Jean-Jacques Rousseau Schriften zur Kulturkritik

Philosophische Bibliothek · BoD
In den beiden Streitschriften „Über Kunst und Wissenschaft“
(1750) und „Über den Ursprung der Ungleichheit unter den
Menschen“ (1755) entwickelt Rousseau (1712–1778) den Grundgedanken seiner radikalen Kultur- und Zivilisationskritik. Die
Entfaltung des Verstandes und die Entstehung des Eigentums
brandmarkt er als Ursachen für die Ausbildung der gesellschaftlichen Ungleichheit unter den Menschen und setzt so ein
erstes Signal für die Freiheits- und Gleichheitsforderungen der
Revolution von 1789.
Jean-Jacques Rousseau
Schriften zur Kulturkritik
Über den Ursprung der Ungleichheit
unter den Menschen
Französisch – Deutsch
Rousseau Schriften zur Kulturkritik
Französisch
Deutsch
Über Kunst und Wissenschaft (1750)
ISBN 978-3-7873-1200-9
243
Meiner
JEAN-JACQUES ROUSSEAU
Schriften zur Kulturkritik
FELIX MEINER VERLAG
HAMBURG
JEAN-JACQUES ROUSSEAU
Über Kunst
und Wissenschaft
(1750)
Über den Ursprung
der Ungleichheit
unter den Menschen
(1755)
Eingeleitet, übersetzt und herausgegeben
von
Kurt Weigand
FELIX MEINER VERLAG
HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 243
1955 Erste Auflage
1964 Unveränderter Nachdruck unter dem Titel
»Schriften zur Kulturkritik«
1971 Zweite, erweiterte und durchgesehene Auflage
1978 Dritte, durchgesehene Auflage
1983 Vierte, erweiterte Auflage
1995 Fünfte Auflage
Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes,
inhaltlich mit der 5. Auflage von 1995 identisches Exemplar.
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ISBN: 978-3-7873-1200-9
ISBN eBook: 978-3-7873-3156-7
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INHALT
Vorwort
zur fünften Auflage
V
Einleitung: Rauaseaus negative Historik
Von Kurt Weigand
.
VII
Der Rousseauismus
Die Akademiefrage
Rousseaus Gesetz
Die Streitsduiften
Der Tugendbegriff
Der Naturbegriff
Negative Historik
Namwirkungen .
Vorgänger.
VII
XV
XXVIII
XXXIX
XLVIII
LIII
LVI
LXII
LXIV
[Ergänzung zur zweiten Auflage:] Die überwundene
Natur .
LXX
Rousseaus Leben
LXXX
Jean-Jaques Rousseau
Discours qui a remporte le prix a l'academie de Dijon en l'annee
1750 ( Originaltitel des ersten Dislcurs}
Preface
Vorwort
·
2
3
Abhandlung über die Frage: 11at der Wiederaufstieg
der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der
Sitten beigetragen?
Premiere partie
Erster Teil
Secende partie
Zweiter Teil .
5
6
7
28
29
Discours sur l'origine et les fondements de l'inegalite -parmi
les hommes ( Originaltitel des zweiten Diskurs}
62
63
Preface
Vorwort
Abhandlung aber den Urs-prung und die Grundlagen
der Ungleichheit unter den Menschen
Premiere partie
Erster Teil
Seconde partie
Zweiter Teil
77
82
83
190
191
Beilagen:
Brief an Philopolis (französismldeutsm)
269
Vom Geselligkeitszustand des Mensdtengesdtledtts überhaupt (französiscli/deutsm)
285
Brief Voltaires an Rousseau, 30. August 1755
(französisch/deutsch) .
Antwort, 10. September 1755 (französism/deutsm).
301
309
Zusätze zum Diskurs über die Ungleidtheit. Aus
Rousseaus Nadtlaß
317
Anmerkungen des Herausgebers
319
Erster Diskurs Erster Teil
319
·
Erster Diskurs Zweiter Teil
.
323
Zweiter Diskurs Erster Teil
.
327
·
·
Zweiter Diskurs Zweiter Teil
333
Zu Rousseaus Noten zum zweiten Diskurs
338
·
Zu den Beilagen
.
341
Anhang zur zweiten Auflage
345
Anhang zur vierten Auflage
365
Namenregister
371
Sachregister
374
VORWORT ZUR FÜNFTENAUFLAGE
Unter dem Titel >>Schriften zur Kulturkritik<< führte Kurt Wei­
gand in seiner, jetzt in fünfterAuflage vorliegenden, zweisprachi­
gen Studienausgabe die beiden großen Diskurse zusammen, die
Rousseau 1750 und 1755 als Antworten auf die Preisfragen der
Akademie von Dijon verfaßte. Textgrundlage für die Wiedergabe
und Übersetzung des ersten (preisgekrönten)
sciences et les arts,
Discours sur les
mit dem der bis dahin unbekannte Rousseau
1750 über Nacht seinen Ruhm begründete, bot derAbdruck in der
Ausgabe der
CEuvres completes,
hg. V. D. Musset-Pathay, Paris
1823-1826. Grundlage für die Textgestalt des zweiten (nicht preis­
Discours sur l'origine de l'inegalite parmi les hommes
The Politi­
cal Writings of Jean-Jaques Rousseau, hg. M. C. Vaughan, Cam­
gekrönten)
bildete dagegen die Edition des französischen Textes in
bridge 1915.
Da der
Discours sur l'inegalite
zwischenzeitlich erstmalig auch
in einer >>Kritischen Ausgabe« vorgelegt wurde (hg. H. Meier,
Paderborn 1984), war es geboten, vor der Neuauflage dieses Ban­
des den aus derAusgabe Vaughan übernommenen französischen
Text anhand derAusgabe Meier durchzusehen und zu überprüfen.
Meier legt den Wortlaut der Erstausgabe des Discours,Amsterdam
1755, zugrunde und zieht die Abweichungen und Zusätze der
postumen Edition durch P. Moulton und P. Du Peyron in der
Collection complete des reuvres de J. J. Rousseau, Genf 1782, korri­
gierend hinzu; Vaughan wählte dieAusgabe von 178 2, die auf das
heute verschollene Manuskript und das Handexemplar mit den
Eintragungen Rousseaus gestützt war, zum Leittext, griff aber auch
auf die Erstausgabe zurück, ohne dies eigens zu verzeichnen. Die
Durchsicht ergab, daß der von Weigand aus derAusgabe Vaughan
übernommene Text in Schreibung und Interpunktion der von
Meier vorgelegten kritischen Edition nicht nachsteht.
Im Unterschied zu Meier hat Weigand in seinerAusgabe dem
Discours
von 1755 die einleitende ••Dedicace a Ia Republique de
Geneve« nicht beigefügt und die Anmerkungen (Noten) Rous­
seaus, die in der Erstausgabe dem Text nachgestellt sind, jeweils
unter den Seiten plaziert (siehe dazu die >>Hinweise des Herausge­
bers«, S. 318 dieserAusgabe). Da dieseAbweichungen dem Zweck
VI
Vmwort
der Studienausgabe, die sich nicht als kritische Edition versteht,
sondern einen korrekten L esetext nebst stilsicherer Übersetzung
darbieten
will,
keinen Abbruch tun, stand nach der erfolgten
Durchsicht einer im Textbestand unveränderten Neuauflage der
von Kurt Weigand herausgegebenen und umfassend kommentier­
ten >>Schriften zur Kulturkritik<< nichts im Wege.
Der Verlag
EINLEITUNG
Hausseaus negative Historik
DER ROUSSEAUISMUS
Hätten die von Rousseau in seinen beiden Diskursen auf­
geworfenen Fragen auch zu anderen Zeiten so sensationell
gewirkt wie um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris?
Nur zu gewissen Zeiten, und das verweist auf historische
Bedingungen. Trotzdem sind die von ihm verhandelten Pro­
bleme mehr als eine bloß zeitbedingte radikale Kritik der
französischen Hofkultur. Die Debatte über Nutzen und
Nachteil der Kultur ist keine aus der Mode gekommene
Sensation. Es ist eine berechtigte Frage, ob seitdem beim
Bereden der Kulturkrise überhaupt noch neue Argumente
aufgetaucht sind. Schon deshalb ist es wichtig, den bei uns
verschollenen Grundtext der modernen Kulturkritik neu zu
lesen. Vielleicht wird mancher Originalitätsanspruch dabei
fadenscheinig.
