Philosophische Bibliothek · BoD In den beiden Streitschriften „Über Kunst und Wissenschaft“ (1750) und „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen“ (1755) entwickelt Rousseau (1712–1778) den Grundgedanken seiner radikalen Kultur- und Zivilisationskritik. Die Entfaltung des Verstandes und die Entstehung des Eigentums brandmarkt er als Ursachen für die Ausbildung der gesellschaftlichen Ungleichheit unter den Menschen und setzt so ein erstes Signal für die Freiheits- und Gleichheitsforderungen der Revolution von 1789. Jean-Jacques Rousseau Schriften zur Kulturkritik Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen Französisch – Deutsch Rousseau Schriften zur Kulturkritik Französisch Deutsch Über Kunst und Wissenschaft (1750) ISBN 978-3-7873-1200-9 243 Meiner JEAN-JACQUES ROUSSEAU Schriften zur Kulturkritik FELIX MEINER VERLAG HAMBURG JEAN-JACQUES ROUSSEAU Über Kunst und Wissenschaft (1750) Über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen (1755) Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben von Kurt Weigand FELIX MEINER VERLAG HAMBURG PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 243 1955 Erste Auflage 1964 Unveränderter Nachdruck unter dem Titel »Schriften zur Kulturkritik« 1971 Zweite, erweiterte und durchgesehene Auflage 1978 Dritte, durchgesehene Auflage 1983 Vierte, erweiterte Auflage 1995 Fünfte Auflage Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der 5. Auflage von 1995 identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod. Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographi sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-1200-9 ISBN eBook: 978-3-7873-3156-7 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1995. Alle Rechte vor behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier, hergestellt aus 100 % chlorf rei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de INHALT Vorwort zur fünften Auflage V Einleitung: Rauaseaus negative Historik Von Kurt Weigand . VII Der Rousseauismus Die Akademiefrage Rousseaus Gesetz Die Streitsduiften Der Tugendbegriff Der Naturbegriff Negative Historik Namwirkungen . Vorgänger. VII XV XXVIII XXXIX XLVIII LIII LVI LXII LXIV [Ergänzung zur zweiten Auflage:] Die überwundene Natur . LXX Rousseaus Leben LXXX Jean-Jaques Rousseau Discours qui a remporte le prix a l'academie de Dijon en l'annee 1750 ( Originaltitel des ersten Dislcurs} Preface Vorwort · 2 3 Abhandlung über die Frage: 11at der Wiederaufstieg der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen? Premiere partie Erster Teil Secende partie Zweiter Teil . 5 6 7 28 29 Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite -parmi les hommes ( Originaltitel des zweiten Diskurs} 62 63 Preface Vorwort Abhandlung aber den Urs-prung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen Premiere partie Erster Teil Seconde partie Zweiter Teil 77 82 83 190 191 Beilagen: Brief an Philopolis (französismldeutsm) 269 Vom Geselligkeitszustand des Mensdtengesdtledtts überhaupt (französiscli/deutsm) 285 Brief Voltaires an Rousseau, 30. August 1755 (französisch/deutsch) . Antwort, 10. September 1755 (französism/deutsm). 301 309 Zusätze zum Diskurs über die Ungleidtheit. Aus Rousseaus Nadtlaß 317 Anmerkungen des Herausgebers 319 Erster Diskurs Erster Teil 319 · Erster Diskurs Zweiter Teil . 323 Zweiter Diskurs Erster Teil . 327 · · Zweiter Diskurs Zweiter Teil 333 Zu Rousseaus Noten zum zweiten Diskurs 338 · Zu den Beilagen . 341 Anhang zur zweiten Auflage 345 Anhang zur vierten Auflage 365 Namenregister 371 Sachregister 374 VORWORT ZUR FÜNFTENAUFLAGE Unter dem Titel >>Schriften zur Kulturkritik<< führte Kurt Wei gand in seiner, jetzt in fünfterAuflage vorliegenden, zweisprachi gen Studienausgabe die beiden großen Diskurse zusammen, die Rousseau 1750 und 1755 als Antworten auf die Preisfragen der Akademie von Dijon verfaßte. Textgrundlage für die Wiedergabe und Übersetzung des ersten (preisgekrönten) sciences et les arts, Discours sur les mit dem der bis dahin unbekannte Rousseau 1750 über Nacht seinen Ruhm begründete, bot derAbdruck in der Ausgabe der CEuvres completes, hg. V. D. Musset-Pathay, Paris 1823-1826. Grundlage für die Textgestalt des zweiten (nicht preis Discours sur l'origine de l'inegalite parmi les hommes The Politi cal Writings of Jean-Jaques Rousseau, hg. M. C. Vaughan, Cam gekrönten) bildete dagegen die Edition des französischen Textes in bridge 1915. Da der Discours sur l'inegalite zwischenzeitlich erstmalig auch in einer >>Kritischen Ausgabe« vorgelegt wurde (hg. H. Meier, Paderborn 1984), war es geboten, vor der Neuauflage dieses Ban des den aus derAusgabe Vaughan übernommenen französischen Text anhand derAusgabe Meier durchzusehen und zu überprüfen. Meier legt den Wortlaut der Erstausgabe des Discours,Amsterdam 1755, zugrunde und zieht die Abweichungen und Zusätze der postumen Edition durch P. Moulton und P. Du Peyron in der Collection complete des reuvres de J. J. Rousseau, Genf 1782, korri gierend hinzu; Vaughan wählte dieAusgabe von 178 2, die auf das heute verschollene Manuskript und das Handexemplar mit den Eintragungen Rousseaus gestützt war, zum Leittext, griff aber auch auf die Erstausgabe zurück, ohne dies eigens zu verzeichnen. Die Durchsicht ergab, daß der von Weigand aus derAusgabe Vaughan übernommene Text in Schreibung und Interpunktion der von Meier vorgelegten kritischen Edition nicht nachsteht. Im Unterschied zu Meier hat Weigand in seinerAusgabe dem Discours von 1755 die einleitende ••Dedicace a Ia Republique de Geneve« nicht beigefügt und die Anmerkungen (Noten) Rous seaus, die in der Erstausgabe dem Text nachgestellt sind, jeweils unter den Seiten plaziert (siehe dazu die >>Hinweise des Herausge bers«, S. 318 dieserAusgabe). Da dieseAbweichungen dem Zweck VI Vmwort der Studienausgabe, die sich nicht als kritische Edition versteht, sondern einen korrekten L esetext nebst stilsicherer Übersetzung darbieten will, keinen Abbruch tun, stand nach der erfolgten Durchsicht einer im Textbestand unveränderten Neuauflage der von Kurt Weigand herausgegebenen und umfassend kommentier ten >>Schriften zur Kulturkritik<< nichts im Wege. Der Verlag EINLEITUNG Hausseaus negative Historik DER ROUSSEAUISMUS Hätten die von Rousseau in seinen beiden Diskursen auf geworfenen Fragen auch zu anderen Zeiten so sensationell gewirkt wie um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris? Nur zu gewissen Zeiten, und das verweist auf historische Bedingungen. Trotzdem sind die von ihm verhandelten Pro bleme mehr als eine bloß zeitbedingte radikale Kritik