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SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Wissen
Verbrannte Erde, zerschlagene Kreuze
Christen im Irak
Von Martin Durm
Sendung: Freitag, 23. Dezember 2016, 8.30 Uhr
Redaktion: Udo Zindel
Regie: Maria Ohmer
Produktion: SWR 2016
Bitte beachten Sie:
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MANUSKRIPT
Atmo:
Just be carful ...
Martin Durm:
Jeder Schritt scheint hier ein Wagnis. Sei vorsichtig, sagt der Mann, der mir voran
geht. Langsam setzt er den rechten Fuß über die Schwelle, verharrt einen Moment
und zieht dann den anderen nach. Eben hat er noch versichert, die Kirchen von
Bartella seien "clear", gesäubert von improvisierten Sprengsätzen und Minen. Aber
jetzt hält er inne als träten wir gleich auf glühende Kohlen. So ganz traut er der
Sache offenbar doch nicht. Ein abgestandener Brandgeruch schlägt uns entgegen.
Ansage:
Verbrannte Erde, zerschlagene Kreuze – Christen im Irak. Ein Feature von Martin
Durm.
Martin Durm:
Über dem Kirchenportal baumelt ein Seil mit einer Schlinge. Dahinter wird es finster.
Es ist, als werde das Tageslicht im Innern der Kirche von rußgeschwärzten Wänden
verschluckt. Umrisse sind nur schemenhaft zu erkennen.
Der mannshohen Steinhaufen in der Apsis – das war wohl der Altar. Davor liegt ein in
Stücke geschlagener Corpus Christi. Die verkohlten Bretter und Balken könnten
Dachstuhl oder Kirchenbänke gewesen sein.
O-Ton Faiq:
It´ s horrible, horrible.
Martin Durm:
Überall Trümmer und Asche, zerfetzte Stoffe, Kabel, Drähte. Es ist schrecklich, sagt
Faiq, der junge Kurde, mit dem ich hier unterwegs bin. Auch ihm, dem gläubigen
Muslim, hat es inmitten dieser Verwüstung die Sprache verschlagen. Einen Moment
lang stehen wir still. Könnte es sein, dass wir gerade so etwas wie Andacht
empfinden?
Atmo:
Detonationen in der Ferne
Wenn dem so wäre, wird sie von näher kommenden Fluggeräuschen verdrängt. Die
US-Luftwaffe fliegt offenbar wieder einen Angriff auf Mosul, die östlichen Vororte sind
nur ein paar Autominuten von hier entfernt.
Atmo:
Be careful with the wires because of the bombs.
2
Martin Durm:
Sei vorsichtig mit den Drähten, sagt Faiq, nichts berühren. Der IS hat bei seinem
Rückzug überall Sprengsätze deponiert, in Häusern und vor allem in Kirchen. Es
wäre möglich, dass hier immer noch einer herum liegt, irgendwo in einer Nische oder
unter einer gesplitterten Bodenplatte versteckt.
Seit Beginn der Offensive auf Mosul, am 17. Oktober 2016, hat die sogenannte AntiIS-Koalition Hunderte Bomben auf die Dschihadisten-Hochburg geworfen. Nicht
wahllos und nicht auf das Zentrum, denn noch immer leben Hunderttausende
Zivilisten in der umkämpften, nordirakischen Stadt. Das Bombardement hat Orte
getroffen, an denen sich IS-Kämpfer in vorgeschobenen Positionen verschanzten.
Dazu gehörten auch Dörfer und Städte wie Bartella, Karemlesh, Karakosch. Sie
liegen im ehemals christlichen Siedlungsgebiet rund um Mosul. Im Sommer 2014
eroberten die Dschihadisten diese Region und verleibten sie dem sogenannten
islamischen Staat ein. Die christlichen Bewohner wurden vertrieben, ihre Häuser
besetzt, ihre Kirchen geschändet.
Atmo:
Lager
Martin Durm:
Mehr als 100.000 Christen retteten sich damals in die Flüchtlingslager der
autonomen Kurdenregion. Dort leben sie bis heute. Und erzählen sich seit
zweieinhalb Jahren wieder und immer wieder das Trauma ihrer Vertreibung. Es lässt
sie nicht los.