Die rousseauistische Bewegung, welche die beiden Schriften
einleiteten, ist weder ein einmaliger noch ein privater Pro­
test, denn die Wendung einer Kultur gegen ihren eigenen
Wert oder gegen die Kultur schlechthin können wir in vie­
len Kulturkreisen, Epochen und Persönlichkeiten verfolgen t.
Die Argumente gegen die Zivilisation müssen eine geheime
Folgerichtigkeit besitzen. DasAuftreten dessen, was wir Rous­
seauismus nennen, hat sowohl etwas Übergeschichtliches wie
etwas Geschichtliches. Einerseits begleitet er den Kultur­
fortschritt wie etwa der Skeptizismus ewig den Dogmatis­
mus. Andererseits ist er selber ein Zeitzeichen, das Wesent­
liches über den Charakter einer Epoche aussagt.
Daraus erklärt sich, warum die Gedanken Rousseaus so
leicht bei vielen Denkern vor ihm und nach ihm nachzuwei1
Vgl. einseitig bei B. Hazzlitt, Rousseau and Romanticism, New York X
1914.
Jacques Maritain, Trois reformateurs, Paris, 1925.
J. F. Nourisson, J. ]. Rousseau et le rousseauisme, Paris, 1903.
J. Texte, Rousseau et les origines du cosmopolitisme litteraire, Paris,
1895.
VIII
Einleitung
sen sind. Daraus erklärt sich aber auch, waruni alle Quellen
und geistige Nachbarschaften so unzulängliche Beweisstüd<e
gegen seine Originalität sind. Daraus erklärt sich schließlich,
warum noch zweihundert Jahre nach seinem Tod genau so
viel Bücher gegen ihn wie für ihn geschrieben werden 1• Es
handelt sich hierbei nicht um eine literarische Delikatesse,
sondern um ein elementares Geschiehtserieben ersten Ran­
ges. Der Kaiser Diocletian war ni<ht der erste, der seinen
Garten dem Imperium vorzog. In China ließ der Kaiser Ho­
ang-ti aus rousseauistischen Gründen die Bü<her verbrennen
und Dschuang-dsi schrieb Seiten, die bei Rousseau stehen
könnten. Auf Übereinstimmungen zwischen der Stellung
Buddhas in Indien, Sokrates' in der Antike und Rousseaus
bei uns hat Spengler3 hingewiesen, der in allendreienjeweils
den Übergang einer Kultur in ihre Zivilisation - nach ihm:
das Klimakterium einer Kultur - markiert sah. Spengler be­
da<hte allerdings nicht, in welchem Maß der erste Discours als die erste Behandlung des Dekadenzproblems - bereits
sein Bu<h in nuce enthält. No<h weniger beda<hte er, wie
sehr seine Kritik an Rousseau eine Kritik an seiner eigenen
Bemühung ist. Was Spengler zugunsten des Lebens gegen
den Verstand vorbringt, setzt schon die Na<hwirkung von
Rousseaus Werk voraus. Vieles, was Rousseau in die De­
batte bra<hte, ist längst anonymes Gedankengut geworden,
zumal die Historiker unter ihm meist nur den Verfasser des
Contrat social verstanden. Infolgedessen gibt es viele Rous­
seauisten, die gar nicht wissen, daß sie es sind. Unsere mei­
sten Kulturkritiker sind nichts anderes als dritte und vierte
Wellen des Rousseauismus, und zwar im Grundgedanken,
nicht nur in einigen Ansichten.
Wenn es in sein S<hema gepaßt hätte, müßte Spengler
auch auf Salomon, die Bergpredigt, auf Dil<aiar<h, Antiphon,
2
a
Am bekanntesten Jules Lemaitre, Rousseau, Paris, 1907.
�.Pengler, Der Untergang des Abendlands, Bd. 1, Kap. V, II.
Ubrigens taumt in der Vorrede zur Nouvelle Heloise die Rede vom
»Untergang Europas« zuerst auf.
Der in Spanien lebende arabisme Philosoph Abubaker (Ibn Trofail
t 1 138) smneb den philosophismen Roman »Der Lebende, Sohn
des Wamenden«, der eine Art von arabismem E:mile darstellt. Der
Roman wurde unter dem Titel »Der Naturmensm« 1783 von Eim­
hom ins Deutsme übersetzt.
Der Rousseauismus
IX
die Zyniker, auf Stoiker wie PoseidoDios und Seneca, auf
Dion Chrysostomos, auf Franz von Assisi, auf Montaigne,
auf Agrippa von Nettesheim vor und Karlstadt während der
Reformation, auf Winstantley und die englischen Diggers
etc. hinweisen müssen. Einen anderen Montaigne-Leser:
Shakespeare, den Dichter des »Timon«, des »Wintermär­
mens« nicht zu vergessen. Jener melancholische Jacques in
»Wie es euch gefällt« gleicht nur zu sehr jenem Jean-Jacques,
mit dem wir es zu tun haben. Daß Rousseau im ersten Dis­
cours so etwas wie die Inaugural-Dissertation der >>deutschen
Bewegung« schrieb, war einmal bekannt. Seitdem Nietzsme
ihn als eine >>Mißgeburt, die sich an die Schwelle der neuen
Zeit gelagert hat« 4 abgefertigt hatte, wurde Rousseau von
der deutschen Lebensphilosophie wie ein unerwünschter Ver­
wandter behandelt. Im übrigen schrieb dann Tolstoi viele
seiner Lehren auf seinen Namen um.
Dennoch nimmt derselbe Nietzsme in der deutschen Gei­
stesgeschichte eine ähnliche Stelle ein wie Rousseau in der
französischen. Die Selbstvemeinung, die Rousseau in Bezug
auf die französische Klassik darstellt, bezeichnet Nietzsme in
Bezug auf die deutsche Klassik. Deshalb gilt Rousseau in
Frankreim als ein germanischer und protestantischer Exote,
während unser Nietzsme die Kultur des Voltaire wieder zu
Ehren gebracht hat. Beide untersmeiden sich mehr in der
Therapie als in der Diagnose. So sehr ihre Lehren als Mo­
ralismus und Immoralismus antipodism sind, so sehr über­
schneiden sich die Bonte naturelle und die Unschuld des
Werdens.
So ist denn Rousseaus Anliegen keineswegs mit Napoleon
liquidiert worden. Im Gegenteil: er wurde der Vater zweier
sehr feindlicher Brüder, des Sozialismus und der Romantik.
Auf der einen Seite könnte man ihn geradezu als Marxismus
im Stadium des Feudalismus definieren. Auf der anderen
Seite ist er der beredte Stifter der Gegenaufklärung. Im
ersten Discours ruft er nach religion et patrie, im zweiten Dis­
cours nach egalite und liberte, ohne daß man bisher für diese
sonderbare Personalunion die tieferliegende Realunion aufge4
Nietzsdte, Götzendämrnerung, Streifzüge 48.
x
X
Einleitung
wiesen hätte. Ohne diesen Aufweis müssen die Argumente
gegen Rousseau, die sich bald auf diesen, bald auf jenen
Aspekt seines Werkes beziehen, im Kreis gehen. Wenn die
meisten seiner selbstsicheren Kritiker wüßten, was alles sie
mit ablehnen, wenn sie nur ihn abzulehnen glauben, wären
sie vorsichtiger. Das Junktim zwischen vielen seiner Grund­
thesen und den Rechtsgrundlagen der Demokratie, der Er­
lebnisdichtung, des sozialen Denkens, zugleich aber au<h
des Nationalstaats und der Restauration >wesserer« Zeiten,
zeigt, in welche geistigen Entscheidungen er uns verwidcelt.