der französischen Hofkultur. Die Debatte über Nutzen und Nachteil der Kultur ist keine aus der Mode gekommene Sensation. Es ist eine berechtigte Frage, ob seitdem beim Bereden der Kulturkrise überhaupt noch neue Argumente aufgetaucht sind. Schon deshalb ist es wichtig, den bei uns verschollenen Grundtext der modernen Kulturkritik neu zu lesen. Vielleicht wird mancher Originalitätsanspruch dabei fadenscheinig. Die rousseauistische Bewegung, welche die beiden Schriften einleiteten, ist weder ein einmaliger noch ein privater Pro test, denn die Wendung einer Kultur gegen ihren eigenen Wert oder gegen die Kultur schlechthin können wir in vie len Kulturkreisen, Epochen und Persönlichkeiten verfolgen t. Die Argumente gegen die Zivilisation müssen eine geheime Folgerichtigkeit besitzen. DasAuftreten dessen, was wir Rous seauismus nennen, hat sowohl etwas Übergeschichtliches wie etwas Geschichtliches. Einerseits begleitet er den Kultur fortschritt wie etwa der Skeptizismus ewig den Dogmatis mus. Andererseits ist er selber ein Zeitzeichen, das Wesent liches über den Charakter einer Epoche aussagt. Daraus erklärt sich, warum die Gedanken Rousseaus so leicht bei vielen Denkern vor ihm und nach ihm nachzuwei1 Vgl. einseitig bei B. Hazzlitt, Rousseau and Romanticism, New York X 1914. Jacques Maritain, Trois reformateurs, Paris, 1925. J. F. Nourisson, J. ]. Rousseau et le rousseauisme, Paris, 1903. J. Texte, Rousseau et les origines du cosmopolitisme litteraire, Paris, 1895. VIII Einleitung sen sind. Daraus erklärt sich aber auch, waruni alle Quellen und geistige Nachbarschaften so unzulängliche Beweisstüd<e gegen seine Originalität sind. Daraus erklärt sich schließlich, warum noch zweihundert Jahre nach seinem Tod genau so viel Bücher gegen ihn wie für ihn geschrieben werden 1• Es handelt sich hierbei nicht um eine literarische Delikatesse, sondern um ein elementares Geschiehtserieben ersten Ran ges. Der Kaiser Diocletian war ni<ht der erste, der seinen Garten dem Imperium vorzog. In China ließ der Kaiser Ho ang-ti aus rousseauistischen Gründen die Bü<her verbrennen und Dschuang-dsi schrieb Seiten, die bei Rousseau stehen könnten. Auf Übereinstimmungen zwischen der Stellung Buddhas in Indien, Sokrates' in der Antike und Rousseaus bei uns hat Spengler3 hingewiesen, der in allendreienjeweils den Übergang einer Kultur in ihre Zivilisation - nach ihm: das Klimakterium einer Kultur - markiert sah. Spengler be da<hte allerdings nicht, in welchem Maß der erste Discours als die erste Behandlung des Dekadenzproblems - bereits sein Bu<h in nuce enthält. No<h weniger beda<hte er, wie sehr seine Kritik an Rousseau eine Kritik an seiner eigenen Bemühung ist. Was Spengler zugunsten des Lebens gegen den Verstand vorbringt, setzt schon die Na<hwirkung von Rousseaus Werk voraus. Vieles, was Rousseau in die De batte bra<hte, ist längst anonymes Gedankengut geworden, zumal die Historiker unter ihm meist nur den Verfasser des Contrat social verstanden. Infolgedessen gibt es viele Rous seauisten, die gar nicht wissen, daß sie es sind. Unsere mei sten Kulturkritiker sind nichts anderes als dritte und vierte Wellen des Rousseauismus, und zwar im Grundgedanken, nicht nur in einigen Ansichten. Wenn es in sein S<hema gepaßt hätte, müßte Spengler auch auf Salomon, die Bergpredigt, auf Dil<aiar<h, Antiphon, 2 a Am bekanntesten Jules Lemaitre, Rousseau, Paris, 1907. �.Pengler, Der Untergang des Abendlands, Bd. 1, Kap. V, II. Ubrigens taumt in der Vorrede zur Nouvelle Heloise die Rede vom »Untergang Europas« zuerst auf. Der in Spanien lebende arabisme Philosoph Abubaker (Ibn Trofail t 1 138) smneb den philosophismen Roman »Der Lebende, Sohn des Wamenden«, der eine Art von arabismem E:mile darstellt. Der Roman wurde unter dem Titel »Der Naturmensm« 1783 von Eim hom ins Deutsme übersetzt. Der Rousseauismus IX die Zyniker, auf Stoiker wie PoseidoDios und Seneca, auf Dion Chrysostomos, auf Franz von Assisi, auf Montaigne, auf Agrippa von Nettesheim vor und Karlstadt während der Reformation, auf Winstantley und die englischen Diggers etc. hinweisen müssen. Einen anderen Montaigne-Leser: Shakespeare, den Dichter des »Timon«, des »Wintermär mens« nicht zu vergessen. Jener melancholische Jacques in »Wie es euch gefällt« gleicht nur zu sehr jenem Jean-Jacques, mit dem wir es zu tun haben. Daß Rousseau im ersten Dis cours so etwas wie die Inaugural-Dissertation der >>deutschen Bewegung« schrieb, war einmal bekannt. Seitdem Nietzsme ihn als eine >>Mißgeburt, die sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat« 4 abgefertigt hatte, wurde Rousseau von der deutschen Lebensphilosophie wie ein unerwünschter Ver wandter behandelt. Im übrigen schrieb dann Tolstoi viele seiner Lehren auf seinen Namen um. Dennoch nimmt derselbe Nietzsme in der deutschen Gei stesgeschichte eine ähnliche Stelle ein wie Rousseau in der französischen. Die Selbstvemeinung, die Rousseau in Bezug auf die französische Klassik darstellt, bezeichnet Nietzsme in Bezug auf die deutsche Klassik. Deshalb gilt Rousseau in Frankreim als ein germanischer und protestantischer Exote, während unser Nietzsme die Kultur des Voltaire wieder zu Ehren gebracht hat. Beide untersmeiden sich mehr in der Therapie als in der Diagnose. So sehr ihre Lehren als Mo ralismus und Immoralismus antipodism sind, so sehr über schneiden sich die Bonte naturelle und die Unschuld des Werdens. So ist denn Rousseaus Anliegen keineswegs mit Napoleon liquidiert worden. Im Gegenteil: er wurde der Vater zweier sehr feindlicher Brüder, des Sozialismus und der Romantik. Auf der einen Seite könnte man ihn geradezu als Marxismus im Stadium des Feudalismus definieren. Auf der anderen Seite ist er der beredte Stifter der Gegenaufklärung. Im ersten Discours ruft er nach religion et patrie, im zweiten Dis cours nach egalite und liberte, ohne daß man bisher für diese sonderbare Personalunion die tieferliegende Realunion aufge4 Nietzsdte, Götzendämrnerung, Streifzüge 48. x X Einleitung wiesen hätte. Ohne diesen Aufweis müssen die Argumente gegen Rousseau, die sich bald auf diesen, bald auf jenen Aspekt seines Werkes beziehen, im Kreis gehen. Wenn die meisten seiner selbstsicheren Kritiker wüßten, was alles sie mit ablehnen, wenn sie nur ihn abzulehnen glauben, wären sie vorsichtiger. Das Junktim zwischen vielen seiner Grund thesen und den Rechtsgrundlagen der Demokratie, der Er lebnisdichtung, des sozialen Denkens, zugleich aber au<h des Nationalstaats und der Restauration >wesserer« Zeiten, zeigt, in welche geistigen Entscheidungen er uns verwidcelt. Die allgemeinste