A M WO C H E N E N D E HF1 MÜNCHEN, SAMSTAG/SONNTAG, 5./6. NOVEMBER 2016 72. JAHRGANG / 44. WOCHE / NR. 256 / 3,20 EURO FOTOS: FELIX SCHMITT, GETTY, OH WWW.SÜDDEUTSCHE.DE KUCKUCK! Von Tür zu Tür mit dem Gerichtsvollzieher – in einem Deutschland, in dem niemand seine Rechnung bezahlen möchte MEGABYTE FÜR MILLIONEN Wie Youtube zur mächtigsten Unterhaltungsmaschine der Welt wurde Wirtschaft, Seite 25 Die Seite Drei Im wunden Herzen der USA Wer Amerika verstehen will, muss in den Mittleren Westen reisen. Zwischen Getreidesilos und Footballfeldern prallen Mythos und Wirklichkeit aufeinander WHAT’S THE STORY? Liam Gallagher erklärt, warum Oasis heute nur noch im Kino zu sehen sind Buch Zwei, Seite 11 Feuilleton, Seite 17 (SZ) Gottlieb Theodor Pilz gehört zu jenen Großen der Geschichte, die in Vergessenheit geraten sind. Am 12. September war sein Tod 160 Jahre her. Dass 2016 trotzdem kein Pilz-Jahr wurde, liegt an der Eigenart seines Werkes. Es zielte auf Nichtexistenz. Der Sohn wohlhabender protestantischer Eltern, dem der Vater abends am Bett Tacitus in eigener Übersetzung vorlas, hat „durch sein mutiges, opferbereites Dazwischentreten“ (so sein großartiger Biograf Wolfgang Hildesheimer) Bücher, Bilder und Kompositionen verhindert, die ohne ihn sicher erschienen wären. Die Nachwelt aber hat es sich angewöhnt, große Geister nach ihrem Schaffen zu bewerten – statt nach dem, was sie lieber bleiben gelassen oder gar bei anderen verhindert haben. Wie dringend bräuchte man heute den Geist eines Gottlieb Theodor Pilz, der sein Talent schon in jungen Jahren erkennen ließ, als er volle zwei Jahre durch Italien reiste, ohne ein Tagebuch zu führen oder auch nur eine einzige Skizze anzufertigen. Wie viele Selfies und FacebookEinträge blieben heute ungeschehen, wären die Leute wie er, und wie würde Twitter um seine Existenz zittern! Dass Pilz 1810 Friedrich Ludwig Jahn sogar dazu brachte, sich von seinem Monumentalwerk über die Hermannsschlacht wegund den Turnübungen zuzuwenden, war das Meisterwerk des großen Verhinderers. Und doch begeht die Geisteswelt nun nicht das Pilzjahr. Sie beginnt vielmehr das Lutherjahr, ohne dass irgendjemand im Geiste des vergessenen Meisters hemmend einschritte. Die Schreiber schreiben, und niemand lenkt sie, wie das einst Pilz mit nie erlahmendem Eifer tat, geistvoll und unter Einsatz aller Kräfte so lange ab, bis auch der letzte Abgabeschluss für das Manuskript verstrichen ist. Martin Luther Superstar! Luthers Krankheiten. Luther und die Welt. Luther war ganz anders oder vielleicht doch so. Luther in Ratebildern. Luther als solcher. Luther zum Weltverbessern. Luther und mein Vater. Luther und ich, gerne auch als Sammelband, zum Nachdenken darüber, was der Reformator und sein schreibender Schatten gemeinsam haben. Ist nicht jeder, der sich da meldet, „ein Stück weit“, wie Pastorinnen und Pastoren gern sagen, Rebell und Reformator, auch wenn im Alltag immer wieder was dazwischenkommt? Gottlieb Theodor Pilz starb zu früh. Mit 67 sank er plötzlich leblos zu Boden, und die Umstehenden applaudierten zunächst, weil sie das für ein liebevoll geplantes Inszenierungsdetail hielten. Kein Schüler führte sein Werk fort, auch scheiterte sein Versuch, minderbegabte Autoren mit einem Stipendium auszustatten, wenn sie fortan auf jede Form der Veröffentlichung verzichteten. „Weniger Taten!