SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Glauben DER SEELE EIN DACH SPIRITUALITÄT IN DER FAMILIE VON DORIS WEBER SENDUNG 04.12.2016 / 12.05 UHR Redaktion Religion, Migration und Gesellschaft Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR SWR2 Glauben können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/glauben.xml Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de Autorin: Eine Kerze brennt auf dem Adventskranz. Die ersten Weihnachtskekse sind gebacken. Saskia singt ihren Kindern Moritz, drei Jahre alt, und Bruno ein Jahr alt, Advents- und Weihnachtslieder vor. Die beiden lauschen gespannt O-Ton: Saskia singt: Oh Tannenbaum ..., kurz anklingen lassen und unter Text weiterführen: Autorin: Zu Hause ist jetzt vieles anders als sonst. Der Adventskalender mit seinen täglichen Überraschungen, der Duft nach Plätzchen und frischem Tannengrün und selbst die Geschichten, die ihnen die Mutter im Kerzenschein erzählt, klingen feierlicher als sonst. Moritz und Bruno spüren diese besondere Stimmung, aber noch bleibt ihnen das tiefere Geheimnis dieser Zeit verborgen: O-Töne Saskia: Im Augenblick ist es mehr, dass der Weihnachtsmann kommt, dass er Geschenke mitbringt und wir Lieder singen, Kekse backen und sonstiges, aber es ist mir schon wichtig, dass die beiden, wenn dann die Zeit kommt, wissen, warum wir Weihnachten feiern und nicht nur, dass der Weihnachtsmann kommt und es gibt Geschenke und damit hat es sich. .... Ich finde es schon wichtig, dass wir zum Krippenspiel gehen …, dass man schon auch erklärt, dass das Engel sind, die von Gott kommen. Also mein großer Plan ist schon, die Weihnachtsgeschichte am Heiligen Abend vorzulesen, auf jeden Fall, das wär schön. Autorin: Vielleicht in drei bis vier Jahren, rechnet Saskia vor, dann wird sie ihren beiden Söhnen die Geschichte aus der Bibel erzählen. Den Sinn der Adventszeit und des Weihnachtsfestes versucht sie jedoch schon heute ihren Kindern nahezubringen. O-Ton: Saskia: Es geht eben um Nächstenliebe, dass man auch an andere denkt, und das sind natürlich so Sachen, die an Weihnachten auch gut zu vermitteln sind, gerade eben, dass es auch andere gibt, denen es nicht so gut geht, dass man an die anderen denkt, dass man nicht immer nur sagt: ich möchte die Geschenke haben, ich will dieses und jenes, sondern dass er auch weiß, es gibt Kinder, die bekommen nichts und die haben nicht so viel. Es gibt diese Organisation, dass man den Schuhkarton packt mit Geschenken für Kinder in ärmeren Ländern, das wird bei uns im Kindergarten gemacht. Dass man das auch mit einbringt: warum machen die das an Weihnachten? Weil Jesus geboren ist, weil Jesus für uns gelebt hat, und dass er derjenige welcher ist, 2 der diese Nächstenliebe wirklich gelebt hat. Das Ganze kann Moritz jetzt schon mal lernen, dass er weiß, er kann auch für andere was tun. Und das ist natürlich an Weihnachten ganz besonders wichtig, das zu vermitteln. Autorin: Martin, dem Vater von Moritz und Bruno, ist es kein Anliegen, seine Kinder religiös zu erziehen. Von Gott und Jesus zu sprechen, das liegt ihm fern. Seine Frau Saskia gehört der evangelischen Kirche an, Martin ist konfessionslos. Saskia ließ ihre Kinder taufen; für Martin wäre das nicht nötig gewesen. Aber es stört ihn auch nicht, wenn Saskia in Glaubensfragen ganz anderer Meinung ist als er: O-Ton: Martin: Nein überhaupt nicht. Nur, weil man persönlich nicht an etwas glaubt, heißt das ja nicht automatisch, dass man das aus der Familie bei den Kindern fernhalten muss. Ist ja nichts Gefährliches. Und wenn