Voraussetzung des Rousseauismus ist eine bis an den Rand ihrer Möglichkeiten vollentwidcelte, überreife Kultur. Fichte 5 traf es, als er bemerkte, daß Rous seau eine vorhandene Kultur voraussetzen muß, bevor er über sie reflektieren kann. Diese Voraussetzung einer Reife gilt sowohl objektiv wie subjektiv, sowohl für die Breiten wirkung seines Werks wie für seine Konzeption: sie ist un denkbar ohne die reichen, ja abenteuerlichen Lebenserfah rungen Rousseaus. In der Tat sind die beiden Discours so wenig Frühwerke im üblichen Sinn, so wenig sie Werke eines jugendlichen Anfängers sind. Wir dürfen sie nicht in den Schatten der folgenden Hauptwerke stellen, da Rousseau in ihnen einen Themenkreis so entscheidend zuende denkt, daß er nicht mehr darauf zurodezukommen braucht: die Ge schichte. Insofern die zwei Discours den Eingang in Rous seaus Philosophie bilden, führt der Zugang zu ihr durch eine neue geschichtsphilosophische Vision. Was aber ist nun das gemeinsame Anliegen all der viel fältigen Formen des Rousseauismus, der an bestimmten Stel len der Kulturentwidclung immer wieder spielverderbend da zwischentritt? Und wenn nicht eine These, welches Grund gefühl zumindest verschafft sich darin Ausdrudc? Es ist eine Verkehrung der »normalen« Einstellung zur Kultur. Norma lerweise schätzt der Mensch Menschen und Werke umso hö her, je kultivierter sie sind. Er verehrt in der Bildung, in der Gesittung, in der Technik die Überwindung und die Distanz zur Natur. In diesem Abstand von der Natur sieht der Rous5 J. G. Fimte, Ober die Bestimmung des Gelehrten, 5. Vorlesung. Der Rousseauismus XI seauist nun gerade den Mangel: er mißt in diesem Abstand die Entfernung der Dinge von ihrem Ursprung und ihrer Ursprünglicllkeit. Er sieht plötzlich nicht mehr das Erreichte, sondern das Verlorene. Von wo ·sich der normale Mensch aufzusChwingen suchte, dahin tastet sich der Rousseauist zu rü<k. In dieser Umwertung der Werte- der Schätzung nach ihrer Natürlichkeit statt nach ihrer Künstlichkeit -verrät sich entweder eine Perversion des Erlebens oder die Des illusionierung einer »Lebenslüge«. Demnach entstammt sie entweder einer zivilisatorischen Übersättigung oder der Em pörung des Getäuschten. Aus dem ersteren geht die Suche nach anderen Reizen hervor, aus demletzterender Impuls zur Schaffung einer echteren Kultur. Diesem liegt eine Ausein andersetzung mit den tatsächlichen Dekadenzerscheinungen einer Epoche zugrunde, die ganz unabhängig von Gefühls zuständen und Geschmad<:sverkehrungen ist. In jenem ent kommt eine überrundete und erstarrende Kultur sichselbstin einen Exotismus, der ihr neue Motive zuführt. Insofern kommt darin eine oft längst in ihr angelegteTendenz auf ihren Höhepunkt. In Bezug auf Rousseau selbst leseman z.B.in den Femmes savantes von Moliere aufmerksam die Szenen zwi schen dem Gelehrten Vadius und dem Dichter Trissotin und die zwischen diesem und dem »natürlichen« Jüngling Cli tandre, wenn man die Vodormen dieser Kulturkritik mit Händen greifen will. Allerdings dad man mit Vergleichen nicht zu weit gehen, denn in jedweder großen künstlerischen, wissenschaftlichen und religiösen Selbstbesinnung ist eine rousseauistische Komponente mitbeteiligt. Jeder Rü<kgriff auf die Natur einer Sache ist ein Rü<kgriff auf die Sache der Natur. Daher ist das Ideen-Ensemble, das der Rousseauis mus als solcher ausbildet, schwer einzugrenzen. Schon aus der Doppelheit der Gefühle, denen er entspringt, erhellt im übrigen, daß er sowohl die herrschenden Schichten wie das Volk erlassen kann. Ganz beiläufig hat Rousseau einmal im 8. Buch seiner Confesslons gestanden: »Ich war so gelangweilt von Salons, Springbrunnen, Bosketts, Gartenbeeten und den noch lang weiligeren Besitzern alles dessen; ich war so übersättigt von Broschüren, Klavieren; L'Hombrespiel, Theaterverwiddun- x XII Einleitung gen, törichten Bonmots, fader Ziererei, kleinen Schwätzern und großen Soupers. Wenn ich einen verstohlenen Seiten blide auf einen einfachen, armseligen Dornbusch, eine Hedce, eine Scheune, eine Wiese warf, wenn ich durch ein Dörfchen kam und den Duft eines Omeletts roch, wenn ich von wei tem den ländlichen Kehrreim der Lieder der Ziegenhirtin nen hörte, dann wünschte ich Schminke, Bänder und Ambra zum Teufel ...« Dieses Grundgefiihl, das jedem Sommer frischler heute vertraut ist, tritt uns hier in welthistorischer Aktion entgegen. Aber wenn man es als das pervertierte Empfinden eines überreiztenÄstbeten auffaßt, sieht man nur seine eine Seite.Dieses Gefühl setzt subtile Kennerschaft vor aus, denn nur mit dieser bildet sich der Sinn für das Unechte des Künstlichen aus.Es tritt zuerst bei den sich ihrer Sonder stellung bewußt werdenden Künstlern auf. Man denke an Thomas Manns Geständnisse 6 über die Sehnsucht des exzep tionellen Mensmen nach den »Wonnen der Gewöhnlich keit«. Der vom Künstler geforderte Lebensverzicht zugun sten des Werks, kami allein nicht jene kalten Ekstasen er klären. Dieser Erkenntnisekel erlaßt auch Menschen ohne jene »schöpferische Qual«, den skeptischen Gelehrten, den routinierten Hofmann, den seiner Maskenhaftigkeit bewuß ten Würdenträger. Die »Glaswand« kann unter bestimmten historischen Bedingungen eine ganze Elite vom Leben sepa rieren. Je exklusiver die Stellung im Leben wird, desto ex klusiver wird auch die Stellung zum Leben. Nicht von unge fähr gerät ihre Lebensform in eine dem Künstlerdasein ähn liche Situation� Der Abstand zwischen ihrem natürlichen We sen und ihrer gesellschaftlichen »Rolle« erweitert sich so sehr, daß sie mehr »Spielen« als »leben«. So scheint die ver geistigte Begier nach Leben einem lebensleeren Herzen zu entwachsen. Dennoch werden wir des Rousseauismus' noch nicht in einem sogestaltigen taedium vitae habhaft.Seine an dere Seite ist die bohrende Einsicht, daß die Wissenschaft nicht das geben kann, was sie zu geben vorgibt. Erst der 8 In der Novelle »Tonio Kröger«. Ober die Motive der antiken Bukolik vgl. B. Snell, Arkadien, die Entdedrung einer geistigen Landsmaft in: Die Entdedc:ung des Geistes, Hantburg, 1946. Der Rousseauismus XIII Zweifel des Erkennens macht das besagte Grundgefühl zu jener Verzweiflung, die zur Revolte gegen die »Gesellschaft<< wird. Und was bei diesem Vorgang Grund und was Folge ist, die Unbefriedigung des Wissens oder die Verkehrung des Gefühls, verhüllt sich. Die erste Szene von Goethes Faust projiziert namentlich das andere Grunderleben des Rousseauismus, den Umschlag von Bildungsstolz in Bildungsenttäusmung, in die hohe dich terische Form. Man muß nur hinter den Butzenscheiben des ausgehenden Mittelalters die