O-Ton – Frau im Lager, darüber Übersetzerin:
Die Dschihadisten kamen auch in unser Haus. Sie sagten, wir sollten zum Islam
übertreten. Wir sagten: "Aber das steht doch gar nicht im Koran!" Sie sagten: Woher
wollt ihr wissen, was im Koran steht?" Einer hatte ein Messer in seiner Hand. Er
redete die ganze Zeit auf meine Kleine ein. Sie solle den Islam annehmen, dann
könne sie bei ihm bleiben. Er habe ein Haus und Geld und es werde ihr gut gehen.
Die Kinder hatten furchtbare Angst, sie weinten und schrien. Später kam noch einer
und sagte: "Am Sonntag bringen wir den Koran in euer Haus, dann werdet ihr
konvertieren!" Wir sind noch in der gleichen Nacht nach Erbil geflohen.
Martin Durm:
Zweieinhalb Jahre hausten sie als Vertriebene in der Kurdenmetropole. Am 19.
Oktober diesen Jahres hieß es dann plötzlich, Karakosch sei befreit. Ausgerüstet mit
US-amerikanischen Abrams-Panzern hatte die 9. Irakische Division die größte
christliche Stadt vor Mosul zurück erobert. Auch Karemlesh und Bartella wurden
befreit. Aber was heißt schon befreit? Ausgebombt sind sie jetzt, niedergebrannt und
vermint.
3
O-Ton – Bashar Warda, darüber Übersetzer:
Als wir hörten, dass der IS aus unseren Dörfern vertrieben sei, war die Freude
erstmal groß. Wir sind sofort hingefahren – Priester, Bischöfe, Gemeindemitglieder,
alle wollten sehen, wie es daheim aussieht.
Martin Durm:
Bashar Warda, der Erzbischof der chaldäischen Christen fuhr auch in die frei
gekämpften Gebiete.
O-Ton – Bashar Warda, darüber Übersetzer:
Es sieht schlimm aus. Die Häuser, die Kirchen sind total zerstört. Alles wieder
aufzubauen, wäre eine enorme Anstrengung. Aber ich glaube, die wichtigste Frage,
die sich die Leute jetzt stellen ist: Wie sicher sind unsere Dörfer und Städte? Selbst
wenn der IS aus Mosul vertrieben wird, dürfte es noch fünf, sechs Monate dauern,
bevor wir überhaupt etwas unternehmen können. Die Leute wissen nicht, was tun.
Sie warten ab.
Martin Durm:
Für die irakische Regierungsarmee waren diese Orte vor allem strategische Ziele, in
denen sich die Dschihadisten verschanzten. Man musste sie einnehmen, um auf
Mosul vorrücken zu können. Die Kämpfe waren hart, verlustreich. Der IS setzte
Selbstmordattentäter und Sprengfallen ein, US-Piloten gaben den irakischen
Soldaten Luftunterstützung mit Bombern und Kampfflugzeugen. Die christlichen
Siedlungen befreien, hieß de facto, sie zu zerstören. Selbst Erzbischof Warda fügt
sich dieser militärischen Logik. Kriegsstrategen würden das als bedauerlichen
Kollateralschaden im Kampf gegen den Terror bezeichnen. Und doch ist es mehr. Es
ist unendlich viel mehr.
Atmo:
Rituelle Gesänge, Schellen
Martin Durm:
Womöglich ist das die Endzeit der orientalischen Christen, womöglich wird dieser
Tage vor Mosul ihre zweitausendjährige Tradition ausgelöscht. Und mit ihr die
religiöse und kulturelle Vielfalt, die den Orient prägt. Chaldäische Katholiken,
syrische Katholiken, Syrisch-Orthodoxe, Altorientalen, Armenisch-Apostolische – all
die konfessionellen Verästlungen der östlichen Kirchen hatten im Zweistromland ihre
Wurzeln. In dieser Gegend wurden die christlichen Urgemeinden gegründet, hier – in
der Ebene von Ninivee - entwickelte sich die frühsten Formen der Liturgie: Riten,
Segnungen, Gebetsformeln.
OT 05 Abuna Gabriel, darüber Übersetzer:
Das irakische Volk ist ein sehr altes Volk, ein große Zivilisation, die zurück geht auf
die Kultur Mesopotamiens. Sie hat der Menschheit so viel Schönes gegeben.