Die allgemeinste Voraussetzung des Rousseauismus ist
eine bis an den Rand ihrer Möglichkeiten vollentwidcelte,
überreife Kultur. Fichte 5 traf es, als er bemerkte, daß Rous­
seau eine vorhandene Kultur voraussetzen muß, bevor er
über sie reflektieren kann. Diese Voraussetzung einer Reife
gilt sowohl objektiv wie subjektiv, sowohl für die Breiten­
wirkung seines Werks wie für seine Konzeption: sie ist un­
denkbar ohne die reichen, ja abenteuerlichen Lebenserfah­
rungen Rousseaus. In der Tat sind die beiden Discours so
wenig Frühwerke im üblichen Sinn, so wenig sie Werke
eines jugendlichen Anfängers sind. Wir dürfen sie nicht in
den Schatten der folgenden Hauptwerke stellen, da Rousseau
in ihnen einen Themenkreis so entscheidend zuende denkt,
daß er nicht mehr darauf zurodezukommen braucht: die Ge­
schichte. Insofern die zwei Discours den Eingang in Rous­
seaus Philosophie bilden, führt der Zugang zu ihr durch eine
neue geschichtsphilosophische Vision.
Was aber ist nun das gemeinsame Anliegen all der viel­
fältigen Formen des Rousseauismus, der an bestimmten Stel­
len der Kulturentwidclung immer wieder spielverderbend da­
zwischentritt? Und wenn nicht eine These, welches Grund­
gefühl zumindest verschafft sich darin Ausdrudc? Es ist eine
Verkehrung der »normalen« Einstellung zur Kultur. Norma­
lerweise schätzt der Mensch Menschen und Werke umso hö­
her, je kultivierter sie sind. Er verehrt in der Bildung, in der
Gesittung, in der Technik die Überwindung und die Distanz
zur Natur. In diesem Abstand von der Natur sieht der Rous5
J. G. Fimte, Ober die Bestimmung des Gelehrten, 5. Vorlesung.
Der Rousseauismus
XI
seauist nun gerade den Mangel: er mißt in diesem Abstand
die Entfernung der Dinge von ihrem Ursprung und ihrer
Ursprünglicllkeit. Er sieht plötzlich nicht mehr das Erreichte,
sondern das Verlorene. Von wo ·sich der normale Mensch
aufzusChwingen suchte, dahin tastet sich der Rousseauist zu­
rü<k. In dieser Umwertung der Werte- der Schätzung nach
ihrer Natürlichkeit statt nach ihrer Künstlichkeit -verrät
sich entweder eine Perversion des Erlebens oder die Des­
illusionierung einer »Lebenslüge«. Demnach entstammt sie
entweder einer zivilisatorischen Übersättigung oder der Em­
pörung des Getäuschten. Aus dem ersteren geht die Suche
nach anderen Reizen hervor, aus demletzterender Impuls zur
Schaffung einer echteren Kultur. Diesem liegt eine Ausein­
andersetzung mit den tatsächlichen Dekadenzerscheinungen
einer Epoche zugrunde, die ganz unabhängig von Gefühls­
zuständen und Geschmad<:sverkehrungen ist. In jenem ent­
kommt eine überrundete und erstarrende Kultur sichselbstin
einen Exotismus, der ihr neue Motive zuführt. Insofern
kommt darin eine oft längst in ihr angelegteTendenz auf ihren
Höhepunkt. In Bezug auf Rousseau selbst leseman z.B.in den
Femmes savantes von Moliere aufmerksam die Szenen zwi­
schen dem Gelehrten Vadius und dem Dichter Trissotin und
die zwischen diesem und dem »natürlichen« Jüngling Cli­
tandre, wenn man die Vodormen dieser Kulturkritik mit
Händen greifen will. Allerdings dad man mit Vergleichen
nicht zu weit gehen, denn in jedweder großen künstlerischen,
wissenschaftlichen und religiösen Selbstbesinnung ist eine
rousseauistische Komponente mitbeteiligt. Jeder Rü<kgriff
auf die Natur einer Sache ist ein Rü<kgriff auf die Sache der
Natur. Daher ist das Ideen-Ensemble, das der Rousseauis­
mus als solcher ausbildet, schwer einzugrenzen. Schon aus
der Doppelheit der Gefühle, denen er entspringt, erhellt im
übrigen, daß er sowohl die herrschenden Schichten wie das
Volk erlassen kann.
Ganz beiläufig hat Rousseau einmal im 8. Buch seiner
Confesslons gestanden: »Ich war so gelangweilt von Salons,
Springbrunnen, Bosketts, Gartenbeeten und den noch lang­
weiligeren Besitzern alles dessen; ich war so übersättigt von
Broschüren, Klavieren; L'Hombrespiel, Theaterverwiddun-
x
XII
Einleitung
gen, törichten Bonmots, fader Ziererei, kleinen Schwätzern
und großen Soupers. Wenn ich einen verstohlenen Seiten­
blide auf einen einfachen, armseligen Dornbusch, eine Hedce,
eine Scheune, eine Wiese warf, wenn ich durch ein Dörfchen
kam und den Duft eines Omeletts roch, wenn ich von wei­
tem den ländlichen Kehrreim der Lieder der Ziegenhirtin­
nen hörte, dann wünschte ich Schminke, Bänder und Ambra
zum Teufel ...« Dieses Grundgefiihl, das jedem Sommer­
frischler heute vertraut ist, tritt uns hier in welthistorischer
Aktion entgegen. Aber wenn man es als das pervertierte
Empfinden eines überreiztenÄstbeten auffaßt, sieht man nur
seine eine Seite.Dieses Gefühl setzt subtile Kennerschaft vor­
aus, denn nur mit dieser bildet sich der Sinn für das Unechte
des Künstlichen aus.Es tritt zuerst bei den sich ihrer Sonder­
stellung bewußt werdenden Künstlern auf. Man denke an
Thomas Manns Geständnisse 6 über die Sehnsucht des exzep­
tionellen Mensmen nach den »Wonnen der Gewöhnlich­
keit«. Der vom Künstler geforderte Lebensverzicht zugun­
sten des Werks, kami allein nicht jene kalten Ekstasen er­
klären. Dieser Erkenntnisekel erlaßt auch Menschen ohne
jene »schöpferische Qual«, den skeptischen Gelehrten, den
routinierten Hofmann, den seiner Maskenhaftigkeit bewuß­
ten Würdenträger. Die »Glaswand« kann unter bestimmten
historischen Bedingungen eine ganze Elite vom Leben sepa­
rieren. Je exklusiver die Stellung im Leben wird, desto ex­
klusiver wird auch die Stellung zum Leben. Nicht von unge­
fähr gerät ihre Lebensform in eine dem Künstlerdasein ähn­
liche Situation� Der Abstand zwischen ihrem natürlichen We­
sen und ihrer gesellschaftlichen »Rolle« erweitert sich so
sehr, daß sie mehr »Spielen« als »leben«. So scheint die ver­
geistigte Begier nach Leben einem lebensleeren Herzen zu
entwachsen. Dennoch werden wir des Rousseauismus' noch
nicht in einem sogestaltigen taedium vitae habhaft.Seine an­
dere Seite ist die bohrende Einsicht, daß die Wissenschaft
nicht das geben kann, was sie zu geben vorgibt. Erst der
8
In der Novelle »Tonio Kröger«.
Ober die Motive der antiken Bukolik vgl. B. Snell, Arkadien, die
Entdedrung einer geistigen Landsmaft in: Die Entdedc:ung des
Geistes, Hantburg, 1946.
Der Rousseauismus
XIII
Zweifel des Erkennens macht das besagte Grundgefühl zu
jener Verzweiflung, die zur Revolte gegen die »Gesellschaft<<
wird. Und was bei diesem Vorgang Grund und was Folge
ist, die Unbefriedigung des Wissens oder die Verkehrung des
Gefühls, verhüllt sich.
