Der am meisten Überschätzte

Sonntag, 6. November 2016
15.04 – 17.00 Uhr
Georg Solti.
Von Kai Luehrs-Kaiser
19. Folge: „Der am meisten Überschätzte“:
Solti und die Berliner Philharmoniker
Herzlich willkommen, meine Damen und Herren. Heute geht es ans Eingemachte.
Unser Thema: „Der am meisten Überschätzte“: Georg Solti und die Berliner
Philharmoniker.
1
Decca
LC 00171
430 447-2
Track 006
Gustav Holst
The Planets
VI. Uranus
London Philharmonic Orchestra
Ltg. Georg Solti
1978
5’36
Die „Planeten“ von Gustav Holst, hier mit „Uranus“, gespielt vom London
Philharmonic Orchestra, dirgiert von Georg Solti im Jahr 1978.
Warum? Nun, Solti war ein Planet auf der Endlos-Umlaufbahn, besonders von Berlin
aus, wo man ihn selten persönlich antraf, da Berlin ja das Terrain eines scharfen
Konkurrenten Soltis war und blieb. Berlin mit seinen Berliner Philharmonikern war
Karajan-Territorium. Also traf auf Solti zu, was man über viele mächtige Dirigenten
der Karajan-Zeit gilt: Sie mussten draußen bleiben.
So ging es nicht nur Solti, sondern – in Bezug auf die Philharmoniker – auch anderen
Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Pierre Boulez, Carlos Kleiber, Leonard
Bernstein, Sergiu Celibdache und etlichen anderen, die höchstens mal für einen
Anstandsbesuch nach Berlin geholt wurden; im übrigen aber als persona non grata
sehen konnten, wie sie anderwo selig wurden.
Diesem pikanten und etwas nebulösen Sachverhalt wollen wir uns heute ein wenig
widmen. Es ist nicht so, dass Solti absolutes Dirigierverbot in Berlin gehabt hätte.
Offiziell gibt es, wenn ich richtig sehe, drei Schallplattenprojekte, die Georg Solti mit
den Berliner Philharmoniker realisierte. Darunter befindet sich eine Platte mit
Werken von Richard Strauss, entstanden 1996 – klar, das war nach Karajans Tod.
Vor Beginn der Ära Karajans, nämlich 1952, entstand eine Berliner Aufnahme des
Beethoven-Violinkonzertes mit dem Solisten Gerhard Taschner, die wir später in
dieser Sendung hier noch kennenlernen werden.
Und dann gibt es natürlich noch die Gesamtaufnahme des „Falstaff“ von Giuseppe
Verdi; aufgenommen 1993, und damit gleichfalls aus der Nach-Karajan-Zeit; also
Georg Solti – 19. Folge
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aus einer Epoche, wo man sich plötzlich an zahlreiche der ursprünglich gemiedenen
Karajan-Rivalen erinnerte. Und es hat sich gelohnt. Wie so häufig ist gar nicht leicht
zu entscheiden, wo genau Solti Posion bezieht zwischen den zahlreichen
Deutungsweisen, die man bisher bei diesem oft und oft sehr gut aufgenommenen
Werk beobachtet hat.
Soltis „Falstaff“ ist nicht pessimistisch so wie der von Carlo Maria Giulini. Er ist kein
Theaterzunder wie bei Leonard Bernstein. Er übt sich nicht in toscaninihaft
federnder Rhythmik wie bei Karajan. Und erkundet auch keinen ShakespeareZauberwald wie später Claudio Abbado.
Er ist – wie könnte es anders sein – einfach eine Solti-Supershow. Und man hört den
Spaß, den Solti an den fulminanten Berliner Philharmoniker hatte – am verbotenen
Spielzeug, das er nun plötzlich in Händen hielt.
Sie hören die Szene, in der Falstaff der abgefeimten Mrs. Quickly auf den Leim geht.
Mit José van Dam und Marjana Lipovsek.
2
Decca
LC 00171
440 650-2
Track 111,
112, 113
Giuseppe Verdi
“Siam pentiti e contriti!” (Beginn) aus “Falstaff”, 2.
