Dobrindts »digitale Revolution

faulheit & arbeit
Sonnabend/Sonntag,
7./8. Januar 2017, Nr. 6
n Drucksachen
n Schwarzer Kanal
n Reportage
n ABC-Waffen
Sozialismus als Wissenschaft. Vor 140 Jahren veröffentlichte Friedrich Engels seinen
»Anti-Dühring« (Teil 2). Klassiker
Die Linke lässt die soziale Frage links liegen – bürgerliche Medien berichten nun
vom Klassenkampf. Von Arnold Schölzel
Linke Kunst gegen rechte Politik auf der Rosa-Luxemburg-Konferenz: Die Ausstellung
»No pasarán!« der Gruppe »Tendenzen«
Schernikaus Poetik (Teil 2 und Schluss): Ein
Beitrag von Dietmar Dath aus dem Band zur
Konferenz »lieben, was es nicht gibt«
UMIT BEKTAS / REUTERS
»Niemand kann sich mehr
sicher fühlen«
HTTP://EGITIMSEN.ORG.TR
A
ls Generalsekretärin
der türkischen Bildungsgewerkschaft Egitim Sem drohen Ihnen
22 Jahre Gefängnis in
der Türkei. Seit August 2016 läuft ihr
Asylantrag in Deutschland, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
hat ihn immer noch nicht bewilligt.
Was wird Ihnen in der Türkei zum
Vorwurf gemacht?
Zunächst: Die türkische Regierung hat
insgesamt 70.000 Lehrkräfte entlassen,
sowie Abgeordnete, Bürgermeisterinnen,
Journalisten, Anwältinnen und Tausende weitere Menschen inhaftiert. So viele
wurden eingesperrt, dass in den Gefängnissen kein Platz mehr ist. In meinem
Fall basiert die Haftandrohung auf vier
Strafverfahren. Eins, mit einem Strafrahmen von drei Jahren und vier Monaten,
ist bereits rechtskräftig – drei weitere sind
auf dem Weg. Beim jetzt rechtskräftig
gewordenen Urteil geht es darum, dass
Gespräch
Mit Sakine Esen Yilmaz. Über fehlende Rechtsstaatlichkeit in der Türkei,
Imame, die in Schulen ein- und ausgehen, und ihren Antrag auf Asyl in Deutschland
Sakine Esen Yilmaz
… (39 Jahre alt) war Generalsekretärin
der türkischen Bildungsgewerkschaft
Egitim Sen. Sie musste aus der Türkei
fliehen und beantragte im August 2016
in Deutschland Asyl, weil ihr in ihrer
Heimat insgesamt 22 Jahre Haft drohen.
Vorgeworfen wird ihr hauptsächlich ihr
Engagement für Frauen- und Beschäftigtenrechte, ihre kurdische Herkunft,
sowie angebliche PKK-Nähe.
sich die AKP-Regierung von Präsident
Recep Tayyip Erdogan gegen das Demonstrationsrecht gestellt hat: Ich hatte 2012
mit meiner Gewerkschaft zum kurdischen
Neujahrsfest Newroz eine Kundgebung
organisiert. Der zuständige Gouverneur
hatte sie zwar genehmigt, das Innenministerium diese kurz darauf aber wieder verboten. Letzteres hatte ich mit der Kamu
Emekcileri Sendikalari Konfederasyonu,
KESK, der Konföderation der im öffentlichen Dienst beschäftigten Arbeiter, bei
einer Pressekonferenz kritisiert. Anlässlich eines weiteren Verfahrens 2009 habe ich ein Ausreiseverbot erhalten. 2009
und 2011 war ich jeweils inhaftiert, erst
für mehr als fünf, dann mehr als zehn
Monate: Der türkische Staat versucht, alle
gewerkschaftlichen Aktivitäten und Versammlungen in Verbindung zur Koma
Civaken Kurdistan, KCK, zu stellen, zur
Union der Gemeinschaften Kurdistans,
dem zivilen Dachverband der kurdischen
Arbeiterpartei PKK, und zur Anklage zu
bringen. Selbst ein von der KESK organisiertes Frühstück wurde so ausgelegt.