die Kinder alt genug sind und für sich entscheiden, da nicht dran glauben zu wollen, dann können sie das ja gerne tun oder auch nicht, wie sie wollen. Aber man muss das ja nicht von vornherein alles irgendwie unterbinden. … Das ist ja so, dass hier bei uns in Deutschland oder Europa der Aspekt der Nächstenliebe hauptsächlich christlich geprägt ist. Ich glaube nicht, dass das sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal des Christentums ist. ... Das Schwierige ist natürlich, dass ich ja auch nicht irgendwo aufgewachsen bin, sondern eben hier in Deutschland, und ich hab das ja alles so mitgekriegt. Das heißt, alles, was so rund um Weihnachten passiert, ist auch bei mir christlich geprägt, auch, wenn ich selber diese Überzeugung nicht habe. Insofern kann ich das nur ganz schwer trennen. Und ich will auch nicht darauf verzichten. Ich möchte nicht auf Weihnachten verzichten, bloß, weil ich nicht in der Kirche bin. Ich kann auch Weihnachten feiern ohne theologischen Hintergrund. Autorin: Martin genießt diese besondere Stimmung, die Lieder und Rituale zur Adventsund Weihnachtszeit. Die Familie ist für ihn ein verlässlicher Ort im Leben, wo er Wärme und Geborgenheit findet, gerade zur Weihnachtszeit, wenn das Jahr dunkel und kalt geworden ist. Sprecher: Holger Postler Familie Menschenkreis um einen Baumstamm Bettenlandschaft im Hotelzimmer Tischgruppe im ICE Familienvan besetzt 3 Stimmenchaos mal laut, mal leise Wäscheberge, Geschirrberge, Einkaufslisten Termine und Terminüberschneidungen Taxidienst Schlafende Kinder verbreiten Frieden Streitende Kinder, streitende Eltern bringen Chaos, der Alltag gibt – hoffentlich – jedem einen Platz über alles hält Gott die Hände Autorin: Ein Gedicht von Christiane Bundschuh-Schramm. Verheiratet, Mutter zweier Kinder, Theologin in der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Dort leitet sie Fortbildungskurse mit dem Schwerpunkt Familienseelsorge. In ihrem Buch „ Mit Kindern kommt Gott ins Haus“ geht sie der Frage nach: Was ist das eigentlich Spiritualität in der Familie? O-Ton: Bundschuh: Familienspiritualität heißt, dass eine Familie sich einen Bezugspunkt gibt und dieser Bezugspunkt liegt ganz außerhalb von ihr, auch außerhalb ihrer menschlichen Reichweite, ihrer Möglichkeiten und Grenzen. Und dieser Bezugspunkt ist Gott. Dies bedeutet, dass sich die Familie in ihrem Leben, in ihrer konkreten Lebensgestaltung, aber auch immer wieder da, wo die Familie mit ihren Sorgen und Nöten an Grenzen kommt, sich diesem Bezugspunkt hinwendet und dadurch Weite erfährt, einen neuen Blick auf sich selbst vielleicht, auch eine neue Perspektive, wie es weiter gehen kann. Autorin: Manchmal ist nach Hause kommen wie ausatmen und aufatmen dürfen, schreibt Christiane Bundschuh-Schramm. Der Tag war schwer und lang, die Mathematikaufgabe hat nicht geklappt, im Büro gab es Ärger. Wenn dann müde die Stufen zur Haustür erklommen werden, wenn sich der Schlüssel im Schloss dreht, dann ist Heimkommen wie eine Erlösung. Man kann die Schwere des Tages ausatmen und die heimatliche Luft stärkend einatmen. Sprecher: Ein Aus-Atem, der Luft verschafft. Ein warmes Gefühl, das das Herz umkreist. Ein Seufzer, der ein Lächeln zeugt. 