Akt
José van Dam, Bass-Bariton (Falstaff), Marjana
Lipovsek, Mezzo-Sopran (Quickly), Pierre Lefebvre,
Tenor (Bardolfo), Mario Luperi, Bass (Pistola)
Berliner Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
Berlin, März 1993
7’56
Der Beginn des 2. Aktes, also gleichsam das Auswerfen des Köders für Sir John
Falstaff, hier in der Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Georg Solti
im März 1993. Die Solisten waren José van Dam als Hosenband-Kostgänger John
Falstaff und Marjana Lipovsek als Mistress Quickly (umrahmend hörten Sie
außerdem Pierre Lefebvre als Bardolfo und Mario Luperi, Pistola).
Kein Zufall, dass man für das große Versöhnungsprojekt zwischen Solti und den
Berliner Philharmonikern dieses Spät- und Meisterwerk Verdis ausgewählt hatte.
Nicht nur, weil Solti ein so ingeniöser Verdi-Dirigent war. Nein, man muss wissen:
“Falstaff” war ein Herzstück Karajans gewesen; aber die beiden Gesamtaufnahmen,
mit denen Karajan seine Orchester betraut hatte, waren in der Vergangenheit eben
nicht in Berlin entstanden, sondern in London und Wien (mit Tito Gobbi einerseits
und Giuseppe Taddei andererseits); dieser Umstand war Spiegel der Tatsache, dass
Karajan alle möglichen Aufgaben nicht nur klug auf verschiedene Orchester
verteilte, sondern diese Orchester eben auch klug gegeneinander auszuspielen
verstand.
Wenn es einmal wieder Probleme und Zickereien in Berlin gab, dann war jahrelang
Karajans patente Taktik, sich spontan auf seine Liebe zu den Wiener
Philharmonikern zurückzubesinnen. So war etwa Verdi ein Komponist gewesen, für
den Karajan die Berliner Philharmoniker nur selten für würdig befunden hatte.
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Georg Solti – 19. Folge
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Übrigens, das muss wahr sein: Karajan hatte mit den Berliner Philharmonikern bei
Verdi auch nicht viel Glück: die drei Verdi-Gesamtaufnahmen, die Karajan in Berlin
realisierte (es waren „Trovatore“ „Don Carlo“ und „Otello“), gehören nicht zu den
Glanzstücken seiner Diskographie.
Langer Rede kurzer Sinn: Dass man Karajans Erz-Konkurrenten Georg Solti, kaum
dass Karajan tot war, ausgerechnet auf Verdi ansetzte, kam einer Retourkutsche
gleich. Und sie hatte Erfolg: Soltis „Falstaff“, kein Zweifel, ist besser als alle
genannten Berliner Aufnahmen Karajans von „Trovatore“ „Don Carlo“ und „Otello“.
Natürlich hat es, wie Sie ahnen, viel böses Blut hinter den Kulissen gegeben, bis es
einmal zu dem eben gespielten, heiter komödiantischen Kehraus nach Art von
„Alles ist Spaß auf Erden“ kommen konnte. Es ist eben nicht alles Spaß auf Erden.
Eine Reportage des Magazins „Der Stern“ war es – vor vielen Jahren, inmitten der
Karajan-Zeit –, die zum Skandal und zum Zerwürfnis zwischen Solti und den
Berliner Philharmonikern geführt hatte.
Sei es, dass sich die Animositäten Karajans gegenüber Solti auf das Orchester
übertragen hatten – oder dass die Erfahrungen mit Solti wirklich nicht gut gewesen
waren...: Auf Befragen, wie die Musiker der Berliner Philharmoniker eine ganze
Reihe von Gastdirigenten im Allgemeinen und Besonderen bewerten, antwortete
man damals, es war Bestandteil der Stern-Reportage, sinngemäß, bei Georg Solti
handele es sich um den am meisten überschätzten Dirigenten der Gegenwart.
Der Hieb saß. Solti war beleidigt und für viele Jahre in Berlin unmöglich – und zwar,
ganz ohne dass Karajan selber ein Wort der Despektierlichkeit hätte äußern
müssen. Das war sehr praktisch für Karajan – und durchaus untypisch. In anderen
Fällen, zum Beispiel bei dem von Karajan nicht sehr geliebten Daniel Barenboim,
wurde Karajan selber mit den Worten zitiert: „Na ja, da gibt es Bessere...“
Gießen wir ein wenig Öl ins Feuer. Hier kommt Herbert von Karajan mit den Berliner
Philharmonikern – und der Ouvertüre zu jener Oper, die Soltis Glück bei den
Philharmonikern im Titel trägt: „Un giorno di regno“ – König für einen Tag!
