SWR2 Glauben DER SEELE EIN DACH

SWR2 MANUSKRIPT
ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE
SWR2 Glauben
DER SEELE EIN DACH
SPIRITUALITÄT IN DER FAMILIE
VON DORIS WEBER
SENDUNG 04.12.2016 / 12.05 UHR
Redaktion Religion, Migration und Gesellschaft
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Autorin:
Eine Kerze brennt auf dem Adventskranz. Die ersten Weihnachtskekse sind
gebacken. Saskia singt ihren Kindern Moritz, drei Jahre alt, und Bruno ein Jahr
alt, Advents- und Weihnachtslieder vor. Die beiden lauschen gespannt
O-Ton: Saskia singt: Oh Tannenbaum ..., kurz anklingen lassen und unter Text
weiterführen:
Autorin:
Zu Hause ist jetzt vieles anders als sonst. Der Adventskalender mit seinen
täglichen Überraschungen, der Duft nach Plätzchen und frischem
Tannengrün und selbst die Geschichten, die ihnen die Mutter im Kerzenschein
erzählt, klingen feierlicher als sonst. Moritz und Bruno spüren diese besondere
Stimmung, aber noch bleibt ihnen das tiefere Geheimnis dieser Zeit
verborgen:
O-Töne Saskia:
Im Augenblick ist es mehr, dass der Weihnachtsmann kommt, dass er
Geschenke mitbringt und wir Lieder singen, Kekse backen und sonstiges, aber
es ist mir schon wichtig, dass die beiden, wenn dann die Zeit kommt, wissen,
warum wir Weihnachten feiern und nicht nur, dass der Weihnachtsmann
kommt und es gibt Geschenke und damit hat es sich. .... Ich finde es schon
wichtig, dass wir zum Krippenspiel gehen …, dass man schon auch erklärt,
dass das Engel sind, die von Gott kommen. Also mein großer Plan ist schon,
die Weihnachtsgeschichte am Heiligen Abend vorzulesen, auf jeden Fall, das
wär schön.
Autorin:
Vielleicht in drei bis vier Jahren, rechnet Saskia vor, dann wird sie ihren beiden
Söhnen die Geschichte aus der Bibel erzählen. Den Sinn der Adventszeit und
des Weihnachtsfestes versucht sie jedoch schon heute ihren Kindern
nahezubringen.
O-Ton: Saskia:
Es geht eben um Nächstenliebe, dass man auch an andere denkt, und das
sind natürlich so Sachen, die an Weihnachten auch gut zu vermitteln sind,
gerade eben, dass es auch andere gibt, denen es nicht so gut geht, dass
man an die anderen denkt, dass man nicht immer nur sagt: ich möchte die
Geschenke haben, ich will dieses und jenes, sondern dass er auch weiß, es
gibt Kinder, die bekommen nichts und die haben nicht so viel. Es gibt diese
Organisation, dass man den Schuhkarton packt mit Geschenken für Kinder in
ärmeren Ländern, das wird bei uns im Kindergarten gemacht. Dass man das
auch mit einbringt: warum machen die das an Weihnachten? Weil Jesus
geboren ist, weil Jesus für uns gelebt hat, und dass er derjenige welcher ist,
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der diese Nächstenliebe wirklich gelebt hat. Das Ganze kann Moritz jetzt
schon mal lernen, dass er weiß, er kann auch für andere was tun. Und das ist
natürlich an Weihnachten ganz besonders wichtig, das zu vermitteln.
Autorin:
Martin, dem Vater von Moritz und Bruno, ist es kein Anliegen, seine Kinder
religiös zu erziehen. Von Gott und Jesus zu sprechen, das liegt ihm fern. Seine
Frau Saskia gehört der evangelischen Kirche an, Martin ist konfessionslos.
Saskia ließ ihre Kinder taufen; für Martin wäre das nicht nötig gewesen. Aber
es stört ihn auch nicht, wenn Saskia in Glaubensfragen ganz anderer Meinung
ist als er:
O-Ton: Martin:
Nein überhaupt nicht. Nur, weil man persönlich nicht an etwas glaubt, heißt
das ja nicht automatisch, dass man das aus der Familie bei den Kindern
fernhalten muss. Ist ja nichts Gefährliches. Und wenn die Kinder alt genug sind
und für sich entscheiden, da nicht dran glauben zu wollen, dann können sie
das ja gerne tun oder auch nicht, wie sie wollen. Aber man muss das ja nicht
von vornherein alles irgendwie unterbinden.