Problematik des 18. Jahrhun derts beobachten. Zwar treibt der vorgegebene Handlungs verlauf Faust in die Arme der Magie, jedoch in Wahrheit be schreibt der Dichter nicht die Sehnsucht nach Geistern, son dern nach der Natur: »aml könnt im doch auf Bergeshöhn ... « Nicht nur die Wissenschaft im allgemeinen wird zum Ker ker, sondern auch die Studierstube im besonderen. In die Verzweiflung »daß wir nichts wissen können« mischt sich eine Stimmung erhabener Blasiertheit, die nach einer durch aus unmagismen Naivität hinstrebt, so daß sich Faust nicht die Macht des Wissens vom Teufel erbitte!,. sondern Gret chen. Daß sich diese Szene unter negativem Vorzeichen in der Schülerszene wiederholt, zeigt bereits die Gefahr dieses Zustandes. Es ist hier nämlich der Teufel, der den Schüler Init denselben Gründen verspottet, Init denen Faust seinen wissensgläubigen Famulus zuBett geschidct hatte. Die Teufelei liegt in der Erschleichung dieses Grundgefühls, um den Menschen um seine »allerhöchste Kraft« zu bringen. Auch diese Morbidität ist mit ihren Wurzeln in das Erdreim einer historischen Entwidclung eingesenkt. Vielleimt liegt nicht bereits in diesen Dispositionen, son dern erst in einer spezißsmen Wendung von der Leere zur verstärkten Empfindung für die Schönheit des Kraftvollen, Frischen und Naiven, die Schwärmerei für das goldene Zeitalter und das »einfache Leben«, die sich aus dem Quellen der unausgelösmten eigenen Jugend speist. Diese speziellere Wendung zeigen z. B. noch nicht Ibsen und Th. Mann, sondern erst Hamsun. Übrigens ist in der heutigen Existentialphilosophie eine rousseauistisme Wurzel nicht zu übersehen. In dem neutra- x XIV Einleitung len »man« wird die societe in jene Rolle der Uneigentlim keit gedrängt, die wir kennenlernten. Und die Eigentlim keit, in welcher der Mensch en-soi und nicht mehr hors de lui-meme ist, entspricht ihrer Funktion nach der Bonte na turelle. Es ist durmaus zu diskutieren, ob nicht in der Angst die Verfremdung in der Zivilisation ontologisch umschrieben wird, und ob nicht das Naturverstehen als Seinsverstehen wiederkehrt. Die »Existenz« stößt so folgerichtig zum »Sein« vor wie einst die »Tugend« zur >>Natur«. Und ebenso folge richtig wurde aus dem Fortschritt zur Wissenschaft eine Seinsvergessenheit wie einst eine Naturvergessenheit. In diesem Zusammenhang kommt an den Tag, wieso der rous seauistisme Hölderlin ein Mittler zwischen Rousseau und· unserer Zeit zu werden vermochte. Bei der Allgemeinheit des Grundgefühls des Rousseauis mus sind die Lehren Rousseaus im besonderen von vielen konkreten Einzelbedingungen abhängig. Zu diesen Sonder bedingungen gehören die absolute Monarchie, das Rokoko, der Katholizismus, der gleichgeschaltete Adel, die Person Ludwigs XV. und seine Schwäche für Erotik und Etikette. Die souderbarste der Bedingungen ist Rousseaus niedrige Herkunft. Er ist nicht einmal ein Graf wie sein Schüler Tol stoi. Es liegt am Rousseauismus als solchem und nicht, wie man vielfach meint, an der Person Rousseau, daß zwischen dem, was er selbst ist und dem, was er will, ein Bruch ver läuft. Er wird in dem Paradoxon sichtbar, daß man das, was man ist, verneint und gerade aus der Kraft der Opposition zu sich selbst schöpferisch wird. Daher steht er zwischen Selbstanklage und Selbstverteidigung. Der Sprung vom Al ten ins Neue wird von jenen Menschen gewagt, welche die Spannung zwischen beidem aushalten müssen. Zu den kon kreten Umständen, die bei ihm das Allgemeine abändern, gehört vor allem die Barock-Kultur, aus der seine Kritik erwuchs und auf die sie bezogen bleibt. Insofern ist Rous seau selbst sozusagen ein Sonderfall des Rousseauismus. Er tat ein übriges: er unternahm in immer neuen Werken die Frumtbarmamung dieser Erkenntnisse für die Gesell schaft, wie sie geworden ist. Er versuchte eine Methode, um für den einzelnen, die Familie, den Staat inmitten der Kul- Die Akademiefrage XV tur eine höhere, reflektierte Natürli<hkeit zu ersmließen. Ge- X wiß mag uns manfies Künstlime dieses Verfahrens etwa vorkommen, als liefere es statt rohen Frümten eine Konfi türe. Gewiß ist es weniger ein RüdcsclJ.ritt zur Natur als ein FortsclJ.ritt zu einer nom größeren Raffinesse der Gesittung. Indessen trat gerade damit Rousseau aus der bloßen Kritik heraus und wurde zum Stimulans des FortsclJ.ritts. DIE AKADEMIEFRAGE Als die Akademie von Dijon 1750 unter den auf ihre Preis frage >>Ob die Erneuerung der Wissensmaften und Künste da zu beigetragen habe, die Sitten zu bessern« eingegangenen 30 Smriften die Abhandlung des bis dahin unbekannten 38jäh rigen Pariser Literaten Jean Jacques Rousseau preiskrönte, verhalf sie nimt nur einem Abenteurer zum plötzlimen Ruhm. Sie leitete einen welthistorismen Sturm ein, dessen Wellen immer mämtiger gegen Mauem der Traditionen brandet. further triumph the future has to offer to his ghost I dare not venture to predict« ruft Lord RusseF aus. » What Die Akademie hatte auf ihre im damaligen Modestil gehaltene Frage wohl keine so. kühne und grundsätzlime Ant worter wartet, vielmehr damte sie an ein Abwägen der Bedeu tung der Renaissance s. Trotzdem wa� die Frage - wie alle Fragen dieser entsmeidenden Zeit - kühn und forderte eine nom kühnere Antwort heraus. Woher aber nahm sie den nom größeren Mut, diese Antwort zu krönen? Irgendwie mußte sim das Anliegen des Genfers mit dem der Dijoner berühren. Rousseau setzte die Provinz ins Remt. Der heim lime Aufstand gegen Paris lauert dahinter. Die historisme Frage versinnfälligte sim an einer geographismen. Ohne Pa ris hätte man die Frage nimt stellen und nom weniger da mals ohne intime Kenntnis von Paris so radikal-evident be7 B. Russell, History of western philosophy, New York, 1948, S. 701. Vielleimt damte sie aum an den Sqeit zwismen den Anciens und den Modernes, der von Perrault und Fantenelle gegen Ende des 17. Jahrhunderts auf literllrismem Gebiet entfesselt worden war. vgl. F. C. Green, Rousseau and the idea of progress, London, 1943. s x XVI Einleitung antworten können. Denn was anders als ihre Evidenz ließ ihr einen so ungeheuren Erfolg zuteil werden, daß sofort eine Fülle von direkten und indirekten Verteidigungsschrif ten erschien. Im Mercure de France wurden die »Observa tions sur le discours, qui a remporte le prix .. ,« anonym ver öffentlicht. Rousseau antwortete dem Verfasser, dem Abbe Raynal, in einem Brief. In einem weiteren Brief an M. Grimm antwortet er auf die·Refutation des Mathematikprox fessors Gautier. Für die Sorbonne schrieb der Rhetorikpro fessor Le Roi in lateinischer Sprache einen Discours über die Vorteile der Wissenschaften. Außerdem