4
Martin Durm:
Das ist Abuna Gabriel, der stellvertretende Abt des Klosters zur Heiligen Jungfrau
von Alqosch. Der Ort liegt in der Nähe von Mosul, ist aber vom Sturm der
Dschihadisten verschont geblieben. Vater Gabriel spricht fließend Kurdisch,
Arabisch, Chaldäisch. Und weil er sein Theologiestudium in Rom absolvierte, spricht
er auch Italienisch:
OT 05 Abuna Gabriel, darüber Übersetzer:
Heute sind wir an einem Punkt angelangt, an dem es nicht mehr weiter geht. Die
Menschen sterben. Jeden Tag. Wir sind Vertriebene im eigenen Land.
Atmo:
Liturgische Gesänge
Martin Durm:
Im Jahr 2000 lebten noch eineinhalb Millionen Christen im Irak. Heute sind es noch
200.000. Der Exodus ist Teil eines Dramas, das schon lange vor dem Auftauchen der
IS-Terrorbanden begann. Als die sogenannte "Koalition der Willigen" unter dem
früheren US-Präsident George W. Bush 2003 das Regime Saddam Husseins stürzte,
folgten nicht Freiheit und Demokratie. Das Land versank in Terror und Anarchie. Die
ehemals kosmopolitische Millionenstadt Mosul mit ihren Koranschulen und
Priesterseminaren, ihren 100 Moscheen, 40 Kirchen und Klöstern degenerierte zu
einem der gefährlichsten Orte der Welt.
Atmo:
Checkpoint Telskof
Martin Durm:
Durch weites, felsiges Hügelland sind wir gefahren, Weideland, fruchtbar wie zu
Abrahams Zeiten. Unterwegs waren wir fast guter Laune, so schön und so wild ist
diese nordirakische Landschaft. "Kurdistan", verbessert mich mein Begleiter Faiq,
das hier ist die autonome Region Kurdistan. Vor einer paar Stunden war seine
Stimmung noch auf dem Tiefpunkt, weil jeder Checkpoint eine demütigende
Herausforderung war.
Atmo:
Checkpoint "German radio ..."
Übersetzer:
Irakische Armee, die sind völlig desorganisiert. Schau sie Dir an: Spezialeinheiten,
Polizei, Schiitenmilizen – jeder macht, was er will, jeder will was von Dir. Viermal
haben sie uns jetzt schon auseinander genommen.
Martin Durm:
Es kam auch noch der fünfte, der sechste Checkpoint. Es ging einfach so weiter, in
einem fort, bis wir nördlich von Mosul endlich das Gebiet der Peschmerga erreichten,
der kurdischen Milizionäre. Mit denen hatte Faiq keine Probleme.
5
Atmo:
Checkpoint Batnaja
Martin Durm:
Der Checkpoint vor Batnaja. Das Dorf ist die letzte Ortschaft vor Mosul. Überall Wälle
aus Sandsäcken, gepanzerte Wagen, schwerbewaffnete Kämpfer. Wir fahren an
zerschossenen Häuserfronten vorbei, rumpeln durch Granatrichter, sehen von
Bränden und Bomben ausgehöhlte Ruinen.
Musik
Martin Durm:
Batnaja war einmal ein christliches Dorf, 3000 Einwohner, ein Marktplatz,
Friseurläden, Cafès. Ich war schon einmal als Berichterstatter in dieser Gegend. Vier
Jahre ist das nun her; und ich erinnere mich an Ramsi, den ich damals in Batnaja
besuchte. Er lebte mit seiner Frau, fünf Kinder und seiner Mutter in einem dieser
unverputzten, zweistöckigen Häuser. Das Flachdach war wie überall im Nahen Osten
mit Armiereisen gespickt, um irgendwann noch eine Etage aufstocken zu können.
Ramsi war Bauer, ein einfacher Mann. Aber präziser als alle Nahost-Experten,
Korrespondenten und Kirchenvertreter sah er voraus, was auf die irakischen Christen
zukommen würde.
O-Ton Bauer Ramsi, darüber Übersetzer:
Mosul – Weißt Du, was in Mosul passiert? Da nisten sich immer mehr Terroristen ein.