… Das ist ja so, dass hier bei uns in Deutschland oder Europa der Aspekt der
Nächstenliebe hauptsächlich christlich geprägt ist. Ich glaube nicht, dass das
sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums ist. ... Das Schwierige
ist natürlich, dass ich ja auch nicht irgendwo aufgewachsen bin, sondern
eben hier in Deutschland, und ich hab das ja alles so mitgekriegt. Das heißt,
alles, was so rund um Weihnachten passiert, ist auch bei mir christlich geprägt,
auch, wenn ich selber diese Überzeugung nicht habe. Insofern kann ich das
nur ganz schwer trennen. Und ich will auch nicht darauf verzichten. Ich
möchte nicht auf Weihnachten verzichten, bloß, weil ich nicht in der Kirche
bin. Ich kann auch Weihnachten feiern ohne theologischen Hintergrund.
Autorin:
Martin genießt diese besondere Stimmung, die Lieder und Rituale zur Adventsund Weihnachtszeit. Die Familie ist für ihn ein verlässlicher Ort im Leben, wo er
Wärme und Geborgenheit findet, gerade zur Weihnachtszeit, wenn das Jahr
dunkel und kalt geworden ist.
Sprecher: Holger Postler
Familie
Menschenkreis um einen Baumstamm
Bettenlandschaft im Hotelzimmer
Tischgruppe im ICE
Familienvan besetzt
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Stimmenchaos mal laut, mal leise
Wäscheberge, Geschirrberge, Einkaufslisten
Termine und Terminüberschneidungen
Taxidienst
Schlafende Kinder verbreiten Frieden
Streitende Kinder, streitende Eltern bringen Chaos,
der Alltag gibt – hoffentlich – jedem einen Platz
über alles hält Gott die Hände
Autorin:
Ein Gedicht von Christiane Bundschuh-Schramm. Verheiratet, Mutter zweier
Kinder, Theologin in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Dort leitet sie
Fortbildungskurse mit dem Schwerpunkt Familienseelsorge. In ihrem Buch „ Mit
Kindern kommt Gott ins Haus“ geht sie der Frage nach: Was ist das eigentlich Spiritualität in der Familie?
O-Ton: Bundschuh:
Familienspiritualität heißt, dass eine Familie sich einen Bezugspunkt gibt und
dieser Bezugspunkt liegt ganz außerhalb von ihr, auch außerhalb ihrer
menschlichen Reichweite, ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Und dieser
Bezugspunkt ist Gott. Dies bedeutet, dass sich die Familie in ihrem Leben, in
ihrer konkreten Lebensgestaltung, aber auch immer wieder da, wo die
Familie mit ihren Sorgen und Nöten an Grenzen kommt, sich diesem
Bezugspunkt hinwendet und dadurch Weite erfährt, einen neuen Blick auf
sich selbst vielleicht, auch eine neue Perspektive, wie es weiter gehen kann.
Autorin:
Manchmal ist nach Hause kommen wie ausatmen und aufatmen dürfen,
schreibt Christiane Bundschuh-Schramm. Der Tag war schwer und lang, die
Mathematikaufgabe hat nicht geklappt, im Büro gab es Ärger. Wenn dann
müde die Stufen zur Haustür erklommen werden, wenn sich der Schlüssel im
Schloss dreht, dann ist Heimkommen wie eine Erlösung. Man kann die
Schwere des Tages ausatmen und die heimatliche Luft stärkend einatmen.
Sprecher:
Ein Aus-Atem,
der Luft verschafft.
Ein warmes Gefühl,
das das Herz umkreist.
Ein Seufzer,
der ein Lächeln zeugt.
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Glück.
Ein Blick
Über den Horizont.
Ein Tropfen Wasser,
belebend wie das Meer.
Ein Windhauch,
der die Angst verweht.
Glück.
Nur ein Moment
Ich.
Ein Moment
Glück.