“ – das war sein Ruf. Er ist verhallt. Medien, TV-/Radioprogramm Forum & Leserbriefe München · Bayern Rätsel & Schach Traueranzeigen 42-44 14 41 59 20-21 61044 4 190655 803203 Versöhnung auf bayerisch Dobrindt: Maut frühestens 2018 Beim CSU-Parteitag versucht sich Horst Seehofer als Dompteur: Er muss die Basis bändigen, die er selbst gegen Kanzlerin Merkel aufgewiegelt hat Merkel setzt Grenzen – keine zusätzlichen Kosten für Deutsche von robert roßmann und wolfgang wittl Horst Seehofer steht am Eingang des CSUParteitags – und gibt den Glückseligen. Der Fortschritt bei der Pkw-Maut, das Votum der CSU-Mitglieder für Volksentscheide, die „Einheit in seiner Partei“, sogar die Politik der Berliner Regierung – Seehofer wird mit dem Aufzählen gar nicht mehr fertig. „Ich bin zufrieden“, sagt der CSU-Chef. Nicht einmal die Frage nach der fehlenden Kanzlerin trübt seine Laune. Er telefoniere so oft mit Angela Merkel, dass ein „Gefühl des Vermissens gar nicht entstehen“ könne. Seehofer versteht es, gute Laune zu verbreiten, selbst wenn es schlecht steht. Er mimt den Gelassenen, auch wenn die Lage der CSU schwierig ist, wie jetzt auf dem Parteitag. Nachdem Seehofer es vor einem Jahr geschafft hat, sich mit der anwesenden Kanzlerin zu verkrachen, muss er jetzt das Kunststück vollbringen, sich mit der abwesenden Kanzlerin zu versöhnen. Fast tausend Delegierte warten an diesem Freitagnachmittag auf eine Betriebsanleitung ihres Chefs, wie sie mit Angela Merkel künftig umzugehen haben. Für die CSU hängt davon der Erfolg bei der Bundestagswahl 2017 ab – und damit nicht weniger als eine gute Startposition für die Landtagswahl 2018. Zwei „existenziell“ wichtige Jahre hat Seehofer ausgerufen. Dafür ist eine glaubwürdige Aussöhnung mit Merkels CDU unvermeidlich. Nur wie? Merkels Fehlen auf dem Parteitag regt die meisten CSU-Delegierten nicht auf; wohl aber die Frage, ob sie für die Kanzlerin nächstes Jahr in den Wahlkampf ziehen sollen. Ein Delegierter hat sogar den An- trag gestellt, dass die CSU-Abgeordneten bei der nächsten Kanzlerwahl im Bundestag gegen Merkel stimmen sollen – wegen „nachhaltiger und wiederholter Fehlentscheidungen“ in der Flüchtlings- und Innenpolitik. Seehofer hat die Stimmung selbst erzeugt, die aus diesem Antrag spricht. Er hat Merkel hart gescholten, er hat ihrer Regierung vorgeworfen, für eine „Herrschaft des Unrechts“ verantwortlich zu sein. Er hat das für nötig gehalten, um Merkel auf einen anderen Kurs zu zwingen, den der CSU. Nun muss er seinen aufgebrachten Mitgliedern diese fremd gewordene Frau wieder näherbringen. Die CSU braucht dabei noch Zeit, doch allzu viel hat sie nicht mehr. Spätestens bis zur Bundespräsidentenwahl Mitte Februar müsse die Einheit der Union wiederhergestellt sein, heißt es intern. Seehofer sieht darin eine Signalwirkung für die Bundestagswahl. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg soll auch die für Anfang nächsten Jahres geplante gemeinsame Klausur von CDU und CSU in München sein. Den ersten Schritt aber muss Seehofer auf dem CSUParteitag machen. Entsprechend groß ist die Spannung, als Seehofer kurz vor 16 Uhr ans Pult tritt. Er spricht über die Erfolge seiner Partei in Berlin, zuletzt bei der Reform des Län- Horst Seehofer gibt den Gelassenen: Er stehe mit Angela Merkel in so engem Kontakt, ein „Gefühl des Vermissens“ könne gar nicht entstehen. FOTO: CHRISTOF STACHE/AFP derfinanzausgleichs und der Erbschaftsteuer. Er redet über die Notwendigkeit des Wandels in Zeiten der Globalisierung. Und über die Unsicherheit der Menschen angesichts all des Wandels auf der Welt. Dabei kommt er dann endlich auf die Flüchtlingspolitik. Es brauche „realistische Antworten“, sagt er. Die Menschen wollten „Orientierung und Ordnung“ – und die bekämen sie mit der CSU. Der wichtigste Auftrag seiner Partei sei, dass „die Lebenswirklichkeit der Menschen wieder in den