Worum geht es dem türkischen Staat?
Erdogan ist die säkulare Egitim Sen ein
Dorn im Auge, weil sie den Islamunterricht an öffentlichen Schulen ablehnt und
muttersprachlichen Unterricht für Kinder
der kurdischen Minderheit fordert. Die Prozesse und Urteile gegen Gewerkschafter in
der Türkei verletzen das Menschenrecht auf
freie Meinungsäußerung sowie die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation, ILO, zu Gewerkschaftsrechten. All die
absurden Gründe, die dafür herangezogen
werden, sind eines demokratischen Rechtsstaats unwürdig. Mich hat der türkische
Staat im Visier, weil ich für Frauen- und
Beschäftigtenrechte eingetreten bin. Auf
internationalen Druck hin, wurde ich stets
wieder aus der Haft entlassen, aber die Anklage gegen mich blieb bestehen. Stimmen
unsere Forderungen mit jenen der PKK
Eine Feier zum kurdischen Neujahrsfest
Newroz (Foto: 2012 in
Ankara) wurde benutzt,
um die letzte Verurteilung von Sakine Esen
Yilmaz zu begründen
Im Exil
Ein Gespräch mit der Gewerkschafterin Sakine Esen Yilmaz. Über fehlende
Rechtsstaatlichkeit in der Türkei, ihren Antrag auf Asyl in Deutschland und Imame,
die in Schulen ein- und ausgehen. Außerdem: Klassenkampf im Anschlussgebiet.
Schwarzer Kanal von Arnold Schölzel
n Fortsetzung auf Seite zwei
ACHT SEITEN EXTRA
GEGRÜNDET 1947 · SA./SO., 7./8. JANUAR 2017 · NR. 6 · 1,90 EURO (DE), 2,10 EURO (AT), 2,50 CHF (CH) · PVST A11002 · ENTGELT BEZAHLT
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Verwickelt
Unverdrossen
Gekniffen
Einfühlsam
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Über den schwierigen Friedensprozess in Kolumbien. Gespräch mit
Enrique Santiago
Zwei Jahre nach Attentat auf CharBargeldumtausch: Indiens Währungslie Hebdo führen Überlebende
reform sorgt weiter für ökonomiKampf gegen Aberglauben weiter
sche und soziale Verwerfungen
Gegen die Herzenskälte. Das Werk des
Malers und Graphikers Wolfram
Schubert. Von Peter Michel
»Nicht ohne uns!«
Nama und Herero wollen Deutschland für Genozid in früherer Kolonie Südwestafrika zur
Verantwortung ziehen. Berlin sieht »keine Rechtspflicht«. Von Christian Selz, Kapstadt
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zur rechten
Siehe Seite 16
Russland zieht Truppen
aus Syrien ab
»Alles, was ohne uns über uns verhandelt wird, ist gegen uns!«: Protest von Nama und Herero im Oktober 2016 in Berlin
D
ie Geduld der namibischen
Volksgruppen Nama und
Herero mit der deutschen
Bundesregierung ist aufgebraucht.
Seit 2012 hatte Berlin mit Vertretern
Namibias um eine Haltung zum Völkermord in der ehemaligen Kolonie
Deutsch-Südwestafrika gerungen. Bis
zu 100.000 Menschen hatten kaiserliche Truppen zwischen 1904 und 1908
erschossen oder in Konzentrationslagern ermordet. Doch für die Bundesregierung blieb das Erbe des Vernichtungsfeldzugs stets eine vornehmlich
juristische Angelegenheit. Die Verhandlungen waren ein Spiel auf Zeit.
Am Donnerstag (Ortszeit) haben die
traditionellen Autoritäten der Nama
und Herero die Konsequenzen gezogen und in New York Sammelklage gegen die Bundesregierung eingereicht.