3
DG
LC 00173
453 058-2
Track 102
Giuseppe Verdi
Ouvertüre zu „Un giorno di regno“, 1. Akt
Berliner Philharmoniker
Ltg. Herbert von Karajan
(P) 1976
5’21
Die Ouvertüre zu „Un giorno di regno“ von Giuseppe Verdi. Die Berliner
Philharmoniker hier unter Leitung von Herbert von Karajan im Jahr 1975.
Das persönliche Verhältnis zwischen Karajan und Solti – und damit den Grund für
das Zerwürfnis mit den Berliner Philharmonikern – haben wir hier schon ausgiebig
beleuchtet. Solti übernahm indes von Karajan nach dessen Tod spontan die Leitung
von Vorstellungen bei den Salzburger Pfingstfestspielen – Karajan war ja direkt
während der Proben zu „Un ballo in maschera“ (mit den Wiener Philharmonikern)
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Georg Solti – 19. Folge
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1989 gestorben; die Leitung in Berlin hatte er schon vorher abgegeben (was gern
vergessen wird). Dass Solti in Berlin für die Karajan-Nachfolge nicht wirklich in
Betracht gezogen wurde, lag schlichtweg an Altersgründen: Solti hätte zu diesem
Zeitpunkt den Berliner Philharmonikern keine Perspektive mehr geben können, und
er starb ja auch 1997.
Solti war kein Übelnehmer – hier wie dort. Und genau das zeichnet ihn in seiner
Superiorität und Souveränität aus. Der Sachverhalt lässt sich sogar ins
Grundsätzliche wenden. Solti war – nach dem Kalten Krieg zwischen ihm und Berlin
– von sich aus sozusagen der erste, der die Hand zur Versöhnung ausstreckte. Und
der damit weiter blickte als die damals noch voll wirksame Nachkriegszeit es
eigentlich nahelegte. Denn dort unterschied man noch sehr scharf und kategorisch
zwischen Freund und Feind.
Solti stand durchaus über dergleichen Antinomien. Und das, obwohl er doch als von
den Nazis verfolgter und zur Emigration gezwungener Künstler direkt und
schmerzhaft genug aus dieser Zeit hervorgegangen war.
Ich muss sagen, wir haben es hier mit einem Punkt zu tun, an dem wir sehen
können, wie sehr Solti einem Kriterium wahrhaft großer Künstler entspricht:
nämlich dem Kriterium, über die Grenzen seiner Zeit hinaus zu blicken – und ein
Maß an Unabhängigkeit und Enthobenheit zu zeigen, das ihn von anderen
unterscheidet.
Bevor wir uns der Frage zuwenden, ob – bei alldem – Solti vielleicht doch auch
Grund hatte, auf mittlerer Distanz zu den Berliner Philharmonikern zu bleiben –
hören wir ihn hier: auf der Höhe seiner Kunst. Mit dem 2. Satz: Scherzo. Wuchtig
aus Mahlers Symphonie Nr. 6. Hier, wie es sich gehört, mit dem Chicago Symphony
Orchestra.
4
Decca
LC 00171
430 804-2
Track 602
Gustav Mahler
Symphonie Nr. 6
II. Scherzo. Wuchtig
Chicago Symphony Orchestra
Ltg. Georg Solti
1970
12’35
Der 2. Satz: „Scherzo. Wuchtig“ aus der Symphonie Nr. 6 von Gustav Mahler. Eine
der Meister-Aufnahmen Georg Soltis, 1970 mit dem Chicago Symphony Orchestra.
