalisation der Läsion in den basalen Lungenabschnitten und 4. Welche Massnahme ist am wenigsten wirksam, um einen Rückfall zu verhindern? dass in den Direktpräparaten mit Auramin-Rhodamin- a) b) c) d) e) oder Ziehl-Neelsen-Färbung von zwei bis drei Sputen Protonenpumpenhemmer erhöhen das Risiko einer des klinischen und radiologischen Bildes weniger wahrscheinlich. Im Verdachtsfall sollte eine Aerosolisolation eingesetzt werden, bis die Bestätigung eintrifft, Das Absetzen des Protonenpumpenhemmers Die fachärztliche Behandlung der Paradontose Die Pneumokokkenimpfung Der Verzicht aufs Rauchen Die Einschränkung des Alkoholkonsums keine säureresistenten Bakterien nachgewiesen worden Pneumonie und eines Lungenabszesses. Deshalb muss sind. ihre Indikation unbedingt überprüft werden. Die perkutane Abszess-Punktion wird empfohlen, wenn Die Paradontose ist, wie jede Form einer schlechten eine über 7–14 Tage zuverlässig durchgeführte medika- Mund- oder Kieferhygiene, mit Lungenabszessen asso- mentöse Therapie versagt und der Abszess gross ist ziiert, was mit der Präsenz ungewöhnlicher oder be- (mehr als 6–8 cm Durchmesser), was auf unseren Pa- sonders virulenter Keime erklärt wird. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(12–13):299–302 WAS IST IHRE DIAGNOSE? 301 Der Verzicht aufs Rauchen wird empfohlen, weil der zen bedeuten eine Pleura-Mitbeteiligung. Obwohl ein Tabakrauch die Flimmerzellen und ihre Abwehrfunk- Lungenabszess häufig auf dem konventionellen Tho- tion im Bronchialbaum beeinträchtigt. rax-Röntgenbild erkennbar ist, gilt das Thorax-CT als Der Alkoholabusus gilt als Risikofaktor für eine Aspira- Methode der Wahl zur Unterscheidung des Lungenabs- tionspneumonie, die nicht selten vor einem Lungenab- zesses von anderen Differenzialdiagnosen, insbeson- szess besteht. Die Pneumokokkenimpfung gilt nicht dere dem Empyem (der Abszess bildet mit der Pleura als Schutz vor einem Rezidiv eines Lungenabszesses einen spitzen Winkel, das Empyem einen stumpfen (Tab. 1). Weitere Risikofaktoren sind: Bewusstseinstr- Winkel) oder dem exkavierten bronchopulmonalen übung, Vollnarkose, Schluckstörung, Rauchen und Karzinom (radiologisch dickere und unregelmässige männliches Geschlecht. Wände). Tabelle 1: Risikofaktoren, die im Falle eines Lungenabszesses gesucht und behandelt werden müssen. Rauchstoppberatung und/oder Beratung durch Alkoholentzugs-Fachmann Indikation des Protonenpumpen-Hemmers überprüfen Zahnstatus zur Erfassung eines Infektfokus Mikrobiologisch betrachtet sind beim Lungenabszess häufig mehrere Keime oder eine Mischinfektion aus Anaerobiern und Aerobiern der Mundhöhle nachweisbar. Die häufigsten Anaerobier sind Peptostreptococcus, Fusobacterium und Prevotella spp., die häufigsten Aerobier sind Streptococcus milleri oder Streptococcus pneumoniae, Staphylococcus aureus, Klebsiella pneumo- Immunsuppression ausschliessen (HIV-Test) niae, Pseudomonas aeruginosa und Escherichia coli. Daneben können aber auch andere Bakterien wie Diskussion Nocardia spp. oder Rhodococcus spp. und Actinomyce- Ein Lungenabszess ist eine eitrige, kavernöse, nekroti- ten gefunden werden. sche Läsion des Lungenparenchyms, der meist als Die Abnahme von Blutkulturen ist empfehlenswert. Komplikation einer Pneumonie auftritt, aber auch das Sputumkulturen können hilfreich sein, sind aber nicht Resultat einer Fremdkörperaspiration sein kann. Man immer einfach zu interpretieren, weil sie häufig durch unterscheidet primäre von aufgrund eines prädispo- die Mundflora kontaminiert sind. Als diagnostischer nierenden Faktors (Neoplasie, hämatogene Streuung) Goldstandard gilt die Kultur der mittels perkutaner sekundären Lungenabszessen. oder transbronchialer Punktion gewonnenen Abszess- Die klinischen Manifestationen von Lungenabszessen flüssigkeit, ist aber bei gutem Ansprechen auf die em- sind unspezifisch (Status febrilis oder subfebrilis, Hus- pirische Antibiotikatherapie nicht notwendig. Im Falle ten, Auswurf, Gewichtsverlust, Nachtschweiss) und der einer atypischen Präsentation müssen die Differential- Verlauf meist subakut, was dazu führt, dass der Patient diagnose erweitert und eine Bronchoskopie durch- den Arzt erst mit Verzögerung aufsucht. Thoraxschmer- geführt werden, in erster Linie, um Mykobakterien, Thorax-Röntgenbild stehend pa und lateral (im Zweifelsfall Thorax-CT) Verlauf 72 Std. nach empirischer oraler oder parenteraler Antibiotikatherapie Exkavierte Läsion mit Spiegelbildung Keine / wenig klinische Verbesserung* Deutliche klinische Verbesserung Andere Ursachen* ausschliessen Abzessdrainage?