4 Glück. Ein Blick Über den Horizont. Ein Tropfen Wasser, belebend wie das Meer. Ein Windhauch, der die Angst verweht. Glück. Nur ein Moment Ich. Ein Moment Glück. O-Ton: Bundschuh-Schramm: Eine Familie, die ihr Leben ohne religiösen Bezugspunkt lebt, kann das tun. Sie werden genauso unglücklich und glücklich und können ihr Leben auch gut bewältigen. Auf der anderen Seite denke ich, dass manchmal ein Bezugspunkt, der wirklich noch mal drüber hinaus liegt von dem, was man selber machen kann und wo man selber eigene Möglichkeiten hat, dass das auch in bestimmten Situationen hilfreich sein kann. Also wenn der Bezugspunkt die Liebe ist, die man lebt. Es gibt eben Situationen, da kommt sie abhanden, und dann kann der Bezugspunkt Gott eine Hilfe sein, auch diese Phase zu überwinden. Autorin: Spiritualität ist ein Dach über der Seele, das vor der Kälte, den Stürmen und der Hitze des Lebens bewahrt. An kaum einem anderen Ort werden die existentiellen Themen des Lebens so intensiv erlebt wie in der Familie. Geburt, Wachsen und Werden, Liebe, Krankheit und Tod, Trennung und Trauer gehören zu den tiefen Erfahrungen, sie prägen Kinder und Erwachsene und können innere Bilder schaffen, die durch das Leben tragen, auch spirituell. Liebe verleiht eine Kraft ebenso wie Enttäuschung, Hass und Verwerfung einen Sinn finden können. Die Familie ist eine Lebensschule, hier wird Leben geprobt, hier scheitert man und fängt wieder neu an. Hier wird geweint, geschrien und gelacht. Hier hat jede ihren und jeder seinen Platz. Hier darf ich sein, wie ich bin. Darum braucht das Familienhaus dicke Mauern und manchmal auch zugezogene Vorhänge. So ist das, mit der kleinen Welt, sagt Christiane Bundschuh-Schramm, die ein Türschild in ihrer Stadt fand, auf das die Bewohner geschrieben hatten: Hier leben und streiten sich - …nennen wir 5 sie einfach Hans und Grete und Linus und Charlotte…. Doch das geht niemanden etwas an: O-Ton: Bundschuh-Schramm: Ich glaube, das ist etwas, was zur Gottesbeziehung gehört, weil man sich in dieser Beziehung so zeigt, wie man ist. Also in der Gottesbeziehung darf das Intimste sein, die lebt sogar davon, dass mein Intimstes Raum hat, dass ich Gott alles sagen kann. Mein Glaube beinhaltet, dass Gott das aushält. Und davon hat auch etwas die Familie, indem sie mich aushält, dass ich alles zeigen darf, das wird nicht so krumm genommen. Wir sagen ja, sag es mir, ich schimpf dich nicht. Wir fordern zur geteilten Intimität auf. Es darf auch Geheimnisse geben, und da ist der Bezugspunkt Gott, da brauche ich keine Geheimnisse. Auch unsere Familiengeheimnisse sind bei Gott gut aufgehoben. Sprecher: Denkt also daran, dass der Herr auch in der Küche zwischen den Töpfen umhergeht und euch hilft, bei allem, was ihr tut. Autorin: Gedanken von Theresa von Avila. Christiane Bundschuh-Schramm beschreibt in ihrem Buch: Mit Kindern kommt Gott ins Haus die Atmosphäre im „spirituellen Lebenshaus“, wie sie es nennt. Dort sind Geborgenheit und Aufbruch die beiden Brennpunkte. Sie verkörpern auch die beiden Pole der christlichen Religion. In der Atmosphäre von Geborgenheit und Aufbruch darf jeder und jede einmal schwach sein und sich anlehnen, und jeder hat einmal die Rolle, den andern oder die andere zu stupsen. Das spirituelle Lebenshaus ist wie eine Höhle, in der man sich bergen und wohlfühlen kann, wohin man zurückkehren kann, wenn einem etwas Schlimmes widerfahren ist oder man selbst etwas Schlimmes getan hat. - Und noch eine andere wunderbare Kraft waltet in diesem Lebenshaus: O-Ton: Bundschuh-Schramm: Wir sind nicht so toll, wie wir vielleicht meinen, dass wir es sein müssten. Es ist okay. Wir sind keine Wundermenschen. Das ist auch okay. Es fordert uns heraus zu üben: Gelassenheit, den andern sein lassen, wie er ist, dem andern die Zeit lassen, die er braucht Den andern mit dem liebenden Blick Gottes anschauen und nicht mit dem Blick der