Georg Solti, meine Damen und Herren, war ein herausragender Dirigent seiner Zeit,
gerade weil er die Kampfansage und den Platzverweis seitens Karajans und der
Berliner Philharmoniker annehmen und aushalten konnte, und zwar, ohne dadurch
in seinem Lauf auch nur im Geringsten irritiert zu werden. Er blieb unabhängig in
seinem Satelliten-Status, und eben dies kann man deswegen nicht hoch genug
veranschlagen, weil Solti eigentlich Grund gehabt hätte, aus eigenem Antrieb auf
Distanz zu gehen zur ‘Berliner Ästhetik’; also zu dem, was von Karajan im Grunde
weltumspannend zum Standard der 60er bis 80er Jahre gemacht wurde.
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Georg Solti – 19. Folge
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Halten wir uns kurz bei dieser Frage auf. Die Ästhetik der 60er bis 80er Jahre, von
der bereits heute nicht mehr viel übrig ist, bestand, kurz gesagt, in einer Putzaktion
gigantischen Umfangs.
Die Orchesterbesetzungen wurden größer, um die Brillanz zu steigern. Die
Klangoberflächen wurden künstlich geglättet, um den luxurierenden Eindruck
verschwenderischen Klang- und Obertonreichtums zu erzeugen. Alle Bogen- und
Ansatzgeräusche der Instrumente beim Spielen wurden möglichst unhörbar
gemacht. Im Studio wurde durch Schnitt und Playback-Verfahren der Prozess der
musikalischen Hervorbringung möglichst verleugnet und denaturiert. Die Solisten
von Opernproduktionen wurden getrennt vom Orchester aufgenommen. Bei
Karajans Einspielung der ”Orgel-Symphonie” von Camille Saint-Saens wurde die
Orgel ganz selbstverständlich aus der Pariser Kathedrale “Notre-Dame” zugespielt.
Für all diesen technischen Schnickschnack und Fortschritt in der Musik war Karajan
in Berlin der Motor und Schrittmacher der Bewegung. Die Berliner Philharmoniker,
von ihm zum, wie man sagte: “besten Orchester der Welt” gemacht, bestachen
durch eine bislang ungeahnte Klangfinesse, durch neue Instrumente und einen – auf
dem Höhepunkt dieser Entwicklung – geradezu verstrahlten (von Obertönen
strotzenden) Orchesterklang.
Und Solti? Und all die anderen? Sie folgten – mit wenigen Ausnahmen – diesem
Klangideal, als sei dies ganz selbstverständlich. Selbst wenn man sich Aufnahmen
Sergiu Celibidaches in München (in den 80er Jahren) oder von Claudio Abbado in
den 70ern in London anhört (obwohl doch Abbado nach Karajans Tod dessen
Klangideal als erster demontierte), so steht man bass erstaunt vor der
Einheitlichkeit der hier vertretenen Klangauffassungen.
Solti macht in dieser Reihe keine Ausnahme. Denn: Mit Ausnahme seiner
rhythmischen Spezialbegabung und seines Universalgewürzes: Pfeffer, das er
verschwenderisch und regelmäßig ausstreute, gibt es auch bei Solti in London oder
Chicago dieselben, polierten Klangoberflächen, dasselbe Brillanzstreben wie bei
Karajan. Nur dass Solti stärker und länger andauernd dem Präzisionsideal
Toscaninis verpflichtet blieb als dies bei Karajan der Fall war (dessen rhythmische
Genauigkeit sich mit den Jahren leicht verschliffen hatte).
Solti, wenn er eine Eigenständigkeit gegenüber Karajans Berlin hätte für sich
beanspruchen wollen, wäre, mit anderen Worten, klug beraten gewesen, sich neue,
andere Insprirationsquellen und Paradigmen anzuschaffen. Er tat dies nicht. Und
man muss sich beinahe wundern, dass er trotzdem eine Originalität entwickelte
(und eine eigenständige diskographische Linie fahren) konnte, die weit hinausgeht
über das, was etwa Lorin Maazel, Riccardo Muti oder Zubin Mehta in vielen Jahren
erreicht haben.
Der folgende Finalsatz: Langsam – Lebhaft – Schneller - Presto aus Schumanns
Symphonie Nr. 4 d-Moll op. 120, ein Leib- und Magenwerk schon Furtwänglers, und
auch Karajans, unterscheidet sich nicht kategorial von den Deutungen anderer
Dirigenten der damaligen Zeit. Es ist derselbe, eher schwergewichtige romantische
Duktus, dieselbe Klangsinnlichkeit. Mit diesem verbindenden Paradigma haben erst
spätere Dirigenten, die von Ideen der historischen Aufführungspraxis durchdrungen
waren, aufgeräumt. Georg Solti mit den Wiener Philharmonikern im Jahr 1969.