Die erste Szene von Goethes Faust projiziert namentlich
das andere Grunderleben des Rousseauismus, den Umschlag
von Bildungsstolz in Bildungsenttäusmung, in die hohe dich­
terische Form. Man muß nur hinter den Butzenscheiben des
ausgehenden Mittelalters die Problematik des 18. Jahrhun­
derts beobachten. Zwar treibt der vorgegebene Handlungs­
verlauf Faust in die Arme der Magie, jedoch in Wahrheit be­
schreibt der Dichter nicht die Sehnsucht nach Geistern, son­
dern nach der Natur: »aml könnt im doch auf Bergeshöhn ... «
Nicht nur die Wissenschaft im allgemeinen wird zum Ker­
ker, sondern auch die Studierstube im besonderen. In die
Verzweiflung »daß wir nichts wissen können« mischt sich
eine Stimmung erhabener Blasiertheit, die nach einer durch­
aus unmagismen Naivität hinstrebt, so daß sich Faust nicht
die Macht des Wissens vom Teufel erbitte!,. sondern Gret­
chen. Daß sich diese Szene unter negativem Vorzeichen in
der Schülerszene wiederholt, zeigt bereits die Gefahr
dieses Zustandes. Es ist hier nämlich der Teufel, der den
Schüler Init denselben Gründen verspottet, Init denen Faust
seinen wissensgläubigen Famulus zuBett geschidct hatte. Die
Teufelei liegt in der Erschleichung dieses Grundgefühls,
um den Menschen um seine »allerhöchste Kraft« zu bringen.
Auch diese Morbidität ist mit ihren Wurzeln in das Erdreim
einer historischen Entwidclung eingesenkt.
Vielleimt liegt nicht bereits in diesen Dispositionen, son­
dern erst in einer spezißsmen Wendung von der Leere zur
verstärkten Empfindung für die Schönheit des Kraftvollen,
Frischen und Naiven, die Schwärmerei für das goldene
Zeitalter und das »einfache Leben«, die sich aus dem
Quellen der unausgelösmten eigenen Jugend speist. Diese
speziellere Wendung zeigen z. B. noch nicht Ibsen und Th.
Mann, sondern erst Hamsun.
Übrigens ist in der heutigen Existentialphilosophie eine
rousseauistisme Wurzel nicht zu übersehen. In dem neutra-
x
XIV
Einleitung
len »man« wird die societe in jene Rolle der Uneigentlim­
keit gedrängt, die wir kennenlernten. Und die Eigentlim­
keit, in welcher der Mensch en-soi und nicht mehr hors de
lui-meme ist, entspricht ihrer Funktion nach der Bonte na­
turelle. Es ist durmaus zu diskutieren, ob nicht in der Angst
die Verfremdung in der Zivilisation ontologisch umschrieben
wird, und ob nicht das Naturverstehen als Seinsverstehen
wiederkehrt. Die »Existenz« stößt so folgerichtig zum »Sein«
vor wie einst die »Tugend« zur >>Natur«. Und ebenso folge­
richtig wurde aus dem Fortschritt zur Wissenschaft eine
Seinsvergessenheit wie einst eine Naturvergessenheit. In
diesem Zusammenhang kommt an den Tag, wieso der rous­
seauistisme Hölderlin ein Mittler zwischen Rousseau und·
unserer Zeit zu werden vermochte.
Bei der Allgemeinheit des Grundgefühls des Rousseauis­
mus sind die Lehren Rousseaus im besonderen von vielen
konkreten Einzelbedingungen abhängig. Zu diesen Sonder­
bedingungen gehören die absolute Monarchie, das Rokoko,
der Katholizismus, der gleichgeschaltete Adel, die Person
Ludwigs XV. und seine Schwäche für Erotik und Etikette.
Die souderbarste der Bedingungen ist Rousseaus niedrige
Herkunft. Er ist nicht einmal ein Graf wie sein Schüler Tol­
stoi. Es liegt am Rousseauismus als solchem und nicht, wie
man vielfach meint, an der Person Rousseau, daß zwischen
dem, was er selbst ist und dem, was er will, ein Bruch ver­
läuft. Er wird in dem Paradoxon sichtbar, daß man das, was
man ist, verneint und gerade aus der Kraft der Opposition
zu sich selbst schöpferisch wird. Daher steht er zwischen
Selbstanklage und Selbstverteidigung. Der Sprung vom Al­
ten ins Neue wird von jenen Menschen gewagt, welche die
Spannung zwischen beidem aushalten müssen. Zu den kon­
kreten Umständen, die bei ihm das Allgemeine abändern,
gehört vor allem die Barock-Kultur, aus der seine Kritik
erwuchs und auf die sie bezogen bleibt. Insofern ist Rous­
seau selbst sozusagen ein Sonderfall des Rousseauismus.
Er tat ein übriges: er unternahm in immer neuen Werken
die Frumtbarmamung dieser Erkenntnisse für die Gesell­
schaft, wie sie geworden ist. Er versuchte eine Methode, um
für den einzelnen, die Familie, den Staat inmitten der Kul-
Die Akademiefrage
XV
tur eine höhere, reflektierte Natürli<hkeit zu ersmließen. Ge- X
wiß mag uns manfies Künstlime dieses Verfahrens etwa
vorkommen, als liefere es statt rohen Frümten eine Konfi­
türe. Gewiß ist es weniger ein RüdcsclJ.ritt zur Natur als ein
FortsclJ.ritt zu einer nom größeren Raffinesse der Gesittung.
Indessen trat gerade damit Rousseau aus der bloßen Kritik
heraus und wurde zum Stimulans des FortsclJ.ritts.
DIE AKADEMIEFRAGE
Als die Akademie von Dijon 1750 unter den auf ihre Preis­
frage >>Ob die Erneuerung der Wissensmaften und Künste da­
zu beigetragen habe, die Sitten zu bessern« eingegangenen 30
Smriften die Abhandlung des bis dahin unbekannten 38jäh­
rigen Pariser Literaten Jean Jacques Rousseau preiskrönte,
verhalf sie nimt nur einem Abenteurer zum plötzlimen Ruhm.
Sie leitete einen welthistorismen Sturm ein, dessen Wellen
immer mämtiger gegen Mauem der Traditionen brandet.
further triumph the future has to offer to his ghost
I dare not venture to predict« ruft Lord RusseF aus.
» What
Die Akademie hatte auf ihre im damaligen Modestil gehaltene Frage wohl keine so. kühne und grundsätzlime Ant­
worter wartet, vielmehr damte sie an ein Abwägen der Bedeu­
tung der Renaissance s. Trotzdem wa� die Frage - wie alle
Fragen dieser entsmeidenden Zeit - kühn und forderte eine
nom kühnere Antwort heraus. Woher aber nahm sie den
nom größeren Mut, diese Antwort zu krönen? Irgendwie
mußte sim das Anliegen des Genfers mit dem der Dijoner
berühren. Rousseau setzte die Provinz ins Remt. Der heim­
lime Aufstand gegen Paris lauert dahinter. Die historisme
Frage versinnfälligte sim an einer geographismen. Ohne Pa­
ris hätte man die Frage nimt stellen und nom weniger da­
mals ohne intime Kenntnis von Paris so radikal-evident be7 B. Russell, History of western philosophy, New York, 1948, S. 701.
Vielleimt damte sie aum an den Sqeit zwismen den Anciens und
den Modernes, der von Perrault und Fantenelle gegen Ende des 17.
Jahrhunderts auf literllrismem Gebiet entfesselt worden war.
vgl. F. C. Green, Rousseau and the idea of progress, London, 1943.
s
x
XVI
Einleitung
antworten können. Denn was anders als ihre Evidenz ließ
ihr einen so ungeheuren Erfolg zuteil werden, daß sofort
eine Fülle von direkten und indirekten Verteidigungsschrif­
ten erschien. Im Mercure de France wurden die »Observa­
tions sur le discours, qui a remporte le prix .. ,« anonym ver­
öffentlicht. Rousseau antwortete dem Verfasser, dem Abbe
Raynal, in einem Brief. In einem weiteren Brief an M.