Wirtschaft, der Gesellschaft, der 6 Nachbarn, der Lehrer, der uns gerade wieder einen Vortrag gehalten hat, wie sehr es auf die Noten ankommt und so weiter. Autorin: In einem spirituellen Familienhaus wissen alle, dass Gott mit im Haus wohnt, behauptet die Theologin Christiane Bundschuh-Schramm, die als Pastoralreferentin in der Diözese Rottenburg-Stuttgart hauptsächlich mit Familien arbeitet. Für sie ist das weniger eine Erkenntnis, die sich auf messbare Tatsachen beruft, sondern viel mehr eine wachsende Lebenserfahrung. Eine Haltung, die man einfach praktiziert, ohne darüber nachzudenken, ohne darüber zu sprechen. Es geht ihr um eine Lebenseinstellung, nicht um Wissen, gar Wissen-müssen, sondern um ein Tun, sagt Christiane Bundschuh-Schramm. Wobei dieses Tun gerade darin besteht, nichts zu tun, sondern nur zu lauschen und zu spüren, dass Gott im Haus wohnt. O-Ton: Bundschuh-Schramm: Wenn wir Kinder wahrnehmen und beobachten, stellen wir fest, dass sie uns spirituelle Lehrer und Lehrerinnen sein können. Gerade dieses in der Gegenwart zu leben und im Jetzt leben ist für eine christliche Spiritualität ein hoher Wert, weil nur die Gegenwart die Zeit ist, in der ich auch in eine Beziehung treten kann. Wenn ich präsent bin und wenn ich da bin, kann ich aufnahmebereit sein für die Gegenwart Gottes. Das können Kinder quasi angeborener Weise, dass sie in der Gegenwart leben können und gleichzeitig verloren sein können an ein Spiel, oder sie gehen spazieren und sehen eine Blume, und sie sehen nur die Blume und sonst nichts. Und die braucht dann Zeit, der muss man sich widmen, und da sind wir Erwachsene dann etwas konsterniert, denn wir haben ja Pläne und wir haben einer Termin und so weiter… Atmo: Junge singt: Gottes Liebe ist wie ein großes Zelt … (und lacht dabei) Direkt daran: O-Ton: Steffensky: Unsere Mutter hat uns jedes Mal, wenn wir in die Schule gingen, ein Kreuz auf die Stirn gemacht, also keineswegs in authentischer Ergriffenheit, sondern so, wie man dem Kind das Butterbrot gibt, hat es auch das Kreuz gekriegt, mit halber Authentizität, aber sie hat es gemacht, es gehörte dazu, es war Sitte. Wenn aber jemand von uns krank war, ernsthaft, oder ein Kind ging aus dem Haus für länger, dann hat die Mutter das Kreuzzeichen gemacht, und meine Mutter war dabei sehr authentisch, weil sie die halbe Authentizität, also die Form, lange durchgehalten hat. Ich habe das Wort Sitte gebraucht. Ich verstehe das überhaupt nicht moralisch, ich verstehe die Sitte als eine Gehhilfe des Herzens, also die Sitte des Tischgebets, abends mit den Kindern 7 ein Lied zu singen oder morgens ein Gedicht zu lesen, ja, eine Gehhilfe des Herzens. Ich frage nicht danach, ob mir nach singen, geschweige denn nach Tischgebet zumute ist. Ich frage nicht danach, sondern ich tue es, weil es Sitte ist. Das das setzt immer den Freigeist voraus, der auch mit Sitte brechen kann. Aber dann hilft die Sitte mir weg von meinen vagen Wünschen. Meistens ist es einem ja nicht zumute nach dem, was man gerade soll. Die Sitte, die alte Lehrerin, die kommt und sagt: jetzt ist es Zeit, jetzt mach das, dann entsteht so etwas wie eine gesunde Geläufigkeit. Autorin: Im Mehr-Generationen-Haus des Theologen und Schriftstellers Fulbert Steffensky hielt man früher viel von der Kunst der guten Sitte, die den Freigeist nicht brechen wollte, und von der Form, die dem Leben Geborgenheit gibt. Formen, sagt er, sind auch Lebensversicherungen. Die beruhigende Verlässlichkeit der Wiederkehr, ohne verzweifelt warten und sinnlos grübeln zu müssen. O-Ton: Steffensky: Ich denke, dass Rhythmen dazu gehören. Ich glaube, es gibt eine Verödung des Lebens, weil Zeiten nicht mehr gegliedert, gekennzeichnet sind. Dass man im Dezember Erdbeeren essen muss und im Januar Spargel, und damit Höhepunkte, also Pointierungen der Zeit verloren gehen. Es gibt so etwas wie eine Unsinnlichkeit des Lebens, einen Sinnenverlust durch Verlust von Rhythmen. Ich denke, das ist für Kinder sehr wichtig, übrigens nicht nur für Kinder. Es muss Punkte geben, zum Beispiel den Anfang des Tages. Früher hat man zusammen gebetet, das finde ich noch schöner, aber ich könnte mir auch vorstellen, dass man zusammen frühstückt und dass man zusammen ein Lied singt oder ein Gedicht liest, das Ende eines Tages zu betonen, also Kinder nicht nur zu waschen zu füttern und stumm an ihrem Bett zu sitzen. Ich glaube, dass die Bergung des Lebens ganz viel damit zu tun hat, mit den Formen, die man dem Leben gibt. Und eine Form ist ja der Rhythmus, eine Zeitform. Autorin: Die Versinnlichung des Lebens, so Fulbert Steffensky, ermöglicht die Hoffnung, überhaupt leben zu können. Dass man nicht in Panik gerät, weil man weiß, es kommt ein Abend, der den Tag gut zu Ende bringt, und ein Morgen, der einen Neuanfang gewährt. Solche Entrinnungs-Geschichten, wie Fulbert Steffensky sie nennt, trösten die Menschenseele, denn auf die Dauer kann man dem Leben nichts abgewinnen, ohne sich an diese Geschichten zu erinnern. Es war einmal … und es wird wieder werden. Erzählen ist eine große, auch spirituelle Kraft in der Familie, es birgt die Wünsche und Erfahrungen derer, die sprechen – und derer, die hören: 8 O-Ton: Steffensky: Bei unseren Kindern gab es eine Grundfigur, von der ich immer erzählt habe, das war die Ziege Berta. Also über Generationen von Kindern und Enkeln habe ich diese Geschichte der Ziege Berta erzählt. Berta war eine Ziege, die widerspenstig war, wie sie manchmal widerspenstig sind, die traurig war, wie sie manchmal traurig sind. Ich habe die Kinder eingehüllt in eine fremde Geschichte, sie haben sich erkannt, ohne sich zu erkennen, ohne zu wissen, dass sie gemeint waren, und das wollten sie sehr gerne hören. Und sie wollten es gerne an einer Stelle haben. Wir haben das immer erzählt auf der dritten Stufe unserer Treppe im Haus, warum, das weiß ich nicht. Sie ist einfach die Erzählstufe geworden. Es stand dort eine Kerze oder es lag da ein Stein. Man gibt einer Sache Bedeutung, indem man ihr Form gibt, also die Form der Kerze, des Lichtes, eines Steins. Es kann auch etwas anderes sein, aber etwas, was sich wiederholt. Diese Wiederholung, diese Stufe, diese Kerze öffnet uns den Mund für diese fantastische Geschichte und den Kindern das Ohr dafür. Autorin: Insbesondere Kinder gehören zu den spirituellen Lehrmeistern in der Familie. Sie halten in einem mobilen, von Zeitnot bedrängten Alltag beharrlich fest an der Wiederkehr der Dinge, an Morgen und Abend, an den Jahreszeiten mit ihren festlichen Höhepunkten. Aber nicht nur Kinder, auch Erwachsene brauchen Rituale, sie geben ihnen Verlässlichkeit und Geborgenheit im „spirituellen Lebenshaus“, stiften Identität und Zugehörigkeit in einer zerbrechlichen Welt. Das sagt der Schweizer Theologe Lukas Niederberger, der als Ritualbegleiter Menschen in prägenden Lebensübergängen zur Seite steht. Er schrieb das Buch: „Rituale: Was uns Halt gibt.