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Georg Solti – 19. Folge
5
Decca
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448 930-2
Track 111
Robert Schumann
Symphonie Nr. 4 d-Moll op. 120
IV. Langsam – Lebhaft – Schneller – Presto
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1969
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7’52
Der 4. Satz: Langsam – Lebhaft – Schneller – Presto aus der Symphonie Nr. 4 d-Moll
op. 120 von Robert Schumann. Georg Solti dirigierte die Wiener Philharmoniker im
Jahr 1969.
Solti war als Antipode für die Berliner Philharmoniker, so können wir jetzt folgern,
eben deswegen prädestiniert, weil er ihnen – ästhetisch gesehen – zu nahe war, um
nicht als Karajans Rivale eine Gefahr darzustellen. Und weil er zu mächtig war, als
dass man diese Bedrohung einfach so hätte ignorieren können.
So war eine gewisse Ablehnung Soltis durch die Berliner Philharmoniker – nicht nur,
aber auch als Ergebenheitsadresse in Richtung Karajan – eine ganz folgerichtige
und beinahe selbstverständliche Sache. Auch Bernstein hätte durch einen Fluch des
Orchesters getroffen werden können, hätte Bernstein nicht doch von ganz anderem
Terrain aus operiert – nämlich vom amerikanischen Repertoire aus, dem er selber
als Komponist zugehörte; und von Mahler aus, der bekanntlich für Karajan lange
Jahre keinerlei Bedeutung hatte.
Solti dagegen war durch seine Wagner-Aufnahmen, durch Beethoven und Bruckner
– und vor allem durch die Tatsache, dass er Europäer war, seinem Rivalen Karajan
und den seinen ein ganz natürlicher Dorn im Auge. Selbstverständlich verdrängte
man in Berlin, wenn man den Abstand zwischen sich und Solti hervorhob, die
Tatsache, dass Solti schon kurz nach dem Krieg als Gast bei den Berliner
Philharmonikern aufgetreten war.
Hören wir, bevor wir uns Repertoire und Gastspiele Soltis bei den Berliner
Philharmonikern vor Augen führen, das einzige Dokument, was es nach dem Kriege
bis auf eine CD geschafft hat. Am 24. März 1952 dirigierte Georg Solti beim
Berliner Philharmonischen Orchester unter anderem das Violinkonzert D-Dur op.
61 von Ludwig van Beethoven. Der Solist war Gerhard Taschner, den der damalige
Chef Wilhelm Furtwängler 1941 (Taschner war damals 19 Jahre alt) als 1.
Konzertmeister zu den Berliner Philharmonikern geholt hatte. Er blieb bis zum 1.
April 1945, um dann eine wechselvolle solistische Karriere anzuschließen. Sie
hören den 1. Satz: Allegro ma non troppo; die Aufnahme stammt, wie gesagt, von
1952.
6
Tahra
LC o.A.
TAH 461
Track 004
Ludwig van Beethoven
Violinkonzert D-Dur op. 61
I. Allegro ma non troppo
Gerhard Taschner, Violine
Berliner Philharmonisches Orchester
Ltg. Georg Solti
Berlin, 24. März 1952
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23’07
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Georg Solti – 19. Folge
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Der 1. Satz: Allegro ma non troppo aus dem Violinkonzert D-Dur op. 61 von Ludwig
van Beethoven. Der Solist: Gerhard Taschner. Georg Solti dirigierte das Berliner
Philharmonische Orchester am 24. März 1952.
Soltis Verbindung zu den Berliner Philharmonikern geht zurück bis auf das Jahr
1947. Solti, damals 35 Jahre alt, war relativ frisch aus der Emigration
zurückgekehrt. Das philharmonische Leben hatte bereits gleich nach Kriegsende
wieder neu begonnen. Eine Vielzahl von Dirigenten kam zum Zuge, deren Namen
heute vergessen sind. Das bezieht sich nicht nur auf Leo Borchard, den
interimistischen Chefdirigenten bis zum 23. August 1945 – als Borchard auf
offener Straße von einer Patrouille erschossen wurde (und zwar vermutlich
irrtümlich).