Und die werden zu uns kommen. Sie sind schon da. Sie kommen in unser Dorf und
bauen Moscheen, die die Saudis finanzieren. Sie wollen uns unser Land weg
nehmen. Und wir werden es verlieren. Wir sind zum Gouverneur gegangen und
haben gesagt: "Siehst Du nicht, was hier geschieht?" Er sagte: "Was wollt ihr? Hier
ist doch alles normal." Aber hier ist nichts normal. Weißt Du, wie das mit uns Christen
enden wird? Sie werden kommen und uns erschießen. Wir haben große Angst.
Martin Durm:
An diese Leute denke ich jetzt. Und suche das Haus, in dem sie lebten und finde es
nicht. Entweder ist Ramsi mit seiner Familie noch rechtzeitig geflüchtet. Oder sie sind
tot.
Atmo:
Baulärm
Martin Durm:
Ein Abbruch-Bagger zermalmt eine von Minen geräumte Ruine, um für freies
Schussfeld zu sorgen. Die einzigen, die man hier sieht, sind Peschmerga-Milizionäre.
Einer ihrer Kommandeure ist Scherba Mattai, ein Christ, der dabei war, als der Ort
frei gekämpft wurde. Aber damit ist es noch längst nicht getan:
6
O-Ton – Scherba Mattai, darüber Übersetzer:
Natürlich brauchen wir jetzt so etwas wie eine internationale Garantie, eine Art
Schutzzone für Christen und andere Minderheiten. Die Peschmerga allein sind nicht
in der Lage, das Überleben der Christen zu sichern. Wir brauchen eine internationale
Verpflichtung, dass sich so etwas nicht mehr wiederholt. Nur wenn es die gibt,
werden die Leute auch wieder in ihre Dörfer zurück kehren.
Martin Durm:
Aber welches Land wäre bereit, für die Christen im Irak eine Schutzgarantie
auszusprechen, eine Flugverbotszone einzurichten, im Ernstfall Truppen zu
schicken? Das Kämpfen und Sterben wird man lieber den Einheimischen überlassen.
Atmo:
Straße, Krankenwagensirene, Detonationen
Martin Durm:
Anfang Dezember, zehn Wochen nach dem Beginn der Kämpfe um Mosul,
veröffentlichten die Vereinten Nationen einen ersten Bericht über den Blutzoll der
Offensive. Demnach starben bislang 1.950 irakische Soldaten und Peschmerga. 926
Zivilisten wurden getötet, 930 verwundet.
Das hier ist das war theater – das "Kriegstheater", wie die Briten sagen. So zynisch
es kling mag, es trifft hier die Realität. Wie auf einer Bühne entrollt sich ein
gewaltiges Panaroma vor unseren Augen. Kampfhubschrauber knattern über uns
weg Richtung Westen, aus Osten kommen einem Krankenwagen mit Verletzten
entgegen. Irgendwo vor Bartella sind dumpfe Detonationen zu hören, Sekunden
später schraubt sich eine weiße Rauchsäule hoch in den Himmel über der Stadt.
O-Ton – Dr. Assad
Martin Durm:
Seit heute Morgen haben sie 80 Verletzte aus Mosul gebracht, sagt Dr. Assad. Am
Straßenrand hat er mit Ärzten und Pflegern ein Sanitätszelt errichtet. Dr. Assad, ein
überaus freundlicher, rundlicher Mediziner, kümmert sich um die Erstversorgung
angeschossener Zivilisten. Aus der Zahl der Verletzten lässt sich die Intensität der
Kämpfe ableiten.
O-Ton – Dr. Assad, darüber Übersetzer:
Die meisten haben Schussverletzungen. Oder sie wurden durch Sprengsätze
verwundet, durch Granatsplitter oder Minen. Das heißt, wir haben es mit starken
Blutungen zu tun. Es sind fast immer Zivilisten. Vor einer Stunde hatten wir hier einen
Patienten in sehr kritischem Zustand. Er hatte eine schwere Hirnverletzung. Aber wir
sind hier ein gutes Team – zehn Ärzte und Pfleger.
Martin Durm:
Die Strategen der Dschihadisten haben eine neue Taktik entwickelt. Sie beschießen
gezielt Zivilisten, die Anstalten machten, Mosul zu verlassen. Sie brauchen sie noch.