erschien eine Refu tation, die angeblich von einem Mitglied der Dijoner Akade mie stammen sollte, das gegen die Preisverleihung gestimmt hatte. Nachdem die Dijoner Akademie dies dementiert hatte, bekannte sich ein gewisser Le Cat, Sekretär der Akademie zu Rouen, als Verfasser. Als dann der Polenkönig Stanislaus Leszczynski, der Schwiegervater Ludwigs XV., eine Reponse veröffentlichte, die vermutlich von einem Jesuiten mitverfaßt worden war, wurde die Kontroverse hoffähig. Rousseau ant wortete in einer nicht minder glanzvollen Schrift (Reponse a Stanislas) »Ich habe meinen Teil« soll der König gesagt haben. Ebenso gewichtig wurde der >>Discours sur les avan tages des sciences et des arts« von Rousseaus Lyoner Freund Bordes. Rousseau setzte sich damit in einer Derniere Re ponse, die von Zeitgenossen für besser als der Discours ge halten wurde, auseinander, in der er gleichzeitig ankündigte, er werde nun niemand mehr antworten. Bordes indessen schrieb einen >>Second Discours sur les avantages des scien ces et des arts«. Rousseau erwiderte in der Tat nichts, jedoch man kann das Vorwort, das Rousseau der Ausgabe seiner Komödie >>Narcisse« voranstellte, für eine indirekte Erwide rung nehmen. (Resumee de Ia querelle et declaration de ses sentiments.) Diese Streitschriften, die schon rein um fangsmäßig den Discours um das fünffache übertreffen, sind von größter Bedeutung für die Ausbildung der Selbständig keit von Rousseaus Denken. In Deutschland kündigte unser t In der ersten Ausgabe von Rousseaus Werken von Dupeyrou, 1783, finden sich diese Schriften im ersten und fünften der Supplements bände. Die Akademiefrage XVII Lessing den Discours kurz nach Erscheinen in den >>Blättern x der Unterhaltung und des Witzes an« und gab in seiner Be sprechung eine luzide Kritik, die Rousseau nicht bekannt ge worden sein dürftelO, Zweiundzwanzig Jahre später kam Friedrim der Große in seinem >>Discours de l'utilite des sciences et des artS dans un etat« auf das Thema zurüdc. Ge treu seinem Charakter hält er sich nicht bei Wiederlegungen auf, sondern geht gleich zum Angriff über, zum Beweis ihres praktischen Nutzens. So plötzlich Rousseaus >>Entdedcung« auch in die Öffent lichkeit trat, so wohlvorbereitet war sie, wie gesagt, in der kalvinistisch-jansenistischen und weltmännischen Moralistik. Er gab den Erkenntnissen Montaignes und der Moralisten ihre Spitze. Er radikalisierte sie und gab ihnen zugleich eine Wendung, an die niemand gedacht hatte. Die Entstehungsgeschichte kann vieles an und in dem Werk erklären, aber nicht seinen Erfolg. Neu an diesem Er folg als solchem ist vielleicht der Effekt auf Grund der bloßen Originalität des Einfalls, denn keiner seiner Bewun derer - Duclos vielleicht ausgenommen - dachte ernstlich daran, die so emphatisch dargebotenen Ansichten zu teilen. In dieser Form des Urteiles nach der Ausgefallenheit verrät sich schon jene Dekadenz, gegen die Rousseau gerade zu Felde zieht. Die Befehdeten empfanden seine Argumente als bloße Pointen. Freilich waren die revolutionären Tenden zen mit frommen Anbiederungen und rhetorischen Verbeu gungen geschidct genug übertüncht.. Daß einer gegen die Künste und Wissenschaften schrieb, wurde erst dadurch pi kant, daß er sich zugleich als gebildeter Künstler erwies. Zugleich ist der literarische Hintergrund zu bedenken, gegen den sich Rousseau abhob, nämlich die souverän-leichtfertige Prosa Voltaires. Neben den lachenden Philosophen trat nicht ohne Konsequenz der weinende Philosoph. Die oft vertretene Ansicht, mit Rousseau melde sich der Typ des Klein1o E. M. Arndt verfaßte eine Habilitationssduift »die einige Gründe aufstellt mit denen die Zivilisation gegen die Einfälle Rousseaus und anderer verteidigt werden könnte« die in dem Band »Gerettete Amdt-Sduiften« (Arolsep, 1953) deutsdl und lateinisdl veröffent lidlt wurde. XVIII Einleitung bürgers11, zu Wort, ist z�mindest einseitig. Die Meinung, Rousseau bedeute für die Pfahlbürger, was etwa Montes quieu für die Spießbürger bedeute, ist eine unzulässige Ver einfadmng. Schon Bernardin de St. Pierre11a hat darauf hinx gewiesen, daß Rousseau besonders bei der adeligen Ge sellschaft Edolg hatte, nicht beim Volk, das mit Voltaire bil dungsgläubig blieb. Kam!=Jn gewisse gegenaufklärerische Ar gumente den »Monarchisten« sehr gelegen? Aber Edolg ist nicht nur Berechnung. Gerade diejenigen, die in der Gesell schaft lebten, litten auch am meisten an ihr. Nur sie konnten seine Argumente verstehen. Das Volk war nur insofern be troffen als die Ergebnisse dieses Denkens sein Selbstbewußt sein - und dies wiederum sein Kraftbewußtsein - auf den Plan rief. Gewiß kam der selbstironische Übermut, diesen Autor zu hofieren, die Aristokratie teuer zu stehen, aber dies ergibt sich aus der zweigeteilten Wirkung des Rousseauis mus, d. h. weniger aus einer Hybris als aus einer Nemesis. Jedenfalls ist daran zu erinnern, daß Rousseau bereits den Hofstil Ludwigs XVI. bestimmte, nicht erst den der Revolu tion. Etikette und Esprit der Zeit Ludwigs XV. war »succe dee de I'empire du sentiment, et par un singulier contraste, a mesure que les creurs s'ouvrent a Ia pitie, les caracteres devienntlDt plus aigres, les passions plus violentes, les haines plus tenaces« 12. Die Kleidung wurde sd:tlicht, das Benehmen bewußt einfach. Man muß die erfolgreichen Werke primär nach dem Publikum, auf das sie wirken, beurteilen und soziologisch einordnen, nicht nach der Herkunft der Verlasser, wenn anders man nicht die frühe Jugend geradezu als ein sozioX 11 Vgl. Henriette Roland-Holst, Jean-Jacques Rousseau, Dresden, 1922. G. Sabine, A history of the political theory, New York, 1950, S. 576. So audl in Peuples et Civilisations, Bd. XI, p. 567 (Muret). 