In einer am Donnerstag abend veröffentlichten gemeinsamen Stellungnahme erklärten der oberste Herero-Chief
Vekuii Rukoro und der Vorsitzende der
Nama Traditional Authorities, Chief
David Frederick, dass sie die deutsche
Regierung wiederholt aufgefordert hätten, sie in die Verhandlungen einzubeziehen – jedoch ohne Erfolg. Man habe
versucht, den diplomatischen Weg zu
gehen, aber damit kein Ergebnis erzielt,
erklärte Rukoro in einem Interview mit
der Tageszeitung The Namibian. Die
Deutschen hätten »entschieden, wie
ein Strauß den Kopf in den Sand zu
stecken, und unser Volk und unsere Regierung zu verachten«, kritisierte Rukoro und begründete so den Gang vor
Gericht. Er vertraue nun darauf, »dass
sich wiedergutmachende Gerechtigkeit
durchsetzt«.
Die beiden traditionellen Oberhäupter der Volksgruppen vertreten alle Nama und Herero weltweit. Sie berufen
sich auf das in den USA geltende Alien
Tort Statute, was möglich ist, da auch
US-Bürger unter den Nachfahren der
Nama und Herero sind. Das Gesetz aus
dem Jahr 1789 fand schon häufiger bei
Sammelklagen in Menschenrechtsfragen Anwendung. Die Herero und Nama fordern Reparationen für »nicht zu
beziffernde Schäden« und eine direkte
Beteiligung ihrer traditionellen Vertreter an den Verhandlungen mit der
Bundesregierung. Berlin hatte es stets
vorgezogen, mit der Zentralregierung
in Windhoek zu verhandeln, in der die
Nama und Herero – auch aufgrund ihrer
infolge des Genozids geringen Bevölkerungszahl – kaum eine Rolle spielen.
Den Völkermord erkannte die Bundesregierung erst 2015 als solchen an, in
einem offiziellen Dokument tauchte der
Begriff gar erstmals im Juli 2016 auf.
Zuvor hieß es stets, man könne nicht
von Genozid sprechen, da das entsprechende UN-Statut erst 1951 verabschiedet worden sei. Seit dem Sommer verhandelt Deutschland nun mit Namibia
über eine Entschuldigung für die Ko-
FLORIAN BOILLOT
lonialverbrechen, eine entsprechende
Resolution des Bundestags steht aber
noch immer aus.
Die Herero und Nama, die infolge
des Landraubs der Kolonialherren bis
heute größtenteils in Armut leben, haben mehrfach klargemacht, eine Entschuldigung nur dann akzeptieren zu
wollen, wenn sie mit Reparationszahlungen einherginge. Doch dem verweigert sich die Bundesregierung. Bis auf
einige Kisten mit Schädelknochen und
sonstigen Gebeinen, die einst zu vorgeblichen Forschungszwecken oder als
Trophäen nach Deutschland gebracht
worden waren, haben die Nama und
Herero bisher nichts zurückbekommen.
»Aus der Verwendung des Begriffs
›Völkermord‹ folgt nach Auffassung der
Bundesregierung keine Rechtspflicht«,
erklärte der Sonderbeauftragte für den
Dialog mit Namibia, Ruprecht Polenz,
noch am Montag der Deutschen Welle.
Siehe Seite 8
Dobrindts »digitale Revolution«
CSU-Politiker will bundesweit einheitliche elektronische Nahverkehrstickets
G
espeicherte Bewegungsprofile von allen Nahverkehrskunden – das könnte bald Realität
sein: Elektronische Chipkarten oder
Handytickets sollen bis 2019 Papierfahrkarten für Busse und Bahnen in fast
allen deutschen Städten überflüssig machen. Das sieht nach Medienberichten
ein Aktionsplan des Bundesverkehrsministeriums vor, der am Freitag den
Zeitungen der Funke-Mediengruppe
vorlag. Die Bundesregierung wolle
damit einen einheitlichen Standard für
elektronische Fahrkarten im deutschen
Nahverkehr umsetzen, berichtete die
Nachrichtenagentur AFP am Freitag.