O-Ton: Bundschuh-Schramm:
Eine Familie, die ihr Leben ohne religiösen Bezugspunkt lebt, kann das tun. Sie
werden genauso unglücklich und glücklich und können ihr Leben auch gut
bewältigen. Auf der anderen Seite denke ich, dass manchmal ein
Bezugspunkt, der wirklich noch mal drüber hinaus liegt von dem, was man
selber machen kann und wo man selber eigene Möglichkeiten hat, dass das
auch in bestimmten Situationen hilfreich sein kann. Also wenn der
Bezugspunkt die Liebe ist, die man lebt. Es gibt eben Situationen, da kommt
sie abhanden, und dann kann der Bezugspunkt Gott eine Hilfe sein, auch
diese Phase zu überwinden.
Autorin:
Spiritualität ist ein Dach über der Seele, das vor der Kälte, den Stürmen und
der Hitze des Lebens bewahrt. An kaum einem anderen Ort werden die
existentiellen Themen des Lebens so intensiv erlebt wie in der Familie. Geburt,
Wachsen und Werden, Liebe, Krankheit und Tod, Trennung und Trauer
gehören zu den tiefen Erfahrungen, sie prägen Kinder und Erwachsene und
können innere Bilder schaffen, die durch das Leben tragen, auch spirituell.
Liebe verleiht eine Kraft ebenso wie Enttäuschung, Hass und Verwerfung
einen Sinn finden können. Die Familie ist eine Lebensschule, hier wird Leben
geprobt, hier scheitert man und fängt wieder neu an. Hier wird geweint,
geschrien und gelacht. Hier hat jede ihren und jeder seinen Platz. Hier darf ich
sein, wie ich bin. Darum braucht das Familienhaus dicke Mauern und
manchmal auch zugezogene Vorhänge. So ist das, mit der kleinen Welt, sagt
Christiane Bundschuh-Schramm, die ein Türschild in ihrer Stadt fand, auf das
die Bewohner geschrieben hatten: Hier leben und streiten sich - …nennen wir
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sie einfach Hans und Grete und Linus und Charlotte…. Doch das geht
niemanden etwas an:
O-Ton: Bundschuh-Schramm:
Ich glaube, das ist etwas, was zur Gottesbeziehung gehört, weil man sich in
dieser Beziehung so zeigt, wie man ist. Also in der Gottesbeziehung darf das
Intimste sein, die lebt sogar davon, dass mein Intimstes Raum hat, dass ich
Gott alles sagen kann. Mein Glaube beinhaltet, dass Gott das aushält. Und
davon hat auch etwas die Familie, indem sie mich aushält, dass ich alles
zeigen darf, das wird nicht so krumm genommen. Wir sagen ja, sag es mir, ich
schimpf dich nicht. Wir fordern zur geteilten Intimität auf. Es darf auch
Geheimnisse geben, und da ist der Bezugspunkt Gott, da brauche ich keine
Geheimnisse. Auch unsere Familiengeheimnisse sind bei Gott gut
aufgehoben.
Sprecher:
Denkt also daran,
dass der Herr auch in der Küche
zwischen den Töpfen umhergeht
und euch hilft,
bei allem, was ihr tut.
Autorin:
Gedanken von Theresa von Avila. Christiane Bundschuh-Schramm beschreibt
in ihrem Buch: Mit Kindern kommt Gott ins Haus die Atmosphäre im
„spirituellen Lebenshaus“, wie sie es nennt. Dort sind Geborgenheit und
Aufbruch die beiden Brennpunkte. Sie verkörpern auch die beiden Pole der
christlichen Religion. In der Atmosphäre von Geborgenheit und Aufbruch darf
jeder und jede einmal schwach sein und sich anlehnen, und jeder hat einmal
die Rolle, den andern oder die andere zu stupsen. Das spirituelle Lebenshaus
ist wie eine Höhle, in der man sich bergen und wohlfühlen kann, wohin man
zurückkehren kann, wenn einem etwas Schlimmes widerfahren ist oder man
selbst etwas Schlimmes getan hat. - Und noch eine andere wunderbare Kraft
waltet in diesem Lebenshaus:
O-Ton: Bundschuh-Schramm:
Wir sind nicht so toll, wie wir vielleicht meinen, dass wir es sein müssten. Es ist
okay. Wir sind keine Wundermenschen. Das ist auch okay. Es fordert uns
heraus zu üben: Gelassenheit, den andern sein lassen, wie er ist, dem andern
die Zeit lassen, die er braucht Den andern mit dem liebenden Blick Gottes
anschauen und nicht mit dem Blick der Wirtschaft, der Gesellschaft, der
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Nachbarn, der Lehrer, der uns gerade wieder einen Vortrag gehalten hat, wie
sehr es auf die Noten ankommt und so weiter.