11aB. de Saint-Pierre, La vie et !es ouvrages de J. J. Rousseau, ed. Souriau, Paris, 1907. tz Histoire glmerale, tome VII, p. 636, hgg. E. Lavisse, Paris, 1920-23. Vgl. dazu audl die Mitteilungen die A. de Tocqueville (L'Ancien Regime et Ia Revolution, Budl 111, Kap. V) über den veränderten Geist der Edikte Ludwigs XVI. madlt. «On doit reconnaitre qu'en France !es classes supeneures de Ia societe commencerent a se preoccuper du sort du pauvre avant que celui-ci se fit craindre d'elles ... C'etait enflammer dlaque homme en particilier par le recit de ces miseres • . . " Die Akademiefrage XIX logismes Engramm nehmen will. Übrigens ist der Knabe Rousseau dem Kleinbürgertum viel zu früh entlaufen, um es re<ht ZU kennen. Seine education sentimentale übernimmt Me. de Warens. Sie vollendet sim in den Salons der Gene ralpämtersgattinnen, am venezianismen Hof und smließlim beim Homadel. Ohne den S<hliff der Urbanität hätte er das damalige Paris nimt zu erobern vermomt. Das war nur mög lim, weil man den Sturm gegen die Raffinesse als neue Raffinesse empfand. Worin drüdct sim der gesellsmaftlime Charakter des Literatismen mehr aus als im Rhetorismen? Und gerade in der Rhetorik erwies sim Rousseau, der Rhetor gegen die Rhetorik, allen Sternen seines Jahrhunderts so überlegen. Gewiß bringt er kleinbürgerlime Wertungen mit: eine sokratisme Handwerkerfreundli<hkeit, das Pomen auf die utilite, den zur Smau getragenen Lokalpatriotismus, die Zeitknauserei und Sparsamkeit, den Optimismus, die ein wenig pharisäisme Selbstgenügsamkeit, das Behagen am Altmodismen und smließlim die uns so peinlim gewordene Tränenseligkeit. Aber diese Momente werden nimt ohne Ab simtli<hkeit verwendet. Seine Wirkung auf die französisme Feudalkultur beruht aber nimt allein auf einer subtilen Kenntnis der Pariser Verhältnisse, vielmehr auf der alles an dere als kleinbürgerlimen Bildungsskepsis, einem zielsime ren Zynismus, einer avantgardistismen Vorurteilslosigkeit, einer erotismen Verfeinerung, einer desinvolture, die dem Kleinbürger und seiner geistig befangenen Autoritätssumt am allerletzten verständlim ist. Gar nimt zu reden von dem Radikalismus, - wer hat wie Rousseau die Unters<hiede ins Extreme und ins Große gedamt? - in dem sim am ehesten seine eigentlime Zugehörigkeit zu erkennen gibt: die S<himt der großstädtismen Da<hkammerliteraten, die nimts haben und alles wollen, an die keiner denkt und die unaufgefordert für alle denken. Der Feind der Wissensmaften und Künste ist dies aus sehr gebildeten Gründen. Dem erfolglosen Kom ponisten der Oper »Les muses galantes« verhalf gerade diese Abhandlung zum Durmbrum, weil er in ihm ein erstes Fazit seines eigenen Lebenslaufs geben konnte. Sein Discours ist Erkenntnis und Bekenntnis. Er kannte Stadt und Land, Hauptstadt und Provinz, Arm und Reim, Adel und Bürger- XX Einleitung turn gleiw gut. Er hatte siw niwt nur zwiswen den Stän den, sondern auw zwiswen den Konfessionen, zwiswen den Vaterländern, zwiswen den Verfassungen und letzten Endes zwiswen germaniswem und romaniswem Wesen herumge trieben. Der Hinweis ist wiwtig, weil siw der erste Discours - im Gegensatz zum zweiten- viel mehr now aus Rousseaus eigenem Lebenslauf als aus der Problematik seines geistigen Milieus, der Enzyklopädie, ergibt. Rousseau hat den Vorgang, in dem ihm bewußt wurde, daß die Welt, in der er lebte, eine verkehrte Welt war, im zweiten Brief an Malesherbes und weniger ausführliw in den Confessions als einmalige Inspiration beswriebent2a. Swon diese Erkenntnisform ist eine Provokation für die Be weisgläubigkeit und Vereinfawungssuwt seiner Zeit. Man kann auw die Wirkung Rousseaus >>bei Hofe« niwt als eine Art von Salon-Rousseauismus abtun. Die Rehabili tierung des Primitiven, des Kindes, des Tugendhaften und des Volkes konnte nur sensationell wirken, wo sie als Aus nahme und Entdeclcung empfunden wurde. Nur auf dem höfiswen Hintergrund ist der Naive »interessant«. Er hatte immer der Swäferspiele bedurft. Auw heute now versteht der Bauer am wenigsten, was seine Kurgäste bei ihm suwen. Außerdem bleibt die rousseauistiswe Wandlung des höfiswen Geswmaclcs- d. h. das Versteclcen der Vornehmheit, die sti lisierte Natürlicltkeit -keine Mode: mit der Etikette des Versailles Ludwigs XV. sweint die gesamte europäiswe Hofkultur ihre letzte, von keiner neuen Form abgelöste Aus prägung gefunden zu haben. Offenbar hat sie siw in dieser Möglicltkeit erswöpft und Rousseaus Argumente werden mäwtig, weil er diesen Leerlauf abfängt. Von der revolutio nären Entwiclclung her gesehen, ist die naw seinem Tod im mer breiter werdende Wirkung seiner Scltriften nur daraus zu erklären, daß ihn die immer größer werdenden Miß1 1a In seinen Dialogen besdlreibt Rousseau nom einmal den Sinn der Inspiration von Vincennes, die ihn >>eine andere Welt sehen ließ, ein wahrhaftes goldenes Zeitalter, Gemeinsmaften einfamer, tu gendhafter Mensmen und voller Hoffnung seine Visionen durdl die Zerstörung der Vorurteile, die ihn selbst unterjomt hatten, ver wirklimen ließ, von denen er in diesem Moment alle Laster und Leiden des Mensmengesdllemts abhängig glaubte.« Die Akademiefrage XXI stände immer mehr ins Remt setzen. Die Radikalisierung der Lage kommt dem radikalsten Kritiker zugute. Und selbst seine Krankhaftigkeit wird in dem Maß vergessen, wie die Zeiten selbst krank werden. Nom etwas anderes kommt der Anerkennung durm den Adel entgegen. In Rousseaus Smriften ändert sim die sozia le Stoßrimtung. Im Zentrum der Kritik steht nimt der Feu daladel, sondern der Reimturn und mit ihm der reime Bür ger. Er greift jene materialistismen Steuerpämter-Salons an, die gerade mit dem Königtum im Kampf liegen. Natürlim ist Rousseau weder füt Thron nom für Altar, aber er ist nom weniger ein Freund der großen und kleinen Vermögen und des Gottes der Händler. Vielleimt hat er zuerst eher an eine Reform der Herrsmenden gedamt als an eine Revolte gegen sie. So sehr diese veränderte Stoßrimtung den kleinbürger limen Interessen gelegen gekommen ist, so sehr ist sie trotz dem aus der Literatenexistenz zu verstehen. Die Kleinbür ger speisten nimt am Tisme der Generalpämter. Tolstoi, de1 gestand, manme Seiten von Rousseau kämen ihm vor, als habe er sie selbst gesdJ.rieben, war gewiß kein Kleinbürger. X Was war beiden fremder als das kleinbürgerlime Einerseits Andererseits? Am namdrüddimsten beweist sein unglaub limer Erfolg, wie sehr er ein Zeitkind ist. Man hat viel zu viel Modernismus hineingesehen, so daß er nur als Johannes irgendeines Messias zur Geltung kam. Pfadfinder sind meist nimt Same des Publikums. Die Inhaftierung seines Freundes Diderot war der Anlaß von Rousseaus Fußmarsm von Paris nam Vincennes in der Oktoberhitze 1749. Die Höflimkeit des Hofes hatte sim wie der einmal als Farce erwiesen (Ursame war eine Stimelei in der Lettre sur Jes aveugles, die eine vornehme Dame auf sim bezogen hatte). Die Inspiration -das Wunder der Ge niereligion -darf hierbei nimt die samlimen Vorausset zungen, über die er sim nimt klar war, verdunkeln. Unmit telbares Dokument dieser Inspiration ist der in dem ersten Discours eingegangenen Prosahymnus des Fabricius. Smon aus diesem Panorama des >>anderen Universums«, das Rous seau plötzlim sah, erhellt, daß es nimt um eine psymolo- XXII Einleitung gische, nicht um eine religiösen, sondern um eine geschicht liche Wahrheit geht. Es enthält etwas, was keine von seinen Werken sonst enthält: einen Aufruf zur Tat. (Brisez ces mar bres .. . ) Und warum gerade Fabricius als Richter anrufen? Er nahm kein Geld, er verachtete den Reichtum! Was wird dem Wanderer auf seinem Weg durch den Kopf gegangen sein, bevor er die Anzeige der Dijoner Akademie im Mercure de France las? Die Empörung über Diderots Behandlung. Und außerdem jene stets wache Frage: was wird aus mir? Denn dem Entschluß, die Beantwortung zu übernehmen, geht doch wohl eine angespannte Suche voraus. Als er plötzlich in die Abgründe menschlicher Gefangen schaft schlechthin hinabblickte, sprangen zugleich seine eige nen Fesseln ab. Die Inspiration beginnt nicht nur eine Ent widdung, sie schließt auch eine ab. Sein Debut war zugleich eine Abrechnung, obwohl sie ihrem Wesen nach weder sein Ich ausdrückt, noch subjektiv ist. Er begann mit einem Nachruf, insofern sein Gedanke ihn selbst verurteilen muß. Diese Philippika gegen den Ehrgeiz wurde von dem Ehr geizigen niedergeschrieben, der sich von den Künsten und Wissenschaften ruiniert fühlte. Er fand den Erfolg, indem er den Grund seiner Erfolglosigkeit fand. Unter seinen vielen Biographen hat übrigens nur Brockerhoff 1 4 dem Umstand Beachtung geschenkt, daß Rousseau fest glaubte, er habe nur noch ein halbes Jahr zu leben, als er den Discours schrieb. Die einzigartige Kühnheit, sich just in dem Moment gegen eine jahrhundertewährende Bemühung um die wissenschaft liche Wahrheit zu stellen, als der Geist sich anschickte, in der Encyclopedie des sciences et des arts, die Summe rationalen Wissens zu addieren, entspringt einer ganz andersartigen Be drohung. Die Gegenschrift gegen die Wissenschaften erschien ein Jahr vor dem Discours preliminaire für die Wissen schaften, den D'Alembert dem ersten Band der Enzyklopädie voranstellte. Man könnte sie als eine bloße Schrecksekunde der Erkenntnis vor dem Eintritt in den rein wissenschaftlichen Ge11 Vgl. P. M. Masson, La Religion de Jean-Jacques Rousseau, 3 Bände, Paris, 1916. Bd. I, p. 165 f. Anders G. Gran, La Crise de Vincennes, Annales J. J. R. 1911. " Jean Jacques Rousseau, 3 Bände, 1863-74. Die Akademiefrage XXIII sclri<htsraum zu »verstehen« versu<hen, wenn es dabei ge blieben wäre, wenn ni<ht aus diesem Scltrift<hen si<h eine neue, no<h immer unübersehbare Struktur der Gesclri<hte entfaltet hätte. Der große Jean-Jacques desertierte hier gei stig ebenso ins Ungewisse wie einst der kleine Jean-Jacques aus seiner Vaterstadt desertiert war. Daß si<h zu glei<her Zeit, genau in der Jahrhundertmitte, ein alle Kulturgebiete dur<hziehender Sprung in ein neues Zeitalter vollzog, haben mehrere Historiker beoba<htet 15• An dieser Zeits<heide wurde die Nabels<hnur eines selbständig atmenden Ge sclri<htswesens abgetrennt. »Mit Rousseau beginnt eine neue Epome« sagt Goethe, der es mehr als jeder andere spüren mußte. Die wissens<haftli<h völlig zerriebenen idealen Werte finden unversehens einen Retter, dessen si<h viele, die Grund hätten, ni<ht mehr dankbar bewußt sind. Als er die Künste und Wissenschaften vor sein rhetorisches Standgericht stellte, verurteilte er gewissermaßen das gesamte Barodezeitalter zur Guillotine. Doch subjektive Anliegen gehen in der Inspiration auf überraschende Weise in objektiven Problemen seiner Zeit unter. Seine eigene Lage erkennt sich als Folge einer allge meinen Lage. So findet er plötzlim in si<h selbst au<h um gekehrt die Antwort auf die von der Zeit aufgegebenen Rät sel. Sein Persönliches verliert sein Privates, weil es miteins alle betrifft. Die Sonderbedingungen seines Daseins zeigen die Allgemeinbedingungen mens<hlimer Gesclrichtlicltkeit. Er hatte Jahre um Jahre wegen der Ehren der Literatur und Musik - und jener Probleme, die ihn bes<häftigten ob wohl er weder ein Ziel no<h einen Nutzen damit zu erreimen hoffte- gehungert und geopfert. Seine vielen Versuclte, sim in die Öffentlicltkeit zu drängen, waren mißglückt. Warum war er ein geistiger Wegelagerer geblieben und ein redlt loser Parasit, wenn es darauf ankam - wie ihm Freund Di15 Hermann Hettner, franz. Literaturgesdrldtte des 18. Jahrhunderts, X s. 116. Thomas Budde, Gesdrldtte der Zivilisation in England, dt. von Rit ter, 3. Band, Kap. 12. E . Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen, 1932, S. 1 mit Zitation dieser Erkenntnis bei D'Alembert, :E:lements de Ia philo sophie. XXIV Einleitung derots Verhaftung zeigte ? Er mochte an seine Behandlung bei der venetianischen Gesandtschaft denken. In der plötzlichen Wertumwertung wurden ihm seine Göt ter zu Götzen. Er durchschaute das Konventionelle der Kon ventionen. Die künstlerische Auszeichnung, die ihm als der Sinn seines Lebens vorschwebte, das Streben nach Bildung, das ihn ungeheißen erlaßt hatte, war ihm den Lohn schul dig geblieben. Wali hatte er erlangt, als er Paris, dies Para dies seiner Jungensehnsüd1te, betreten hatte ? Er wagte sich einzugestehen, was er gesehen hatte. Je näher er den Gro ßen der Welt gekommen war, desto mehr hatte er die Vor geblichkeit, ja Scheinbarkeit ilirer Erhöhung über die Be dingungen des Menschseins erkannt. Mit der Wissenschaft wuchs der Zweifel und mit der Kunst die Künstlichkeit. Die Welt war keine Hof-Welt. Er sah mit dem Auge des plutar chischen Fabricius auf dies neue Rom. Die Berührung mit x dem höheren Reich der Bildung brachte nicht jene Läute rung, an die er geglaubt hatte. Sie litten, während sie sich zu amüsieren schienen. Paris war so krank, wie er sich fühlte. Man hatte eine höhere Welt gewollt, und was hatte man er reicht? Das Bildungsbabel der Unmoral. Erbitterung und Freilieitsgefühl mischten sich in ilim. Er hatte jetzt die Spra che gefunden, in der er sagen konnte, was er fühlte. All die Gedanken, die mit ihm Jahrzehnte umgingen, fanden einen Einheitspunkt. Er brauchte nur in sich freizusetzen, was er bisher gewaltsam in sich unterdrüclct hatte. Er mußte in sich hineinhören, statt sich von dem Lärm der anderen übertönen zu lassen. Er war, so wie er gewesen war, der neue Wert. Er mußte sich getrauen, der Jean Jacques seiner Kindheit zu sein. Er war mehr als jene, weil er mehr erlebt und weniger vergessen hatte als sie. Seine Bedürfnislosigkeit sollte die Bewunderung einer Welt werden, die sie nicht verstehen konnte. Sie konnte nichts dagegen setzen. Das war ilire Schwäche. Die Höflichkeit, die Würden, das Glück, die Be ruhigung der Wissenschaften und die Zaubereien der Kün ste -lauter Feuerwerke des Ehrgeizes, lauter Papierblumen des Glüdcs. Je heiliger das Weltstadt-Ideal des jungen Strolches gewe sen war, desto desillusionierender mußte die Unheiligkeit Die Akademiefrage XXV des Weltlaufs für ihn werden. Statt sich wie die anderen klug darein