Der Nahverkehr werde täglich von vielen Millionen Menschen genutzt, erklärte Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU). Um auch hier die
Digitalisierung voranzutreiben, »brauchen wir deutschlandweit nutzbare Mobilitätsplattformen, die überregional
und länderübergreifend Fahrgastinformationen verknüpfen und die Buchung
von E-Tickets ermöglichen«.
Grundsätzlich sind Länder und Kommunen für Fragen des öffentlichen
Nahverkehrs zuständig. Der Bund will
nun mit Fördermaßnahmen verhindern,
dass es bei der Entwicklung und Verwendung digitaler Ticket-Services zu
»Insellösungen« kommt. Dafür sollen
bis Herbst nächsten Jahres insgesamt
16 Millionen Euro fließen. In 239 von
402 Kreisen und kreisfreien Städten
könnten Kunden zur Zeit elektronische
Tickets nutzen, erklärte das Ministerium unter Verweis auf Zahlen des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen
(VDV). Allerdings sind die Systeme
verschieden. Als übergreifender Standard wurde das »E-Ticket Deutschland«
entwickelt, das per Chipkarte oder
Smartphone genutzt werden kann. Laut
Ministerium haben sich rund 370 Verkehrsunternehmen der Initiative angeschlossen. Der VDV hat etwa 600 Mitgliedsunternehmen. Der beim Verband
für das E-Ticket zuständige Manager
Nils Zeino-Mahmalat sagte der FunkeMediengruppe, durch die Förderinitiative des Verkehrsministeriums könne begonnen werden, die einzelnen Systeme
miteinander zu vernetzen. Für kleine
und mittlere Verkehrsunternehmen sei
»diese digitale Revolution alleine fast
gar nicht zu stemmen. Daher werden
wir nicht eines Morgens aufwachen und
der vernetzte ÖPV ist da.«
(AFP/jW)
Moskau. Nach der Befreiung von
Aleppo und der seit einer Woche
geltenden Waffenruhe in Syrien
zieht Russland Teile seiner Einheiten ab. Wie das Verteidigungsministerium in Moskau am Freitag
mitteilte, sollten zunächst der Raketenkreuzer »Peter der Große«, der
Flugzeugträger »Admiral Kusnezow« sowie mehrere Begleitschiffe
die Region verlassen. Die militärische Mission des Flugzeugträgers
sei erfüllt, sagte der russische Generaloberst Andrej Kartapolow.
Der russische Präsident Wladimir
Putin hatte bereits Ende Dezember
eine Reduzierung der russischen
Streitkräfte in Syrien angeordnet,
als er eine von Moskau und Ankara
vermittelte Waffenruhe zwischen syrischen Truppen und Aufständischen
verkündete. Auf russisch-türkische
Initiative hin sollen am 23. Januar in
der kasachischen Hauptstadt Astana
Friedensgespräche stattfinden.
(dpa/AFP/jW)
Siehe Seite 6
Diesel-Pkw belasten die
Umwelt stärker als Lkw
Berlin. Viele Diesel-Pkw blasen
laut einer Analyse des Forscherverbunds ICCT mehr giftige
Stickoxide (NOx) in die Luft als
neue Lastwagen oder Busse. Wie
die Wissenschaftler am Freitag berichteten, ergaben Daten des Kraftfahrtbundesamts (KBA) sowie
aus Finnland im Schnitt für Personenwagen mit Dieselmotor der
Schadstoffklasse Euro 6 im realen
Straßenbetrieb einen NOx-Ausstoß
von 500 Milligramm pro gefahrenem Kilometer. Bei Nutzfahrzeugen waren es demgegenüber nur
210 Milligramm je Kilometer. Der
ICCT, der den Abgasskandal bei
VW mit aufgedeckt hatte, sieht
in den Ergebnissen ein weiteres
Argument dafür, dass Abgastests
im Labor rasch durch Messungen
im echten Verkehr ergänzt werden
müssen.
(dpa/jW)
wird herausgegeben von
1.974 Genossinnen und
Genossen (Stand 16.12.2016)
n www.jungewelt.de/lpg