1947 hatte Sergiu Celibidache kommissarisch die Geschäfte als Chefdirigent der
Berliner Philharmoniker übernommen; weil sich Wilhelm Furtwängler noch einem
Entnazifizierungsverfahren unterziehen musste.
In der Reihe, in der Solti im November 1947 erstmals am Pult der Philharmoniker
erschien, dirigierten neben ihm auch folgende Dirigenten das Orchester: John
Bitter, Berthold Lehmann, Andzej Panufnik und Max Thomas. Außerdem – als
einziger, heute noch bekannter Name – Eugen Jochum. Man sieht, es war eine Zeit,
in der, wie Dietrich Fischer-Dieskau es einmal ausgedrückt hat, “jeder, der etwas
konnte, auch sofort etwas war”.
Von den vier Konzerten, mit denen Solti an drei Tagen am 23., 24. und 30.
November in Berlin debütierte, fanden die ersten beiden im Titania-Palast in BerlinSteglitz statt. Eine Wiederholung gab es im Haus des Rundfunks (im selben
Gebäude, in dem diese Sendereihe produziert wird); eine weitere in der Städtischen
Oper (die damals in der Kantstraße im Theater des Westens residierte).
Auf dem Programm standen folgende Werke: Mozarts Symphonie Nr. 35 KV 385.
Sodann Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 und Schuberts “Große” C-DurSymphonie. Ein Programm, wie man es sich genau so auch noch in den 90-er
Jahren, als Solti wiederholt zu den Berliner Philharmonikern zurückkehrte, hätte
vorstellen können. Zu den prägenden Dirigenten zählte Solti (trotz gelegentlicher
Gastspiele) in Berlin nicht.
Wir haben hier Anlass, an das das zeitige Konzert-Debüt Soltis in Berlin, aus dem so
wenig folgte, mit einem der Werke zu erinnern, das der Ungar damals dirigierte.
Von Mozarts Symphonie Nr. 35 hat Solti keine Aufnahme hinterlassen. Beethoven
haben wir heute schon gehört... Wenden wir uns also mit Schuberts C-DurSymphonie einem Werk zu, das einen interessanten Fall in Berlin darstellt, und zwar
insofern, als es zu den stärksten Stücken Furtwänglers gehörte, während Karajan
zugab, dass es ihm – wie alles von Schubert – nicht gelungen sei.
Solti, als er im November 1947 die Neunte von Schubert dirigierte, setzte sich
direkt einem Kräftemessen mit Wilhelm Furtwängler aus – und das mit einem Werk,
mit dem er womöglich Karajan hätte übertrumpfen können (der aber damals noch
weit entfernt davon war, mit Berlin liebäugeln zu können).
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Georg Solti – 19. Folge
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Wir hören den 2. Satz: Andante con moto. Georg Solti tröstet sich im Jahr 1981 mit
den Wiener Philharmonikern.
7
Decca
LC 00171
448 927-2
Track 202
Franz Schubert
Symphonie Nr. 9 C-Dur D 944 “Great”
II. Andante con moto
Wiener Philharmoniker
Ltg. Georg Solti
1981
15’23
Konziliant, höflich, streckenweise fast optimistisch klingend: Schubert im Glück! – in
Gestalt des 2. Satzes: Andante con moto aus der „Großen“ Schubert-Symphonie CDur D944.
Diese Sendung kann nicht zu Ende gehen ohne die Feststellung, dass Georg Solti –
angenommen, er wäre nach Furtwänglers Tod 1954 zu dessen Nachfolger bei den
Berliner Philharmonikern geworden, selbstverständlich eine gute Figur hätte
machen können. Die Geschichte wäre ähnlich verlaufen wie durch Karajan – denn
auch Solti, ganz genauso wie Karajan, bewegte sich ästhetisch gesehen zwischen
den Polen Toscanini und Furtwängler; beide Dirigenten neigten im Grunde
genommen mehr zu Toscaninis Seite. (Kein Wunder, denn wie hätte man auch von
dem mysteriösen und ekstatischen Furtwängler überhaupt lernen können; ihn kann
man bis heute nicht einmal kopieren, sondern nur anstaunen und bewundern...)