zu schid<:en, wagte er zu sagen, was alle wußten und keiner auszusprechen wagte. Wozu sollte er »Vernünf tig« sein? Das war Voltaire nur allzusehr. Er war unglüd<: lich geworden, weil er zum Heuchler jener Werte geworden war, an die er selbst lange nimt mehr remt glaubte. Das Konventionelle erstid<:te das Smöpferisme. Erst in seinen späteren Erfolgen stellte sim heraus, daß er in der Tat etwas besaß, was jenen erleumteten Voltaire, Diderot, Hume fehlte : die Unmittelbarkeit seines Zugangs zu den Tiefen des Gefühls und die Selbständigkeit des Den kens. Er bedurfte nimt der Autorität und des vertrauenden Zusprums, obwohl er ein »Gefühlsmensch« zu sein schien. Seine inneren Abenteuer und Aussmweifungen übertrafen nom bei weitem seine äußeren. Das konnte ihm selbst nom nimt bewußt sein. Daher konnte er aum nimt voraussehen, daß er das wesentlimste, am eifrigsten geleugnete und wegbewiesene Anliegen sei ner Zeit getroffen hatte : den Kampf gegen den Luxus. Wie x schlau räsonnierte man mit Mandeville, Melon und Voltaire, daß die Versmwendung den Wohlstand smaffe, weil sie Geld unter die Leute brämte. Er hatte die Kühnheit zu sa gen, daß der Luxus Frankreich ruiniere. Wir können heute smwerlim verstehen, was dies Podien auf die utilite unter den exzeptionellen Bedingungen des Versailler Hofes bedeu tete. Rousseau verordnete smlemtweg das Rimtige. Die Konzentration alles Reimtums der Nation in Paris, dieser ständige Abfluß ohne Zußuß, diese vorsätzlime Versmwen dung, mußte die ganze Sinnlosigkeit dieser Veranstaltung, den Luxus überhaupt in seinem ruinösen Charakter und zu tiefst bösen Ursprung zum Symbol aller Sinnlosigkeit und Verrumtheit mamen. Was vom Luxus lebte, was mit ihm paktierte, geriet in Mißkredit. Kunst und Wissensmaft hat ten sim mitsmuldig gemamt. Das Wissen lieferte die nötigen Erfindungen, die Künste waren Mittel zum Versmwenden ge worden. So mußten Künste und Wissensmaften als Kom plizen des Luxus mitverdämtig werden, so ruinös zu sein wie er. Der platte Begriff der Nützlimkeit wurde in Wahr heit zum metaphysisdien Absolutum. So ist leimt zu beob- XXVI Einleitung amten, daß alle Streitsduiften wider ihn zwar gegen die Smuld der Bildung eifern, aber durmaus nimt die Grund lage der Kritik, nämlim die Smädlimkeit des Luxus angrei fen. Somit haben wir in dieser These die eigentlime breitere Erfolgsgrundlage. Für die Künstler und Wissensmaftler im engeren Sinn mamt der Discours publik, daß sie den Schim ten, denen sie dienten, die Gefolgsmaft aufsagen. Rousseau will lieber kein Künstler mehr sein als vom Luxus leben, wie der Künstler es muß. Infolgedessen sumt die Kunst in der Folgezeit - wie etwa unser Herder - den Ansmluß an die Volkspoesie. Zum Erfolg trug weiterhin die Fülle treffender psymolo gismer Bemerkungen bei, mit denen sim Rousseau weniger als Neuerer denn als Fortsetzer der großen moralistismen Tradition erwies. Aber die Demaskierung der Heumelei und des Zynismus kann man nom nimt als das Kennzeimen Raus seaus nehmen. Seine Einwände gegen die Weltlicllkeit un tersmeiden sim hömstens in der Begründung von denen des Christentums. Diese untheologisme Neubegründung gibt al lerdings der Kritik der weltmännismen Moral neuen Glanz und neues Remt. Smarfe Kritik sprimt zwar für den Geist eines Autors, aber sie reißt nimt mit. Im Discours trat etwas Neues, Positiv�s hinzu, das die Darstellung von der ersten Seite an trug, und den Leser nimt niederdrückte, sondern entflammte. Der Erfolg der Kulturkritik war nur der letzte Smrei des Barock, aber die Begeisterung für die Tugend war smon der erste Smrei einer neugeborenen Zeit. Ausgeremnet dieses Dokument eines Philosophierens aus dem Erlebnis, steht im Verdamt, ein gelungener Literaten ulk, ein »Meisterwerk des Zufalls« (Helvetius) zu sein. Mar montel 1 6, Morellet 17 sowie scllließlim - nimt so klar 18 - Di derot selbst berimten, Rousseau habe Diderot, als er zu diesem kam, lediglim berimtet, er wollte die Preisfrage der Akademie beantworten. Auf Diderots Frage, ob er sie beja hen oder verneinen wolle, habe er entgegnet: natürlim bejau X 17 •• Marmontel, Memoires, tome I. dtap. VIII, Paris, 1884. Morellet, Memoires, Paris, 1822, p. 119 f. Diderot, Refutation de l'ouvrage d'Helvetius intitule L'Homme ed. Assezat II, p. 286, 292, 316. Die Akademiefrage XXVII hen. Erst Diderot habe ihm den Wink gegeben, man müsse das Gegenteil vom Erwarteten sagen, wenn man Erfolg ha ben wolle. Man hat nun aus den frühesten Publikationen Rousseaus, namentlich dem f: pitre ä Bordes von · 1743, den Beweis zu führen versucht, daß er schon lange vorher in die ser Richtung nachgedacht hatte. Noch stichhaltiger ist indes sen der Beweis, daß im ersten . Discours bereits alle Grund intentionen der späteren Hauptwerke versammelt sind. Sind alle späteren Werke Früchte dieses Keims, so zeugt dies or ganische Wachstum nur zu gut gegen einen bloßen literari schen Effekt. Ü brigens : wenn nicht bestritten wird, daß Rousseau bereits mit dem Entschluß zu Diderot kam, die Preisfrage zu behandeln, mußte er doch schon unterwegs diesen Entschluß auf Grund einer Vorstellung der Proble matik gefaßt haben. Der erfolgte Entschluß spricht für die erfolgte Inspiration. - Die Grundsätzlichkeit dieses Ent schlusses liegt schon darin, daß Rousseau noch nie vorher auf philosophischem Gebiet zu arbeiten versucht hatte. Noch befremdlicher ist Rousseaus Bemerkung in den Be kenntnissen, als er plötzlich von der Preisverleihung gehört habe, habe er den Discours längst vergessen gehabt. Das käme einer geistigen Kinderaussetzung gleich, denn ein Philosoph, der seinen Gedanken beiseite schiebt, desavou iert sich selbst. Jedoch die Bekenntnisse verfechten die These, sein erster Erfolg sei der Quell all seines Unglücks. Daher tut der Rousseau der Bekenntnisse alles, um zu be weisen, daß ihn ein Erfolg, den er nicht selbst gewollt, ver führt habe. Warum bemerkte man nicht sofort, daß das Vorwort zum ersten Discours ihn selbst Lügen straft? Dort heißt es, er habe seine Schrift nach der Einreichung umge arbeitet. Diese Weiterbearbeitungen sind zwar nur in den Anmerkungen greifbar, bilden aber vermutlich das Gerüst der verschiedenen Erwiderungen. Viel schwieriger ist zu entscheiden, ob die Front gegen Kunst und Wissenschaft im engeren Sinn sich aus der Natur der Sache d. h. seines Gedankens, der hier inspiratorisch an den Tag trat, ergibt oder eine bloß vom gestellten Thema veranlaßte Wendung zeigt. Vielleicht war die Preisfrage nur ein Katalysator der Inspiration. Seine Eigenart zeichnet sich ·
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