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Denn unter dem Druck der Offensive zieht sich der IS nach und nach in den
westlichen Stadtkern zurück. In den engen Gassen der Altstadt wird er am Ende den
suizidalen Häuserkampf suchen. Kinder, Frauen, alte Männer sollen dann als
menschliche Schutzschilde dienen. Je mehr unschuldiges Volk im Kampfgebiet sein
wird, umso schwerer dürfte es werden, den Widerstand mit Luftangriffen oder
Panzern zu brechen. Deshalb feuert der IS systematisch auf flüchtende Einwohner.
Die Zahl ziviler Opfer sei dramatisch gestiegen, heißt es im jüngsten Bericht der
Vereinten Nationen. Dr. Assad erlebt es täglich an der Straße vor Mosul.
Atmo:
Verletzte werden zum Krankenhaus gebracht
Martin Durm:
Ein grauer, verbeulter Lieferwagen fährt vor, die Tür wird aufgerissen, im Innenraum
liegen fünf Verwundete in ihrem Blut. Das Kind zuerst, sagt Dr. Assad, und aus dem
Wagen kriecht eine verschleierte Frau, die ihr Mädchen in seine Arme legt. Der
Fahrer des Lieferwagens steht daneben. Er raucht. Er muss sich beruhigen.
Martin Durm:
Pfleger tragen die Verletzten ins Sanitätszelt, schneiden ihnen die blutverkrusteten
Kleider vom Leib, suchen die Stellen, an denen Splitter und Kugeln eindrangen.
Nach wenigen Minuten ist die Bodenplane schwarzrot verschmiert und bedeckt mit
gebrauchten Kompressen, Verbänden, Spritzen und aufgerissenen Infusionen. Es ist
der immer gleiche Auswurf des Krieges. Er liegt in den Kellerlazaretten Aleppos
herum, in den Krankenhäusern von Sanaa und hier in diesem Sanitätszelt vor Mosul.
Der Vater der Familie wird als letzter behandelt.
Atmo:
Verletzter Vater ruft
Martin Durm:
Wasser, ruft er, könnt ihr mir Wasser geben? Wo sind meine Kinder, ich kann nichts
mehr sehen. Das sei die Folge der Explosion, sagt Dr. Assad, sie habe ihn
geblendet.
Musik
Martin Durm:
Die irakische Regierung hat angekündigt, Mosul bis zum Jahresende erobern zu
wollen. Aber das ist propagandistischer Unsinn. Tatsächlich kommt die Offensive nur
langsam voran. Berichte über Geländegewinne lassen sich kaum überprüfen. Fast
alle westlichen Militärs rechnen damit, dass sich der Kampf noch wochen- vielleicht
monatelange Häuserkämpfe hinziehn wird. Der Belagerungsring um Mosul ist
mittlerweile geschlossen. Angeblich sind etwa eine halbe Million Menschen ohne
Wasser und Strom. Nur 80.000 gelang bisher die Flucht. Internationale
Hilfsorganisationen stellen sich darauf ein, dass in naher Zukunft Hunderttausende
Menschen versuchen werden, dem Krieg zu entkommen.
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Atmo:
Khazer-Camp
Martin Durm:
Die Lager sind schon jetzt mit Flüchtlingen überfüllt. Etwa 20 Kilometer vor Mosul
liegt das Khazer-Camp, eines der größten in der steinigen Einöde vor der Stadt.
Zäune, Container und Zeltreihen, so weit das Auge reicht. Es ist ein wüster und
trostloser Anblick. Vor dem Lagertor warten zwei, dreihundert Menschen.
O-Ton – Flüchtling, darüber Übersetzer:
Die haben hier feste Einlasszeiten, wir stehen hier schon seit Stunden. Aber seit
heute Mittag ist das Tor wieder zu. Wir kommen nicht rein.
Martin Durm:
Nur einmal öffnet sich das Tor, um einen Lastwagen mit Lebensmitteln ins Lager zu
lassen. Die Flüchtlinge drängen in die entstehende Lücke – und werden vom
Wachpersonal wieder abgedrängt.
O-Ton – Mohammed Rizgar, darüber Übersetzer:
Wir können nicht alle aufnehmen, die aus Mosul flüchten. Das schaffen wir nicht.
Martin Durm:
Im Getümmel versucht Mohammed Rizgar so etwas wie den Überblick zu bewahren.