Mittelpunkt der Politik in Berlin gerückt wird“. Auf neue Angriffe auf Merkel verzichtet er jedoch. Es bringe nichts, die Unterschiede zur CDU auch noch zu zelebrieren, sagen Seehofers Leute. Stattdessen sei eine Kampfansage an ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis im Bund nötig. Der gemeinsame Gegner, eine klare Positionierung gegen Islamismus – das ist die Stoßrichtung, mit der die CSU-Spitze ihre Basis wieder mitnehmen will auf dem Weg zu einer geschlossenen Union. Und wie sieht die Schwesterpartei den Parteitag? Die Erwartungen in der CDUFührung sind erstaunlich klein. Man hoffe „auf den Beginn einer Schubumkehr“ bei der CSU, heißt es. Seehofer müsse „seine Leute wieder daran gewöhnen, dass der politische Feind in der anderen Richtung steht“. Die CSU habe ja schon erfreulich klargemacht, dass es jetzt nicht mehr gegen die CDU, sondern gegen Rot-Rot-Grün gehen solle. In der CDU setzen sie darauf, dass Seehofer es in den kommenden Wochen schafft, seine Basis trotz aller Vorbehalte für die geplante Annäherung mit der Schwesterpartei zu gewinnen. Die Rede auf dem CSU-Parteitag könnte dabei ein Anfang gewesen sein. Seite 6 Bestürzung über Erdoğans Kurs Berlin – Nach einer Annäherung im Streit mit der EU-Kommission rechnet Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) mit einem Start der Pkw-Maut frühestens nach der Bundestagswahl im kommenden Herbst. Der Termin werde erst in der nächsten Wahlperiode liegen, sagte er am Freitag in München. Vorher seien die nötige Gesetzesänderung, eine Ausschreibung und die technische Einführung nicht zu stemmen. Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte einem Kompromiss am Freitag allerdings enge Grenzen. Dass auf deutsche Autofahrer zusätzliche Kosten zukommen, sei ausgeschlossen, sagte ihr Sprecher Steffen Seibert. Die Kommission greift eine entsprechende Passage des Gesetzes an, nach der deutsche Autofahrer dank einer geplanten Steuerentlastung in gleicher Höhe nichts für die Maut zahlen würden. Sie kritisiert eine Diskriminierung ausländischer Autofahrer und fordert eine Änderung. mbal, nif, gam Seite 2 Genoveva • Hilarius • Emerentia • Aquilin • Eulalia • Rabanus • Perpetua • Guntram • Vidal • Opportuna • Cölestin • Philomena • Octavian • Munditia Der große Namenskalender der SZ Heute in dieser Ausgabe MIT STELLENMARKT Dax ▼ Dow ▲ Euro ▲ Xetra 16:30 h 10251 Punkte N.Y. 16:30 h 17964 Punkte 16:30 h 1,1119 US-$ - 0,72% + 0,19% + 0,0016 Die türkische Regierung lässt die Führung der kurdischen Opposition festsetzen – Gauck fordert eine Antwort Europas Istanbul – Mit der Festnahme und Inhaftierung oppositioneller kurdischer Spitzenpolitiker am Freitag steht das angespannte deutsch-türkische Verhältnis vor einer neuen Belastungsprobe. Die Vorsitzenden der kurdischen Partei HDP, Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ, sind in Haft genommen worden, bei Razzien in der Nacht wurden mindestens elf HDP-Parlamentarier und Politiker festgenommen. Die Justiz wirft ihnen vor, die kurdische Terrororganisation PKK zu unterstützen. Die HDP sprach von einem schwarzen Tag für die Türkei und dem „Ende der Demokratie“. Die PKK rief zur Ausweitung ihres Kampfes gegen die türkische Regierung auf. Ein Sprecher der Bundesregierung nannte die Festnahmen „in höchstem Maße alarmierend“. Mit denselben Worten hatte Kanzlerin Merkel auf Ankaras Vorgehen gegen die Oppositionszeitung Cumhuriyet reagiert. Deren Chefredakteur und DIZdigital: Alle Alle Rechte Rechte vorbehalten vorbehalten –- Süddeutsche Süddeutsche Zeitung Zeitung GmbH, GmbH, München München DIZdigital: Jegliche Veröffentlichung Veröffentlichungund undnicht-private nicht-privateNutzung Nutzungexklusiv exklusivüber überwww.sz-content.de www.sz-content.de Jegliche zahlreiche Journalisten der Zeitung waren festgenommen worden. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bestellte den türkischen Geschäftsträger in Berlin ein. Niemand bestreite das Recht der Türkei, der Bedrohung durch Terrorismus entgegenzutreten. Dies dürfe jedoch nicht als Rechtfertigung dienen, „die politische Opposition mundtot zu machen oder gar hinter Gitter zu bringen“, so Steinmeier. Indirekt soll er der Türkei mit einem Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen gedroht haben. Auch Bundespräsident Joachim Gauck übte deutliche Kritik. Im Spiegel sprach er von einer Eskalation, welche die Europäer „nicht unbeantwortet“ lassen könnten. Er frage sich, ob diese Politik der Türkei die „endgültige Abkehr vom Weg in Richtung Europa“ sei. EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini zeigte sich bestürzt. Sie sei in Kontakt mit den Behörden und habe ein EU-Botschaftertreffen in Ankara einberufen. Kritik aus Deutschland und Europa an ihrem Vorgehen hatten die türkische Regierung und Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan bisher brüsk zurückgewiesen. Ministerpräsident Binali Yıldırım verteidigte die Festnahmen vom Freitag als „rechtskonforme Prozedur“. Die Politiker waren Vorladungen im Zuge der Terror-Ermittlungen nicht nachgekommen. Yıldırım sagte, die Parlamentarier würden die „Hoheit des Rechts“ missachten. Im Frühjahr hatte das Parlament auf Betreiben der islamisch-konservativen AKP-Regierung die Immunität vieler Abgeordneter aufgehoben. Dies traf Politiker aller Parteien, hatte aber auf keine so schwerwiegende Auswirkungen wie auf die HDP, deren fast gesamte Fraktion von Ermittlungen betroffen ist. Die Regierung hält die HDP für den parlamentarischen Arm der PKK, die seit anderthalb Jahren wieder verstärkt Terroranschläge verübt. Im Sommer 2015 war der Friedensprozess zwischen PKK und Regierung zum Erliegen gekommen. Seither hat die HDP größte Mühe, sich von der PKK-Gewalt zu distanzieren. Andererseits verkörpert kein Politiker wie HDP-Chef Demirtaş die Gegnerschaft zu Erdoğan. Mit dem Versprechen, nie zuzulassen, dass Erdoğan sich mit dem Wechsel zum Präsidialsystem zu noch mehr Macht verhilft, hatte Demirtaş die HDP 2015 ins Parlament geführt. Erdoğan musste seine Pläne auf Eis legen. Derzeit macht er einen neuen Anlauf. Stunden nach den Festnahmen explodierte in der Kurdenmetropole Diyarbakır eine Autobombe. Mindestens acht Menschen starben, Dutzende wurden verletzt. Die Regierung vermutet die PKK als Urheber. Proteste gegen die Festnahmen gab es am Freitag in mehreren Städten der Türkei. In Köln wollen Kurden an diesem Samstag demonstrieren. Die Veranstalter erwarteten 10 000 bis 15 000 Teilnehmer. mike szymanski Seiten 4 und 7 DAS WETTER ▲ TAGS 14°/ 0° ▼ NACHTS Es ist überwiegend stark bewölkt mit örtlich anhaltendem Regen. Im äußersten Südosten gebietsweise Sonne, gegen Abend auch hier Schauer. Temperaturen fünf bis 14 Grad. Seite 14 Süddeutsche Zeitung GmbH, Hultschiner Straße 8, 81677 München; Telefon 089/2183-0, Telefax -9777; [email protected] Anzeigen: Telefon 089/2183-1010 (Immobilien- und Mietmarkt), 089/2183-1020 (Motormarkt), 089/2183-1030 (Stellenmarkt, weitere Märkte). Abo-Service: Telefon 089/21 83-80 80, www.sz.de/abo A, B, F, GR, I, L, NL, SLO, SK: € 3,90; dkr. 31; £ 3,60; kn 35; SFr. 5,00; czk 115; Ft 1050 Die SZ gibt es als App für Tablet und Smartphone: sz.de/plus
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