Autorin:
In einem spirituellen Familienhaus wissen alle, dass Gott mit im Haus wohnt,
behauptet die Theologin Christiane Bundschuh-Schramm, die als
Pastoralreferentin in der Diözese Rottenburg-Stuttgart hauptsächlich mit
Familien arbeitet. Für sie ist das weniger eine Erkenntnis, die sich auf messbare
Tatsachen beruft, sondern viel mehr eine wachsende Lebenserfahrung. Eine
Haltung, die man einfach praktiziert, ohne darüber nachzudenken, ohne
darüber zu sprechen. Es geht ihr um eine Lebenseinstellung, nicht um Wissen,
gar Wissen-müssen, sondern um ein Tun, sagt Christiane Bundschuh-Schramm.
Wobei dieses Tun gerade darin besteht, nichts zu tun, sondern nur zu lauschen
und zu spüren, dass Gott im Haus wohnt.
O-Ton: Bundschuh-Schramm:
Wenn wir Kinder wahrnehmen und beobachten, stellen wir fest, dass sie uns
spirituelle Lehrer und Lehrerinnen sein können. Gerade dieses in der
Gegenwart zu leben und im Jetzt leben ist für eine christliche Spiritualität ein
hoher Wert, weil nur die Gegenwart die Zeit ist, in der ich auch in eine
Beziehung treten kann. Wenn ich präsent bin und wenn ich da bin, kann ich
aufnahmebereit sein für die Gegenwart Gottes. Das können Kinder quasi
angeborener Weise, dass sie in der Gegenwart leben können und gleichzeitig
verloren sein können an ein Spiel, oder sie gehen spazieren und sehen eine
Blume, und sie sehen nur die Blume und sonst nichts. Und die braucht dann
Zeit, der muss man sich widmen, und da sind wir Erwachsene dann etwas
konsterniert, denn wir haben ja Pläne und wir haben einer Termin und so
weiter…
Atmo: Junge singt: Gottes Liebe ist wie ein großes Zelt … (und lacht dabei)
Direkt daran: O-Ton: Steffensky:
Unsere Mutter hat uns jedes Mal, wenn wir in die Schule gingen, ein Kreuz auf
die Stirn gemacht, also keineswegs in authentischer Ergriffenheit, sondern so,
wie man dem Kind das Butterbrot gibt, hat es auch das Kreuz gekriegt, mit
halber Authentizität, aber sie hat es gemacht, es gehörte dazu, es war Sitte.
Wenn aber jemand von uns krank war, ernsthaft, oder ein Kind ging aus dem
Haus für länger, dann hat die Mutter das Kreuzzeichen gemacht, und meine
Mutter war dabei sehr authentisch, weil sie die halbe Authentizität, also die
Form, lange durchgehalten hat. Ich habe das Wort Sitte gebraucht. Ich
verstehe das überhaupt nicht moralisch, ich verstehe die Sitte als eine
Gehhilfe des Herzens, also die Sitte des Tischgebets, abends mit den Kindern
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ein Lied zu singen oder morgens ein Gedicht zu lesen, ja, eine Gehhilfe des
Herzens. Ich frage nicht danach, ob mir nach singen, geschweige denn nach
Tischgebet zumute ist. Ich frage nicht danach, sondern ich tue es, weil es Sitte
ist. Das das setzt immer den Freigeist voraus, der auch mit Sitte brechen kann.
Aber dann hilft die Sitte mir weg von meinen vagen Wünschen. Meistens ist es
einem ja nicht zumute nach dem, was man gerade soll. Die Sitte, die alte
Lehrerin, die kommt und sagt: jetzt ist es Zeit, jetzt mach das, dann entsteht so
etwas wie eine gesunde Geläufigkeit.
Autorin:
Im Mehr-Generationen-Haus des Theologen und Schriftstellers Fulbert
Steffensky hielt man früher viel von der Kunst der guten Sitte, die den Freigeist
nicht brechen wollte, und von der Form, die dem Leben Geborgenheit gibt.
Formen, sagt er, sind auch Lebensversicherungen. Die beruhigende
Verlässlichkeit der Wiederkehr, ohne verzweifelt warten und sinnlos grübeln zu
müssen.