§ Ja, perkutan Ja, endobronchial Nein, gezielte Antibiotikatherapie während 6 Wochen Abbildung 3: Verdacht auf Lungenabszess: Zusammenfassung der Massnahmen. * Komplikation des Abszesses (Empyem usw.), bakterieller Infekt mit resistenten Keimen (Pseudomonas aeruginosa, Mykobakterien), unkontrollierte endovaskuläre Infektquelle (Rechtsherzendokarditis, septische Thrombophlebitis), suboptimale Antibiotikatherapie (Arzneimittelinteraktion, verminderte Resorption wegen gestörten Transits) oder Parasiten- oder Pilzinfekt. Die perkutane oder transbronchiale Abszess-Drainage muss von Fall zu Fall diskutiert werden. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(12–13):299–302 WAS IST IHRE DIAGNOSE? 302 atypische Keime (Actinomyceten, Nocardia etc.), oppor- Ausnahme geworden (weniger als 10% aller Fälle), hat tunistische Keime (Aspergillus, Cryptococcus, Zygo- aber ihren Stellenwert im Falle von Komplikationen myzeten) oder eine darunterliegende Pathologie zu wie Hämoptyse, einer bronchopleuralen Fistel, einem entdecken (Neoplasie, Fremdkörper). Im Falle eines un- Versagen der konventionellen Behandlunsgmassnah- befriedigenden Verlaufs unter empirischer Antibioti- men oder bei Verdacht auf eine ursächliche Neoplasie. katherapie nach 7–14 Tagen muss eine Komplikation Die Mortalität des Lungenabszesses konnte dank der (Empyem etc.), eine Infektion mit einem resistenten Antibiotikatherapie zwar gesenkt werden, liegt aber Keim (Pseudomonas aeruginosa, Mykobakterien) oder, gemäss aktueller Evidenz immer noch zwischen was seltener vorkommt, eine unkontrollierte endo- 5–20%. vaskuläre Infektionsquelle (Rechtsherz-Endokarditis, Die Prognose hängt von der Abszessgrösse, der Viru- septische Thrombophlebitis), eine suboptimale Anti- lenz der involvierten Keime, insbesondere dem Vorlie- biotikatherapie (Medikamenten-Interaktionen, vermin- gen von Aerobiern (Streptococcus aureus, Pseudomonas derte Resorption aufgrund eines gestörten Transits) aeruginosa) und patientenspezifischen Faktoren (Alter, oder eine Infektion durch einen Parasiten oder einen Komorbidität, Immunsuppression), ab. Pilz gesucht werden. In solchen Fällen sollte eine Bronchoskopie mit bronchoalveolärer Lavage und bakterio- Danksagung logischen, mykobakteriologischen und Pilzkulturen Wir danken Prof. Gérard Waeber (Chefarzt der Abteilung Innere Medizin) für seine sorgfältige Korrekturlesung und seine Vorschläge. diskutiert werden. Der Nachweis von bakterieller oder Disclosure statement Pilz-DNA mittels PCR (polymerase chain reaction) kann bei der Diagnostik helfen. Falls die medikamentöse Die Autoren deklarieren keine finanziellen oder persönlichen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel. Therapie erfolglos ist, wird häufig eine Abszessdrainage Literatur durchgeführt, weil sie die mikrobiologische Differen- 1 Korrespondenz: zierung erlaubt und gleichzeitig den klinischen Verlauf 2 Dr. med. Julien Castioni günstig beeinflusst (Abb. 3). Die Lobektomie ist die Spécialiste en médecine 3 interne générale 4 Chef de Clinique Service de médecine interne CHUV, Rue du Bugnon 46 Antworten: 5 CH-1011 Lausanne Julien.Castioni[at]chuv.ch Frage 1: d. Frage 2: d. Frage 3: a. Frage 4: c. SWISS MEDICAL FORUM – SCHWEIZERISCHES MEDIZIN-FORUM 2016;16(12–13):299–302 Hirshberg B, Ben-Sira L, Kramer MR. Factors predicting mortality of patients with lung abscess. Chest. 1999;115:746–50. Takayanagi N, Kagiyama N, Ishiguro T et al. Etiology and outcome of community-acquired lung abscess. Respiration. 2010;80:98–105. DiBardino DM, Wunderink RG. Aspiration pneumonia: A review of modern trends. Journal of critical care. 2015(30):40–8. Herth F, Ernst A, Becker HD. Endoscopic drainage of lung abscesses: technique and outcome. Chest. 2005;127(4):1378–81. Reynolds JH, McDonald G, Alton H et al. Pneumonia in the immunocompetent patient. The British Journal of Radiology. 83(2010):998–1009.
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