Grimm antwortet er auf die·Refutation des Mathematikprox
fessors Gautier. Für die Sorbonne schrieb der Rhetorikpro­
fessor Le Roi in lateinischer Sprache einen Discours über die
Vorteile der Wissenschaften. Außerdem erschien eine Refu­
tation, die angeblich von einem Mitglied der Dijoner Akade­
mie stammen sollte, das gegen die Preisverleihung gestimmt
hatte. Nachdem die Dijoner Akademie dies dementiert hatte,
bekannte sich ein gewisser Le Cat, Sekretär der Akademie zu
Rouen, als Verfasser. Als dann der Polenkönig Stanislaus
Leszczynski, der Schwiegervater Ludwigs XV., eine Reponse
veröffentlichte, die vermutlich von einem Jesuiten mitverfaßt
worden war, wurde die Kontroverse hoffähig. Rousseau ant­
wortete in einer nicht minder glanzvollen Schrift (Reponse
a Stanislas) »Ich habe meinen Teil« soll der König gesagt
haben. Ebenso gewichtig wurde der >>Discours sur les avan­
tages des sciences et des arts« von Rousseaus Lyoner Freund
Bordes. Rousseau setzte sich damit in einer Derniere Re­
ponse, die von Zeitgenossen für besser als der Discours ge­
halten wurde, auseinander, in der er gleichzeitig ankündigte,
er werde nun niemand mehr antworten. Bordes indessen
schrieb einen >>Second Discours sur les avantages des scien­
ces et des arts«. Rousseau erwiderte in der Tat nichts, jedoch
man kann das Vorwort, das Rousseau der Ausgabe seiner
Komödie >>Narcisse« voranstellte, für eine indirekte Erwide­
rung nehmen. (Resumee de Ia querelle et declaration de
ses sentiments.) Diese Streitschriften, die schon rein um­
fangsmäßig den Discours um das fünffache übertreffen, sind
von größter Bedeutung für die Ausbildung der Selbständig­
keit von Rousseaus Denken. In Deutschland kündigte unser
t
In der ersten Ausgabe von Rousseaus Werken von Dupeyrou, 1783,
finden sich diese Schriften im ersten und fünften der Supplements­
bände.
Die Akademiefrage
XVII
Lessing den Discours kurz nach Erscheinen in den >>Blättern x
der Unterhaltung und des Witzes an« und gab in seiner Be­
sprechung eine luzide Kritik, die Rousseau nicht bekannt ge­
worden sein dürftelO, Zweiundzwanzig Jahre später kam
Friedrim der Große in seinem >>Discours de l'utilite des
sciences et des artS dans un etat« auf das Thema zurüdc. Ge­
treu seinem Charakter hält er sich nicht bei Wiederlegungen
auf, sondern geht gleich zum Angriff über, zum Beweis ihres
praktischen Nutzens.
So plötzlich Rousseaus >>Entdedcung« auch in die Öffent­
lichkeit trat, so wohlvorbereitet war sie, wie gesagt, in der
kalvinistisch-jansenistischen und weltmännischen Moralistik.
Er gab den Erkenntnissen Montaignes und der Moralisten
ihre Spitze. Er radikalisierte sie und gab ihnen zugleich eine
Wendung, an die niemand gedacht hatte.
Die Entstehungsgeschichte kann vieles an und in dem
Werk erklären, aber nicht seinen Erfolg. Neu an diesem Er­
folg als solchem ist vielleicht der Effekt auf Grund der
bloßen Originalität des Einfalls, denn keiner seiner Bewun­
derer - Duclos vielleicht ausgenommen - dachte ernstlich
daran, die so emphatisch dargebotenen Ansichten zu teilen.
In dieser Form des Urteiles nach der Ausgefallenheit verrät
sich schon jene Dekadenz, gegen die Rousseau gerade zu
Felde zieht. Die Befehdeten empfanden seine Argumente
als bloße Pointen. Freilich waren die revolutionären Tenden­
zen mit frommen Anbiederungen und rhetorischen Verbeu­
gungen geschidct genug übertüncht.. Daß einer gegen die
Künste und Wissenschaften schrieb, wurde erst dadurch pi­
kant, daß er sich zugleich als gebildeter Künstler erwies.
Zugleich ist der literarische Hintergrund zu bedenken, gegen
den sich Rousseau abhob, nämlich die souverän-leichtfertige
Prosa Voltaires. Neben den lachenden Philosophen trat nicht
ohne Konsequenz der weinende Philosoph. Die oft vertretene
Ansicht, mit Rousseau melde sich der Typ des Klein1o
E. M. Arndt verfaßte eine Habilitationssduift »die einige Gründe
aufstellt mit denen die Zivilisation gegen die Einfälle Rousseaus
und anderer verteidigt werden könnte« die in dem Band »Gerettete
Amdt-Sduiften« (Arolsep, 1953) deutsdl und lateinisdl veröffent­
lidlt wurde.
XVIII
Einleitung
bürgers11, zu Wort, ist z�mindest einseitig. Die Meinung,
Rousseau bedeute für die Pfahlbürger, was etwa Montes­
quieu für die Spießbürger bedeute, ist eine unzulässige Ver­
einfadmng. Schon Bernardin de St. Pierre11a hat darauf hinx gewiesen, daß Rousseau besonders bei der adeligen Ge­
sellschaft Edolg hatte, nicht beim Volk, das mit Voltaire bil­
dungsgläubig blieb. Kam!=Jn gewisse gegenaufklärerische Ar­
gumente den »Monarchisten« sehr gelegen? Aber Edolg ist
nicht nur Berechnung. Gerade diejenigen, die in der Gesell­
schaft lebten, litten auch am meisten an ihr. Nur sie konnten
seine Argumente verstehen. Das Volk war nur insofern be­
troffen als die Ergebnisse dieses Denkens sein Selbstbewußt­
sein - und dies wiederum sein Kraftbewußtsein - auf den
Plan rief. Gewiß kam der selbstironische Übermut, diesen
Autor zu hofieren, die Aristokratie teuer zu stehen, aber dies
ergibt sich aus der zweigeteilten Wirkung des Rousseauis­
mus, d. h. weniger aus einer Hybris als aus einer Nemesis.
Jedenfalls ist daran zu erinnern, daß Rousseau bereits den
Hofstil Ludwigs XVI. bestimmte, nicht erst den der Revolu­
tion. Etikette und Esprit der Zeit Ludwigs XV. war »succe­
dee de I'empire du sentiment, et par un singulier contraste,
a mesure que les creurs s'ouvrent a Ia pitie, les caracteres
devienntlDt plus aigres, les passions plus violentes, les haines
plus tenaces« 12. Die Kleidung wurde sd:tlicht, das Benehmen
bewußt einfach.
Man muß die erfolgreichen Werke primär nach dem
Publikum, auf das sie wirken, beurteilen und soziologisch
einordnen, nicht nach der Herkunft der Verlasser, wenn
anders man nicht die frühe Jugend geradezu als ein sozioX
11
Vgl. Henriette Roland-Holst, Jean-Jacques Rousseau, Dresden, 1922.
G. Sabine, A history of the political theory, New York, 1950, S. 576.
So audl in Peuples et Civilisations, Bd. XI, p. 567 (Muret).
11aB. de Saint-Pierre, La vie et !es ouvrages de J. J. Rousseau, ed.
Souriau, Paris, 1907.
tz Histoire glmerale, tome VII, p. 636, hgg. E. Lavisse, Paris, 1920-23.
Vgl. dazu audl die Mitteilungen die A. de Tocqueville (L'Ancien
Regime et Ia Revolution, Budl 111, Kap. V) über den veränderten
Geist der Edikte Ludwigs XVI. madlt. «On doit reconnaitre qu'en
France !es classes supeneures de Ia societe commencerent a se
preoccuper du sort du pauvre avant que celui-ci se fit craindre
d'elles ... C'etait enflammer dlaque homme en particilier par le
recit de ces miseres • . . "
Die Akademiefrage
XIX
logismes Engramm nehmen will. Übrigens ist der Knabe
Rousseau dem Kleinbürgertum viel zu früh entlaufen, um es
re<ht ZU kennen. Seine education sentimentale übernimmt
Me. de Warens. Sie vollendet sim in den Salons der Gene­
ralpämtersgattinnen, am venezianismen Hof und smließlim
beim Homadel. Ohne den S<hliff der Urbanität hätte er das
damalige Paris nimt zu erobern vermomt. Das war nur mög­
lim, weil man den Sturm gegen die Raffinesse als neue
Raffinesse empfand. Worin drüdct sim der gesellsmaftlime
Charakter des Literatismen mehr aus als im Rhetorismen?