O-Ton: Steffensky:
Ich denke, dass Rhythmen dazu gehören. Ich glaube, es gibt eine Verödung
des Lebens, weil Zeiten nicht mehr gegliedert, gekennzeichnet sind. Dass man
im Dezember Erdbeeren essen muss und im Januar Spargel, und damit
Höhepunkte, also Pointierungen der Zeit verloren gehen. Es gibt so etwas wie
eine Unsinnlichkeit des Lebens, einen Sinnenverlust durch Verlust von
Rhythmen. Ich denke, das ist für Kinder sehr wichtig, übrigens nicht nur für
Kinder. Es muss Punkte geben, zum Beispiel den Anfang des Tages. Früher hat
man zusammen gebetet, das finde ich noch schöner, aber ich könnte mir
auch vorstellen, dass man zusammen frühstückt und dass man zusammen ein
Lied singt oder ein Gedicht liest, das Ende eines Tages zu betonen, also Kinder
nicht nur zu waschen zu füttern und stumm an ihrem Bett zu sitzen. Ich glaube,
dass die Bergung des Lebens ganz viel damit zu tun hat, mit den Formen, die
man dem Leben gibt. Und eine Form ist ja der Rhythmus, eine Zeitform.
Autorin:
Die Versinnlichung des Lebens, so Fulbert Steffensky, ermöglicht die Hoffnung,
überhaupt leben zu können. Dass man nicht in Panik gerät, weil man weiß, es
kommt ein Abend, der den Tag gut zu Ende bringt, und ein Morgen, der einen
Neuanfang gewährt. Solche Entrinnungs-Geschichten, wie Fulbert Steffensky
sie nennt, trösten die Menschenseele, denn auf die Dauer kann man dem
Leben nichts abgewinnen, ohne sich an diese Geschichten zu erinnern. Es
war einmal … und es wird wieder werden. Erzählen ist eine große, auch
spirituelle Kraft in der Familie, es birgt die Wünsche und Erfahrungen derer, die
sprechen – und derer, die hören:
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O-Ton: Steffensky:
Bei unseren Kindern gab es eine Grundfigur, von der ich immer erzählt habe,
das war die Ziege Berta. Also über Generationen von Kindern und Enkeln
habe ich diese Geschichte der Ziege Berta erzählt. Berta war eine Ziege, die
widerspenstig war, wie sie manchmal widerspenstig sind, die traurig war, wie
sie manchmal traurig sind. Ich habe die Kinder eingehüllt in eine fremde
Geschichte, sie haben sich erkannt, ohne sich zu erkennen, ohne zu wissen,
dass sie gemeint waren, und das wollten sie sehr gerne hören. Und sie wollten
es gerne an einer Stelle haben. Wir haben das immer erzählt auf der dritten
Stufe unserer Treppe im Haus, warum, das weiß ich nicht. Sie ist einfach die
Erzählstufe geworden. Es stand dort eine Kerze oder es lag da ein Stein. Man
gibt einer Sache Bedeutung, indem man ihr Form gibt, also die Form der
Kerze, des Lichtes, eines Steins. Es kann auch etwas anderes sein, aber etwas,
was sich wiederholt. Diese Wiederholung, diese Stufe, diese Kerze öffnet uns
den Mund für diese fantastische Geschichte und den Kindern das Ohr dafür.
Autorin:
Insbesondere Kinder gehören zu den spirituellen Lehrmeistern in der Familie.
Sie halten in einem mobilen, von Zeitnot bedrängten Alltag beharrlich fest an
der Wiederkehr der Dinge, an Morgen und Abend, an den Jahreszeiten mit
ihren festlichen Höhepunkten. Aber nicht nur Kinder, auch Erwachsene
brauchen Rituale, sie geben ihnen Verlässlichkeit und Geborgenheit im
„spirituellen Lebenshaus“, stiften Identität und Zugehörigkeit in einer
zerbrechlichen Welt. Das sagt der Schweizer Theologe Lukas Niederberger,
der als Ritualbegleiter Menschen in prägenden Lebensübergängen zur Seite
steht. Er schrieb das Buch: „Rituale: Was uns Halt gibt.“
O-Töne: Lukas Niederberger:
Wer schon mal eigene Kinder betreut hat und sie am Abend versucht, zum
Einschlafen zu bewegen, weiß, dass die Kinder ganz genau diesen Bären
oder jene Puppe in den Armen haben müssen und dieses Lied oder jene
Geschichte hören oder singen müssen, damit sie dieses Gefühl von
Getragensein haben, damit sie ruhig in den Schlaf hinübergehen können. ...