Er gibt mir seine Visitenkarte. "Camp-Manager" steht drauf:
O-Ton – Mohammed Rizgar, darüber Übersetzer:
Wir arbeiten hier durch, sieben Tage die Woche. Wir tun wirklich unser Bestes. Aber
es ist jetzt sehr kalt hier, es ist Winter. Die Leute brauchen Decken und Matratzen,
Kerosinöfen, um die Zelte zu beheizen. Das ist das Wichtigste, und daran fehlt es.
Lebensmittel haben wir genug.
Atmo:
Gespräche im Lager
Übersetzerin:
Ständig wird er bedrängt, ständig will man etwas von ihm. Ein größeres Zelt, Seife,
Medikamente. Der Camp-Manager ist überfordert und soll dazu noch sicherstellen,
dass sich unter die Flüchtlinge keine IS-Kämpfer mischen. Das fürchten sie hier in
der Lagerverwaltung: Infiltration, Aufruhr, Anschläge. Wer es bis hierher geschafft
hat, lebte zweieinhalb Jahre lang unter und mit dem IS. Kann man ihm trauen? Hat er
kollaboriert? Hat er sich womöglich dem IS angeschlossen?
In der Nacht zum 10. Juni 2014 hatte die irakische Armee Mosul kampflos und in
Panik verlassen. Am frühen Morgen zogen waffenschwenkende Dschihadisten durch
die Straßen der Stadt. Man empfing sie mit Jubel. Mosuls Einwohner, in der Mehrheit
Sunniten, waren vom schiitischen Regime in Bagdad über Jahre hinweg
vernachlässigt, diskriminiert, gedemütigt worden. An diesem Sommermorgen vor
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zweieinhalb Jahren empfanden viele die sunnitischen IS-Kämpfer als Befreier. Heute
ist das vergessen und verdrängt.
O-Ton – Flüchtling
Martin Durm:
Bei Gott, wir sind so froh, dass uns die Armee vom IS befreit hat, sagt einer der
Flüchtlinge im Lager Khazer. Und ein andrer versichert: Ich kenne mindestens 50 aus
Mosul, die sich dem IS angeschlossen haben. Ich kenn‘ sie alle. Wenn der Krieg
vorbei ist, geh ich nach Mosul zurück und zeige sie alle dem Sicherheitsdienst an.
Es ist wie immer: Keiner war dabei, keiner will mitgemacht haben, alle waren
dagegen.
Atmo:
Kampfhubschrauber, Krankenwagensirenen
Martin Durm:
Das Kriegstheater, mit seinen Lügen, seiner Gewalt, seinem Leid. Der Himmel über
Mosul ist an manchen Tagen so makellos blau, dass die Kampfhubschrauber mit
ihren Luft-Boden-Raketen aussehen wie Libellen. Ich bin nicht in der Lage, zu sagen,
wer für all das verantwortlich ist. Wo sollte man beginnen? Bei Saddam Hussein, bei
George W. Bush, bei der alten, innerislamischen Zwietracht zwischen Schia und
Sunna? Die meisten Christen im Irak haben genug vom Elend in diesem zerrissenen
Land. Was seit 2014 geschah, erscheint vielen als Endpunkt ihrer Geschichte.
O-Ton Chalida, darüber Übersetzerin:
Ich kann mir nicht mehr vorstellen, in mein Dorf zurück zu gehen. Unser Haus ist
zerstört. Unser ganzes Leben ist in die Brüche gegangen.
Martin Durm:
Chalida, 40 Jahre alt. Sie, ihr Mann und ihre drei Kinder wurden aus Batnaja
vertrieben. Sie leben jetzt bei Verwandten in der kurdischen Kleinstadt Alqosh und
warten darauf, nach Europa zu gehen.
O-Ton Chalida, darüber Übersetzerin:
Neben uns im Dorf wohnten Muslime. Das waren unsere Nachbarn. Wir waren
miteinander befreundet. Aber als der IS in unser Dorf kam, haben sie uns verraten.
Sie haben sich mit den Dschihadisten verbrüdert. Als wir dann weg gejagt wurden,
saßen sie vor ihren Häusern und lachten uns aus. Das war unfassbar. Sie waren
doch unsere Nachbarn. Und plötzlich liefen sie zum IS über, gingen in unser Haus,
nahmen mit, was ihnen gefiel.