Und gerade in der Rhetorik erwies sim Rousseau, der Rhetor
gegen die Rhetorik, allen Sternen seines Jahrhunderts so
überlegen. Gewiß bringt er kleinbürgerlime Wertungen mit:
eine sokratisme Handwerkerfreundli<hkeit, das Pomen auf
die utilite, den zur Smau getragenen Lokalpatriotismus, die
Zeitknauserei und Sparsamkeit, den Optimismus, die ein
wenig pharisäisme Selbstgenügsamkeit, das Behagen am
Altmodismen und smließlim die uns so peinlim gewordene
Tränenseligkeit. Aber diese Momente werden nimt ohne Ab­
simtli<hkeit verwendet. Seine Wirkung auf die französisme
Feudalkultur beruht aber nimt allein auf einer subtilen
Kenntnis der Pariser Verhältnisse, vielmehr auf der alles an­
dere als kleinbürgerlimen Bildungsskepsis, einem zielsime­
ren Zynismus, einer avantgardistismen Vorurteilslosigkeit,
einer erotismen Verfeinerung, einer desinvolture, die dem
Kleinbürger und seiner geistig befangenen Autoritätssumt
am allerletzten verständlim ist. Gar nimt zu reden von dem
Radikalismus, - wer hat wie Rousseau die Unters<hiede ins
Extreme und ins Große gedamt? - in dem sim am ehesten
seine eigentlime Zugehörigkeit zu erkennen gibt: die S<himt
der großstädtismen Da<hkammerliteraten, die nimts haben
und alles wollen, an die keiner denkt und die unaufgefordert
für alle denken. Der Feind der Wissensmaften und Künste
ist dies aus sehr gebildeten Gründen. Dem erfolglosen Kom­
ponisten der Oper »Les muses galantes« verhalf gerade diese
Abhandlung zum Durmbrum, weil er in ihm ein erstes Fazit
seines eigenen Lebenslaufs geben konnte. Sein Discours ist
Erkenntnis und Bekenntnis. Er kannte Stadt und Land,
Hauptstadt und Provinz, Arm und Reim, Adel und Bürger-
XX
Einleitung
turn gleiw gut. Er hatte siw niwt nur zwiswen den Stän­
den, sondern auw zwiswen den Konfessionen, zwiswen den
Vaterländern, zwiswen den Verfassungen und letzten Endes
zwiswen germaniswem und romaniswem Wesen herumge­
trieben. Der Hinweis ist wiwtig, weil siw der erste Discours
- im Gegensatz zum zweiten- viel mehr now aus Rousseaus
eigenem Lebenslauf als aus der Problematik seines geistigen
Milieus, der Enzyklopädie, ergibt.
Rousseau hat den Vorgang, in dem ihm bewußt wurde,
daß die Welt, in der er lebte, eine verkehrte Welt war, im
zweiten Brief an Malesherbes und weniger ausführliw in
den Confessions als einmalige Inspiration beswriebent2a.
Swon diese Erkenntnisform ist eine Provokation für die Be­
weisgläubigkeit und Vereinfawungssuwt seiner Zeit.
Man kann auw die Wirkung Rousseaus >>bei Hofe« niwt
als eine Art von Salon-Rousseauismus abtun. Die Rehabili­
tierung des Primitiven, des Kindes, des Tugendhaften und
des Volkes konnte nur sensationell wirken, wo sie als Aus­
nahme und Entdeclcung empfunden wurde. Nur auf dem
höfiswen Hintergrund ist der Naive »interessant«. Er hatte
immer der Swäferspiele bedurft. Auw heute now versteht
der Bauer am wenigsten, was seine Kurgäste bei ihm suwen.
Außerdem bleibt die rousseauistiswe Wandlung des höfiswen
Geswmaclcs- d. h. das Versteclcen der Vornehmheit, die sti­
lisierte Natürlicltkeit -keine Mode: mit der Etikette des
Versailles Ludwigs XV. sweint die gesamte europäiswe
Hofkultur ihre letzte, von keiner neuen Form abgelöste Aus­
prägung gefunden
zu
haben. Offenbar hat sie siw in dieser
Möglicltkeit erswöpft und Rousseaus Argumente werden
mäwtig, weil er diesen Leerlauf abfängt. Von der revolutio­
nären Entwiclclung her gesehen, ist die naw seinem Tod im­
mer breiter werdende Wirkung seiner Scltriften nur daraus
zu erklären, daß ihn die immer größer werdenden Miß1 1a In
seinen Dialogen besdlreibt Rousseau nom einmal den Sinn der
Inspiration von Vincennes, die ihn >>eine andere Welt sehen ließ,
ein wahrhaftes goldenes Zeitalter, Gemeinsmaften einfamer, tu­
gendhafter Mensmen und voller Hoffnung seine Visionen durdl die
Zerstörung der Vorurteile, die ihn selbst unterjomt hatten, ver­
wirklimen ließ, von denen er in diesem Moment alle Laster und
Leiden des Mensmengesdllemts abhängig glaubte.«
Die Akademiefrage
XXI
stände immer mehr ins Remt setzen. Die Radikalisierung
der Lage kommt dem radikalsten Kritiker zugute. Und selbst
seine Krankhaftigkeit wird in dem Maß vergessen, wie die
Zeiten selbst krank werden.
Nom etwas anderes kommt der Anerkennung durm den
Adel entgegen. In Rousseaus Smriften ändert sim die sozia­
le Stoßrimtung. Im Zentrum der Kritik steht nimt der Feu­
daladel, sondern der Reimturn und mit ihm der reime Bür­
ger. Er greift jene materialistismen Steuerpämter-Salons an,
die gerade mit dem Königtum im Kampf liegen. Natürlim
ist Rousseau weder füt Thron nom für Altar, aber er ist nom
weniger ein Freund der großen und kleinen Vermögen und
des Gottes der Händler. Vielleimt hat er zuerst eher an eine
Reform der Herrsmenden gedamt als an eine Revolte gegen
sie.
So sehr diese veränderte Stoßrimtung den kleinbürger­
limen Interessen gelegen gekommen ist, so sehr ist sie trotz­
dem aus der Literatenexistenz zu verstehen. Die Kleinbür­
ger speisten nimt am Tisme der Generalpämter. Tolstoi, de1
gestand, manme Seiten von Rousseau kämen ihm vor, als
habe er sie selbst gesdJ.rieben, war gewiß kein Kleinbürger. X
Was war beiden fremder als das kleinbürgerlime Einerseits­
Andererseits? Am namdrüddimsten beweist sein unglaub­
limer Erfolg, wie sehr er ein Zeitkind ist. Man hat viel zu
viel Modernismus hineingesehen, so daß er nur als Johannes
irgendeines Messias zur Geltung kam. Pfadfinder sind meist
nimt Same des Publikums.
Die Inhaftierung seines Freundes Diderot war der Anlaß
von Rousseaus Fußmarsm von Paris nam Vincennes in der
Oktoberhitze 1749. Die Höflimkeit des Hofes hatte sim wie­
der einmal als Farce erwiesen (Ursame war eine Stimelei in
der Lettre sur Jes aveugles, die eine vornehme Dame auf
sim bezogen hatte). Die Inspiration -das Wunder der Ge­
niereligion -darf hierbei nimt die samlimen Vorausset­
zungen, über die er sim nimt klar war, verdunkeln. Unmit­
telbares Dokument dieser Inspiration ist der in dem ersten
Discours eingegangenen Prosahymnus des Fabricius. Smon
aus diesem Panorama des >>anderen Universums«, das Rous­
seau plötzlim sah, erhellt, daß es nimt um eine psymolo-
XXII
Einleitung
gische, nicht um eine religiösen, sondern um eine geschicht­
liche Wahrheit geht. Es enthält etwas, was keine von seinen
Werken sonst enthält: einen Aufruf zur Tat. (Brisez ces mar­
bres .. . ) Und warum gerade Fabricius als Richter anrufen?
Er nahm kein Geld, er verachtete den Reichtum!