Auch Familien brauchen, weil sie auch irgendwo zentrifugale Kräfte
entwickeln, immer wieder Punkte, wo sie zusammenkommen können. Das
kann eine Morgenkultur sein, an dem sie zusammen frühstücken, das kann der
Beginn einer Mahlzeit sein. Es gibt Familien, die geben sich die Hände oder
die singen etwas oder sagen einen Satz, der sie bestärkt und der sie mit der
Welt verbindet, wo sie danken für die Nahrung. … Im Advent kommen
manchmal einfach äußere schöne Dinge dazu. Ich denke an
Adventskalender, meine Mutter, sie hatte zwar fünf Kinder, aber sie hat das
wirklich so gemanagt, dass sie für jedes Kind einen Adventskalender hatte, wo
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wir an jedem Morgen ganz gespannt das Törchen aufmachten und da war
eine Süßigkeit, ein liebes Wort, eine kleine Überraschung drin. Dann der
Adventskranz, wo traditionell vier Kerzen an den vier Sonntagen vor
Weihnachten angezündet werden, so kann man sich langsam, langsam auf
Weihnachten hin vorbereiten.
Musik Flötenspiel eines Kindes
Autorin:
Saskia und Martin, die Eltern von Moritz und Bruno, werden ihre Adventslieder
singen und Weihnachten feiern. Für beide ist es das Fest der Liebe und der
Nächstenliebe. Saskia, die an Gott glaubt, handelt aus christlichen Motiven.
Martin, der nicht an Gott glaubt, aus humanistischen. Lukas Niederberger
sieht in diesen Unterschieden kein Hindernis, in der Familie spirituell dennoch
zueinander zu finden.
O-Ton: Lukas Niederberger:
Das Problem stellt sich nicht nur Familien, wo Vater und Mutter
unterschiedlichen Zugang haben zur Religion, sondern das stellt sich sehr stark
auch in Schulen, wo wir Kinder haben von Eltern von Freidenkern, Muslimen
oder Buddhisten oder einfach Ungetauften. Darf man noch ein Krippenspiel
machen? Darf man noch Weihnachtslieder singen, darf man einen
Christbaum haben im Klassenzimmer? Diese Fragen stellen sich alle auch der
multikulturellen oder multireligiösen Gesellschaft. Ich meine, dass man nicht zu
viele falsche Kompromisse machen sollte, einfach aus Harmoniebedürftigkeit.
Ich meine, dass Kinder auch mit verschiedenen Kulturen konfrontiert werden
sollen, damit sie später auch mal wählen können: wollen sie das Christliche
von der Mutter oder das Humanistische vom Vater oder das muslimische
Ritual vom Schulfreund. Ich meine, man darf Kindern zumuten, dass sie
Verschiedenes kennenlernen. Ich würde jetzt aber nicht den kleinsten
gemeinsamen Nenner wählen, und dann einfach an Weihnachten ein
schönes Essen machen und das war es dann.
Autorin:
Spiritualität in der Familie, sagt Fulbert Steffensky, das das ist das Brot, von
dem alle zehren. Wenn es das nicht mehr gibt, so der Theologe und
Schriftsteller, dann fröstelt die Seele. Für das Wort Spiritualität bemüht er keine
frommen Erklärungen. Für ihn ist es ein sprachloses Fallenlassen, ein
gedankenloses Geschehen-lassen – in etwas hinein, das namenlos bleibt:
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O-Ton: Steffensky:
Es gibt so etwas wie eine notwendige Passivität, es gibt Stellen, wo ich mich
bergen kann, wo ich mich fallen lassen kann. Es sind Stellen, an denen ich
nicht aufmerksam sein muss und darf. Bei den tiefsten Stellen des Lebens bin
ich nicht aufmerksam. Wenn ich jemanden küsse, muss ich nicht aufmerksam
sein. Wenn ich jemanden umarme, ist die Aufmerksamkeit dispensiert, sonst ist
die Umarmung eine Lüge oder falsch.
ENDE
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