Solti, sage ich, wäre ein ähnlicher, ähnlich fortschrittsgläubiger, ästhetisch gesehen
auch ähnlich amerikafreundlicher Dirigent gewesen wie Karajan; denn er wurde es
ja auch ohnehin. Karajans Amerikanisierung der Berliner Philharmoniker – in Gestalt
der Orchesteraufstellung auf dem Podium, aber auch im Hinblick auf den BrillantKlang – vollzog Solti auf ganz ähnliche Weise. Nur dass Solti diese Entwicklung in
Amerika machte... während Karajan nur dorthin schielte.
Eine andere Frage ist, ob die Berliner Philharmoniker 1954/55, als über eine
Nachfolge für Furtwängler entschieden werden musste, für einen jüdischen
Dirigenten wie Solti bereit gewesen wären. Die politische Einbindung der
Philharmoniker als „Reichsorchester“ war (während der Nazi-Zeit) prominent und
einschlägig genug gewesen.
Auch ob Solti selbst dies gewollt hätte, ist durchaus ungewiss. Sein Weg nach
Deutschland – nach Stuttgart, München und Frankfurt – war schwierig genug
gewesen. Hören wir Solti zu diesem Komplex hier einmal selbst:
O
4
7
Jürgen
Christ im
Gespräch
mit Georg
Solti (1) (=
Nr. 12, Teil
1)
Interview Georg Solti 1997 (über den Gang nach
Deutschland nach dem Krieg, mit Jürgen Christ):
Man hat mich immer gefragt: Ja, wie konnten Sie als
Jude nach Deutschland, sofort. Ich war einer der
ersten Musiker… Darauf gibt es zwei Antworten.
Ganz klar, ich würde sogar in die Hölle zu gehen –
und fühlte mich wie Faust und Mephisto –, um zu
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1’40
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Georg Solti – 19. Folge
Track 001,
ab 8:23 bis
10:58
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arbeiten. Es brannte in mir, zu arbeiten. Zweitens,
ich habe dann sofort gesehen, dass mich die junge
Generation mit offenen Armen aufnahm. Hat man
mir immer gutgeschrieben, dass ich einer der ersten
Juden war, und dabei geblieben ist. Und das waren
die Gründe. Erstens, nicht alle waren Nazis, das habe
ich sofort gesehen. Und vor allem, die junge
Generation bis zum heutigen Tag ist da ganz
hervorragend. Die wollen mit den alten Sachen
nichts zu tun haben. (…) Es gibt immer noch böse
Geister. Die wollen das Unglück wieder verbreiten.
Eine Europäische Gemeinschaft kann das nicht mehr
tun. Deswegen bin ich ja so froh. Es kommt. Das ist
nicht aufzuhalten. Die Tendenz der Welt geht in
großen Blöcken. (…) (10:55) Die europäische
Einigung ist in der Luft.
Soweit Georg Solti über seinen Weg nach Deutschland nach dem Kriege – ein Gang,
der keiner nach Berlin wurde.
Hören wir zum Abschluss der heutigen Sendung einen Ausschnitt aus einer der
wenigen Platten, die uns Solti mit den Berliner Philharmonikern hinterlassen hat.
Aus „Also sprach Zarathustra“ – wir sind der Aufnahme von 1996 hier schon
begegnet – hören wir einige Takte ab: „Von der großen Sehnsucht“ und „Von den
Freuden und Leidenschaften“; mit den Berliner Philharmonikern unter Georg Solti.
8
Decca
LC 00171
452 603-2
Track 003, 004,
005, 006, 007
Richard Strauss
Also sprach Zarathustra op. 30
Berliner Philharmoniker
Ltg. Georg Solti 1996
11’55
In der nächsten Woche wenden wir uns hier an dieser Stelle einigen
unveröffentlichten Aufnahmen und Trouvaillen von Georg Solti zu. Bis dahin
können Sie – ab sofort und wie jedes Mal – Texte und Musiklisten zu dieser Sendung
im Internet nachlesen.
Ich bin Kai Luehrs-Kaiser und wünsche Ihnen noch: einen schönen Tag.
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