Was wird dem Wanderer auf seinem Weg durch den Kopf
gegangen sein, bevor er die Anzeige der Dijoner Akademie
im Mercure de France las? Die Empörung über Diderots
Behandlung. Und außerdem jene stets wache Frage: was
wird aus mir? Denn dem Entschluß, die Beantwortung zu
übernehmen, geht doch wohl eine angespannte Suche voraus.
Als er plötzlich in die Abgründe menschlicher Gefangen­
schaft schlechthin hinabblickte, sprangen zugleich seine eige­
nen Fesseln ab. Die Inspiration beginnt nicht nur eine Ent­
widdung, sie schließt auch eine ab. Sein Debut war zugleich
eine Abrechnung, obwohl sie ihrem Wesen nach weder sein
Ich ausdrückt, noch subjektiv ist. Er begann mit einem
Nachruf, insofern sein Gedanke ihn selbst verurteilen muß.
Diese Philippika gegen den Ehrgeiz wurde von dem Ehr­
geizigen niedergeschrieben, der sich von den Künsten und
Wissenschaften ruiniert fühlte. Er fand den Erfolg, indem er
den Grund seiner Erfolglosigkeit fand. Unter seinen vielen
Biographen hat übrigens nur Brockerhoff 1 4 dem Umstand
Beachtung geschenkt, daß Rousseau fest glaubte, er habe nur
noch ein halbes Jahr zu leben, als er den Discours schrieb.
Die einzigartige Kühnheit, sich just in dem Moment gegen
eine jahrhundertewährende Bemühung um die wissenschaft­
liche Wahrheit zu stellen, als der Geist sich anschickte, in der
Encyclopedie des sciences et des arts, die Summe rationalen
Wissens zu addieren, entspringt einer ganz andersartigen Be­
drohung. Die Gegenschrift gegen die Wissenschaften erschien
ein Jahr vor dem Discours preliminaire für die Wissen­
schaften, den D'Alembert dem ersten Band der Enzyklopädie
voranstellte. Man könnte sie als eine bloße Schrecksekunde der
Erkenntnis vor dem Eintritt in den rein wissenschaftlichen Ge11
Vgl. P. M. Masson, La Religion de Jean-Jacques Rousseau, 3 Bände,
Paris, 1916. Bd. I, p. 165 f.
Anders G. Gran, La Crise de Vincennes, Annales J. J. R. 1911.
" Jean Jacques Rousseau, 3 Bände, 1863-74.
Die Akademiefrage
XXIII
sclri<htsraum zu »verstehen« versu<hen, wenn es dabei ge­
blieben wäre, wenn ni<ht aus diesem Scltrift<hen si<h eine
neue, no<h immer unübersehbare Struktur der Gesclri<hte
entfaltet hätte. Der große Jean-Jacques desertierte hier gei­
stig ebenso ins Ungewisse wie einst der kleine Jean-Jacques
aus seiner Vaterstadt desertiert war. Daß si<h zu glei<her
Zeit, genau in der Jahrhundertmitte, ein alle Kulturgebiete
dur<hziehender Sprung in ein neues Zeitalter vollzog, haben
mehrere Historiker beoba<htet 15• An dieser Zeits<heide
wurde die Nabels<hnur eines selbständig atmenden Ge­
sclri<htswesens abgetrennt. »Mit Rousseau beginnt eine neue
Epome« sagt Goethe, der es mehr als jeder andere spüren
mußte. Die wissens<haftli<h völlig zerriebenen idealen Werte
finden unversehens einen Retter, dessen si<h viele, die Grund
hätten, ni<ht mehr dankbar bewußt sind. Als er die Künste
und Wissenschaften vor sein rhetorisches Standgericht stellte,
verurteilte er gewissermaßen das gesamte Barodezeitalter
zur Guillotine.
Doch subjektive Anliegen gehen in der Inspiration auf
überraschende Weise in objektiven Problemen seiner Zeit
unter. Seine eigene Lage erkennt sich als Folge einer allge­
meinen Lage. So findet er plötzlim in si<h selbst au<h um­
gekehrt die Antwort auf die von der Zeit aufgegebenen Rät­
sel. Sein Persönliches verliert sein Privates, weil es miteins
alle betrifft. Die Sonderbedingungen seines Daseins zeigen
die Allgemeinbedingungen mens<hlimer Gesclrichtlicltkeit.
Er hatte Jahre um Jahre wegen der Ehren der Literatur
und Musik - und jener Probleme, die ihn bes<häftigten ob­
wohl er weder ein Ziel no<h einen Nutzen damit zu erreimen
hoffte- gehungert und geopfert. Seine vielen Versuclte, sim
in die Öffentlicltkeit zu drängen, waren mißglückt. Warum
war er ein geistiger Wegelagerer geblieben und ein redlt­
loser Parasit, wenn es darauf ankam - wie ihm Freund Di15
Hermann Hettner, franz. Literaturgesdrldtte des 18. Jahrhunderts, X
s. 116.
Thomas Budde, Gesdrldtte der Zivilisation in England, dt. von Rit­
ter, 3. Band, Kap. 12.
E . Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen, 1932, S. 1 mit
Zitation dieser Erkenntnis bei D'Alembert, :E:lements de Ia philo­
sophie.
XXIV
Einleitung
derots Verhaftung zeigte ? Er mochte an seine Behandlung
bei der venetianischen Gesandtschaft denken.
In der plötzlichen Wertumwertung wurden ihm seine Göt­
ter zu Götzen. Er durchschaute das Konventionelle der Kon­
ventionen. Die künstlerische Auszeichnung, die ihm als der
Sinn seines Lebens vorschwebte, das Streben nach Bildung,
das ihn ungeheißen erlaßt hatte, war ihm den Lohn schul­
dig geblieben. Wali hatte er erlangt, als er Paris, dies Para­
dies seiner Jungensehnsüd1te, betreten hatte ? Er wagte sich
einzugestehen, was er gesehen hatte. Je näher er den Gro­
ßen der Welt gekommen war, desto mehr hatte er die Vor­
geblichkeit, ja Scheinbarkeit ilirer Erhöhung über die Be­
dingungen des Menschseins erkannt. Mit der Wissenschaft
wuchs der Zweifel und mit der Kunst die Künstlichkeit. Die
Welt war keine Hof-Welt. Er sah mit dem Auge des plutar­
chischen Fabricius auf dies neue Rom. Die Berührung mit
x dem höheren Reich der Bildung brachte nicht jene Läute­
rung, an die er geglaubt hatte. Sie litten, während sie sich
zu amüsieren schienen. Paris war so krank, wie er sich fühlte.
Man hatte eine höhere Welt gewollt, und was hatte man er­
reicht? Das Bildungsbabel der Unmoral. Erbitterung und
Freilieitsgefühl mischten sich in ilim. Er hatte jetzt die Spra­
che gefunden, in der er sagen konnte, was er fühlte. All die
Gedanken, die mit ihm Jahrzehnte umgingen, fanden einen
Einheitspunkt. Er brauchte nur in sich freizusetzen, was er
bisher gewaltsam in sich unterdrüclct hatte. Er mußte in sich
hineinhören, statt sich von dem Lärm der anderen übertönen
zu lassen. Er war, so wie er gewesen war, der neue Wert.
Er mußte sich getrauen, der Jean Jacques seiner Kindheit zu
sein. Er war mehr als jene, weil er mehr erlebt und weniger
vergessen hatte als sie. Seine Bedürfnislosigkeit sollte die
Bewunderung einer Welt werden, die sie nicht verstehen
konnte. Sie konnte nichts dagegen setzen. Das war ilire
Schwäche. Die Höflichkeit, die Würden, das Glück, die Be­
ruhigung der Wissenschaften und die Zaubereien der Kün­
ste -lauter Feuerwerke des Ehrgeizes, lauter Papierblumen
des Glüdcs.