Martin Durm:
Immer wieder erzählen irakische Christen diese Geschichten.
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O-Ton Chalida, darüber Übersetzerin:
Wie sollten wir in unser Dorf zurück gehen und den Leuten begegnen, die uns
verraten haben? Das würden unsre Augen nicht ertragen.
Martin Durm:
Es sind Geschichten von Denunziation und Verrat. Sie sind dokumentiert. Und sie
beschreiben immer das Gleiche: wie Nachbarschaft und Freundschaft und
Weltvertrauen zerbrechen. Wie ein Land zerfällt, und mit ihm seine Gesellschaft.
Mosul markiert die Rückkehr des Religionskrieges.
O-Ton Bashar Warda, darüber Übersetzer:
Es lässt sich nicht leugnen, dass das eine ungeheure Herausforderung ist, und die
irakische Regierung muss sich dem stellen.
Martin Durm:
Bashar Warda, der Erzbischof der chaldäischen Christen.
O-Ton Bashar Warda, darüber Übersetzer:
Nichts ist mehr, wie es war. Unser Leben hat sich verändert. Das Vertrauen, das
Zusammenleben, das ging verloren. Die Leute kehren nur zurück, wenn es eine
internationale Schutzgarantie für sie gibt. Früher haben in der Ninivee-Ebene
100.000 Christen gelebt. In Zukunft werden es weniger sein. Aber es werden noch
Christen da sein. Wie viele, wie stark, wir wissen es nicht.
Atmo:
Kirchenglocke
O-Ton – Abuna Martin, darüber Übersetzer:
Das ist die Kirche Sankt Adday, sieh Dich um: Sie haben alles niedergebrannt,
haben die Statuen von Christus und der Heiligen Jungfrau zerschlagen. Sie haben
den Altar zertrümmert. Und sie haben die Gräber der Priester aufgebrochen, die hier
beerdigt sind.
Martin Durm:
Abuna Martin, ein kleiner, aber kräftiger Pfarrer mit Händen, die nicht nur segnen,
sondern auch zupacken können. Die Kirche Sankt Adday ist die Hauptkirche von
Karemlesh, einem Vorort von Karakosch, in unmittelbarer Nachbarschaft von Mosul.
Das hier ist durch und durch christlicher Boden. Mit etwa 50.000 Einwohnern war
Karakosch die größte christliche Stadt im gesamten Nahen Osten. Alle sind
geflüchtet. Alles ist zerstört: die zehn Gotteshäuser, das Kloster, das
Priesterseminar. Noch einmal tasten wir uns durch das, was übrig bleibt, wenn sich
dschihadistischer Furor austobt: eingestürzte Gewölbe, verbrannte Bilder,
Heiligenstatuen, die so entstellt sind, dass sie einem fast leid tun.
Atmo:
Gespräch Abuna Martin / Martin Durm
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Martin Durm:
Ist das hier immer noch ein heiliger Ort", frage ich ihn? "Natürlich", sagt er. "Sie
kamen, um die Kirche zu zerstören, aber für uns ist das immer noch ein heiliger Ort.
Wir beten hier auch. Heute Nachmittag werden wir wieder hier beten. Das Ave Maria,
den Rosenkranz."
Jeden Tag fährt Pfarrer Martin mit etwa 40 Jugendlichen aus Erbil die hundert
Kilometer nach Karemlesh, um Sankt Adday wieder aufzubauen. Sie räumen den
Schutt weg, verbrennen auf dem Vorplatz die Überreste des Beichtstuhls. Abuna
Martin ist 25 Jahre alt. Vielleicht muss man die Zukunft noch vor sich haben, um an
sie zu glauben.
Atmo:
Gebet
Martin Durm:
Vor einigen Jahren sind Archäologen bei Ausgrabungen in dieser Gegend auf die
Überreste einer sehr alten Kirche gestoßen. Sie stammte aus dem 1. Jahrhundert
nach Christi Geburt. "Wo werdet ihr dieses Jahr Weihnachten feiern?", frage ich
Abuna Martin:
O-Ton – Abuna Martin, darüber Übersetzer:
Hier, ich wäre sehr glücklich, wenn wir es hier feiern würden. Wir würden zeigen,
dass wir wieder zurück sind.
*****
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