“ O-Töne: Lukas Niederberger: Wer schon mal eigene Kinder betreut hat und sie am Abend versucht, zum Einschlafen zu bewegen, weiß, dass die Kinder ganz genau diesen Bären oder jene Puppe in den Armen haben müssen und dieses Lied oder jene Geschichte hören oder singen müssen, damit sie dieses Gefühl von Getragensein haben, damit sie ruhig in den Schlaf hinübergehen können. ... Auch Familien brauchen, weil sie auch irgendwo zentrifugale Kräfte entwickeln, immer wieder Punkte, wo sie zusammenkommen können. Das kann eine Morgenkultur sein, an dem sie zusammen frühstücken, das kann der Beginn einer Mahlzeit sein. Es gibt Familien, die geben sich die Hände oder die singen etwas oder sagen einen Satz, der sie bestärkt und der sie mit der Welt verbindet, wo sie danken für die Nahrung. … Im Advent kommen manchmal einfach äußere schöne Dinge dazu. Ich denke an Adventskalender, meine Mutter, sie hatte zwar fünf Kinder, aber sie hat das wirklich so gemanagt, dass sie für jedes Kind einen Adventskalender hatte, wo 9 wir an jedem Morgen ganz gespannt das Törchen aufmachten und da war eine Süßigkeit, ein liebes Wort, eine kleine Überraschung drin. Dann der Adventskranz, wo traditionell vier Kerzen an den vier Sonntagen vor Weihnachten angezündet werden, so kann man sich langsam, langsam auf Weihnachten hin vorbereiten. Musik Flötenspiel eines Kindes Autorin: Saskia und Martin, die Eltern von Moritz und Bruno, werden ihre Adventslieder singen und Weihnachten feiern. Für beide ist es das Fest der Liebe und der Nächstenliebe. Saskia, die an Gott glaubt, handelt aus christlichen Motiven. Martin, der nicht an Gott glaubt, aus humanistischen. Lukas Niederberger sieht in diesen Unterschieden kein Hindernis, in der Familie spirituell dennoch zueinander zu finden. O-Ton: Lukas Niederberger: Das Problem stellt sich nicht nur Familien, wo Vater und Mutter unterschiedlichen Zugang haben zur Religion, sondern das stellt sich sehr stark auch in Schulen, wo wir Kinder haben von Eltern von Freidenkern, Muslimen oder Buddhisten oder einfach Ungetauften. Darf man noch ein Krippenspiel machen? Darf man noch Weihnachtslieder singen, darf man einen Christbaum haben im Klassenzimmer? Diese Fragen stellen sich alle auch der multikulturellen oder multireligiösen Gesellschaft. Ich meine, dass man nicht zu viele falsche Kompromisse machen sollte, einfach aus Harmoniebedürftigkeit. Ich meine, dass Kinder auch mit verschiedenen Kulturen konfrontiert werden sollen, damit sie später auch mal wählen können: wollen sie das Christliche von der Mutter oder das Humanistische vom Vater oder das muslimische Ritual vom Schulfreund. Ich meine, man darf Kindern zumuten, dass sie Verschiedenes kennenlernen. Ich würde jetzt aber nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner wählen, und dann einfach an Weihnachten ein schönes Essen machen und das war es dann. Autorin: Spiritualität in der Familie, sagt Fulbert Steffensky, das das ist das Brot, von dem alle zehren. Wenn es das nicht mehr gibt, so der Theologe und Schriftsteller, dann fröstelt die Seele. Für das Wort Spiritualität bemüht er keine frommen Erklärungen. Für ihn ist es ein sprachloses Fallenlassen, ein gedankenloses Geschehen-lassen – in etwas hinein, das namenlos bleibt: 10 O-Ton: Steffensky: Es gibt so etwas wie eine notwendige Passivität, es gibt Stellen, wo ich mich bergen kann, wo ich mich fallen lassen kann. Es sind Stellen, an denen ich nicht aufmerksam sein muss und darf. Bei den tiefsten Stellen des Lebens bin ich nicht aufmerksam. Wenn ich jemanden küsse, muss ich nicht aufmerksam sein. Wenn ich jemanden umarme, ist die Aufmerksamkeit dispensiert, sonst ist die Umarmung eine Lüge oder falsch. ENDE 11
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