Je heiliger das Weltstadt-Ideal des jungen Strolches gewe­
sen war, desto desillusionierender mußte die Unheiligkeit
Die Akademiefrage
XXV
des Weltlaufs für ihn werden. Statt sich wie die anderen
klug darein zu schid<:en, wagte er zu sagen, was alle wußten
und keiner auszusprechen wagte. Wozu sollte er »Vernünf­
tig« sein? Das war Voltaire nur allzusehr. Er war unglüd<:­
lich geworden, weil er zum Heuchler jener Werte geworden
war, an die er selbst lange nimt mehr remt glaubte. Das
Konventionelle erstid<:te das Smöpferisme.
Erst in seinen späteren Erfolgen stellte sim heraus, daß
er in der Tat etwas besaß, was jenen erleumteten Voltaire,
Diderot, Hume fehlte : die Unmittelbarkeit seines Zugangs
zu den Tiefen des Gefühls und die Selbständigkeit des Den­
kens. Er bedurfte nimt der Autorität und des vertrauenden
Zusprums, obwohl er ein »Gefühlsmensch« zu sein schien.
Seine inneren Abenteuer und Aussmweifungen übertrafen
nom bei weitem seine äußeren.
Das konnte ihm selbst nom nimt bewußt sein. Daher
konnte er aum nimt voraussehen, daß er das wesentlimste,
am eifrigsten geleugnete und wegbewiesene Anliegen sei­
ner Zeit getroffen hatte : den Kampf gegen den Luxus. Wie x
schlau räsonnierte man mit Mandeville, Melon und Voltaire,
daß die Versmwendung den Wohlstand smaffe, weil sie
Geld unter die Leute brämte. Er hatte die Kühnheit zu sa­
gen, daß der Luxus Frankreich ruiniere. Wir können heute
smwerlim verstehen, was dies Podien auf die utilite unter
den exzeptionellen Bedingungen des Versailler Hofes bedeu­
tete. Rousseau verordnete smlemtweg das Rimtige. Die
Konzentration alles Reimtums der Nation in Paris, dieser
ständige Abfluß ohne Zußuß, diese vorsätzlime Versmwen­
dung, mußte die ganze Sinnlosigkeit dieser Veranstaltung,
den Luxus überhaupt in seinem ruinösen Charakter und zu­
tiefst bösen Ursprung zum Symbol aller Sinnlosigkeit und
Verrumtheit mamen. Was vom Luxus lebte, was mit ihm
paktierte, geriet in Mißkredit. Kunst und Wissensmaft hat­
ten sim mitsmuldig gemamt. Das Wissen lieferte die nötigen
Erfindungen, die Künste waren Mittel zum Versmwenden ge­
worden. So mußten Künste und Wissensmaften als Kom­
plizen des Luxus mitverdämtig werden, so ruinös zu sein
wie er. Der platte Begriff der Nützlimkeit wurde in Wahr­
heit zum metaphysisdien Absolutum. So ist leimt zu beob-
XXVI
Einleitung
amten, daß alle Streitsduiften wider ihn zwar gegen die
Smuld der Bildung eifern, aber durmaus nimt die Grund­
lage der Kritik, nämlim die Smädlimkeit des Luxus angrei­
fen. Somit haben wir in dieser These die eigentlime breitere
Erfolgsgrundlage. Für die Künstler und Wissensmaftler im
engeren Sinn mamt der Discours publik, daß sie den Schim­
ten, denen sie dienten, die Gefolgsmaft aufsagen. Rousseau
will lieber kein Künstler mehr sein als vom Luxus leben, wie
der Künstler es muß. Infolgedessen sumt die Kunst in der
Folgezeit - wie etwa unser Herder - den Ansmluß an die
Volkspoesie.
Zum Erfolg trug weiterhin die Fülle treffender psymolo­
gismer Bemerkungen bei, mit denen sim Rousseau weniger
als Neuerer denn als Fortsetzer der großen moralistismen
Tradition erwies. Aber die Demaskierung der Heumelei und
des Zynismus kann man nom nimt als das Kennzeimen Raus­
seaus nehmen. Seine Einwände gegen die Weltlicllkeit un­
tersmeiden sim hömstens in der Begründung von denen des
Christentums. Diese untheologisme Neubegründung gibt al­
lerdings der Kritik der weltmännismen Moral neuen Glanz
und neues Remt. Smarfe Kritik sprimt zwar für den Geist
eines Autors, aber sie reißt nimt mit. Im Discours trat etwas
Neues, Positiv�s hinzu, das die Darstellung von der ersten
Seite an trug, und den Leser nimt niederdrückte, sondern
entflammte. Der Erfolg der Kulturkritik war nur der letzte
Smrei des Barock, aber die Begeisterung für die Tugend war
smon der erste Smrei einer neugeborenen Zeit.
Ausgeremnet dieses Dokument eines Philosophierens aus
dem Erlebnis, steht im Verdamt, ein gelungener Literaten­
ulk, ein »Meisterwerk des Zufalls« (Helvetius) zu sein. Mar­
montel 1 6, Morellet 17 sowie scllließlim - nimt so klar 18 - Di­
derot selbst berimten, Rousseau habe Diderot, als er zu
diesem kam, lediglim berimtet, er wollte die Preisfrage der
Akademie beantworten. Auf Diderots Frage, ob er sie beja­
hen oder verneinen wolle, habe er entgegnet: natürlim bejau
X
17
••
Marmontel, Memoires, tome I. dtap. VIII, Paris, 1884.
Morellet, Memoires, Paris, 1822, p. 119 f.
Diderot, Refutation de l'ouvrage d'Helvetius intitule L'Homme
ed. Assezat II, p. 286, 292, 316.
Die Akademiefrage
XXVII
hen. Erst Diderot habe ihm den Wink gegeben, man müsse
das Gegenteil vom Erwarteten sagen, wenn man Erfolg ha­
ben wolle. Man hat nun aus den frühesten Publikationen
Rousseaus, namentlich dem f: pitre ä Bordes von · 1743, den
Beweis zu führen versucht, daß er schon lange vorher in die­
ser Richtung nachgedacht hatte. Noch stichhaltiger ist indes­
sen der Beweis, daß im ersten . Discours bereits alle Grund­
intentionen der späteren Hauptwerke versammelt sind. Sind
alle späteren Werke Früchte dieses Keims, so zeugt dies or­
ganische Wachstum nur zu gut gegen einen bloßen literari­
schen Effekt. Ü brigens : wenn nicht bestritten wird, daß
Rousseau bereits mit dem Entschluß zu Diderot kam, die
Preisfrage zu behandeln, mußte er doch schon unterwegs
diesen Entschluß auf Grund einer Vorstellung der Proble­
matik gefaßt haben. Der erfolgte Entschluß spricht für die
erfolgte Inspiration. - Die Grundsätzlichkeit dieses Ent­
schlusses liegt schon darin, daß Rousseau noch nie vorher
auf philosophischem Gebiet zu arbeiten versucht hatte.
Noch befremdlicher ist Rousseaus Bemerkung in den Be­
kenntnissen, als er plötzlich von der Preisverleihung gehört
habe, habe er den Discours längst vergessen gehabt. Das
käme einer geistigen Kinderaussetzung gleich, denn ein
Philosoph, der seinen Gedanken beiseite schiebt, desavou­
iert sich selbst. Jedoch die Bekenntnisse verfechten die
These, sein erster Erfolg sei der Quell all seines Unglücks.
Daher tut der Rousseau der Bekenntnisse alles, um zu be­
weisen, daß ihn ein Erfolg, den er nicht selbst gewollt, ver­
führt habe. Warum bemerkte man nicht sofort, daß das
Vorwort zum ersten Discours ihn selbst Lügen straft? Dort
heißt es, er habe seine Schrift nach der Einreichung umge­
arbeitet. Diese Weiterbearbeitungen sind zwar nur in den
Anmerkungen greifbar, bilden aber vermutlich das Gerüst
der verschiedenen Erwiderungen.
Viel schwieriger ist zu entscheiden, ob die Front gegen
Kunst und Wissenschaft im engeren Sinn sich aus der Natur
der Sache d. h. seines Gedankens, der hier inspiratorisch an
den Tag trat, ergibt oder eine bloß vom gestellten Thema
veranlaßte Wendung zeigt. Vielleicht war die Preisfrage nur
ein Katalysator der Inspiration. Seine Eigenart zeichnet sich
·