Sonntag, 17. Juli 2016 15.04 – 17.00 Uhr Georg Solti. Eine Sendereihe von Kai Luehrs-Kaiser 3. Folge: Eine Jugend in Budapest: Soltis Anfänge und Emigration Herzlich willkommen, meine Damen und Herren, zur 3. Folge unserer Sendereihe über den Dirigenten Georg Solti. Heute über: Eine Jugend in Budapest. Soltis Anfänge – und Emigration. 1 Decca LC 00171 436 610-2 Track 008 Bela Bartok Tanz-Suite III. Allegro vivace London Symphony Orchestra Ltg. Georg Solti 1965 2’49 Der 3. Satz: Allegro vivace aus der Tanz-Suite von Béla Bartók. Georg Solti dirigierte das London Symphony Orchestra – und ein Repertoire, für das er sich sogar noch in seiner Zeit in London stark engagierte (und in dem ihn einige Beobachter als am Besten empfinden): das Repertoire seiner ungarischen Heimat. Heute geht es um die Anfänge Georg Soltis – innerhalb unserer großen Sendereihe über einen der Rekordhalter unter den Dirigenten des Schallplatten-Zeitalters. Schallplatten-Zeitalters? Wieso?? Nun, wir stehen heute möglicherweise am Anfang eines Download-Zeitalters, in dem künftig gar nicht mehr so recht festzustellen sein mag, mit welchen ganzen Werken ein Dirigent oder ein Orchester große Erfolge feiern: Weil nämlich, sagen wir: von der 5. Symphonie von Beethoven immer nur noch der 1. Satz heruntergeladen wird... Nun, lassen wir dieses taufrische Medienzeitalter beherzt beiseite, und widmen wir uns der Jugend eines Mannes, der zur Schlüsselfigur seines musikalischen Zeitalters avancieren sollte. Georg Solti, einer der meistaufgenommen und jedenfalls der am häufigsten ausgezeichnete Dirigent von allen, kam vom Rande der industriellen Welt – aus Ungarn. Er fungierte, indem er zu Ruhm und Ehren kam, nicht zuletzt auch als Multiplikator des Repertoires, aus dessen Zentrum er kam: als Dirigent der Werke Bartoks, Kodalys, Dohnanyis und Weiners. Große ungarische Dirigenten gab es viele. Aber kaum einen, der in Gestalt der Treue zum Repertoire seiner Heimat so sehr der eigenen Jugend nachhing. Bevor wir uns einige Impressionen aus dieser Jugend vergegenwärtigen – nicht immer idyllische – kommt Solti hier: mit Franz Schubert all’ongarese! Die „Wandererphantasie“ – in der Bearbeitung durch Soltis Landsmann Franz Liszt. Der Solist ist Jorge Bolet. Zum Würzen angetreten: Georg Solti mit dem London Philharmonic Orchestra im Jahr 1986. Georg Solti – 3. Folge 2 Decca LC 00171 478 2374 Track 207, 208 Franz Schubert (Arr. Franz Liszt) Wandererphantasie III. Presto – IV. Allegro Jorge Bolet, Klavier London Philharmonic Orchestra Ltg. Georg Solti 1986 Seite 2 von 11 8’37 Die Sätze 3 und 4.: Presto und Allegro aus Franz Liszts Bearbeitung von Franz Schuberts Wandererphantasie für Klavier und Orchester. Der Solist im Jahr 1986: Jorge Bolet. Das London Philharmonic Orchestra wurde geleitet von Georg Solti. Nicht die einzige Aufnahme dieser Bearbeitung. Aber ich denke doch, dass Solti durch sein temperamentssprühendes Engagement für das Repertoire seines ungarischen Landsmannes Franz Liszt einen Popularitätsschub für dieses sonst eher vernachlässigte Werk bewirkt hat. Es gibt heute immerhin auch Einspielungen unter Mariss Jansons und Michael Gielen davon. Wenden wir uns nun der Kindheit und Jugend eines Dirigenten zu, der in den 60er bis 90er Jahren zu den mächtigsten weltweit zählen sollte. Am 21. Oktober 1912 war er unter dem Namen György Stern in Budapest zur Welt gekommen. Ein Babyfoto zeigt ihn – dem Stil der Zeit vor dem I. Weltkrieg entsprechend – in einem weißen Kleidchen, stolz auf einem Tisch sitzend zwischen den Eltern. Die ältere Schwester Lilly trägt einen Matrosenanzug. 1916 trägt der Knabe dann schon stolz ein Soldatenkostüm – mit Säbel und Mütze. Er salutiert. Ein drittes Foto zeigt ihn bis zu den Knien im flachen Wasser des Plattensees. Es folgen Bilder am Klavier, mit stets feuchten Augen, glutvoll und stolz blickend; das dicke Haar ist mühsam aus der Stirn gebürstet. Georg Solti, Sohn eines ungarisch-jüdischen Getreidehändlers namens Stern, der später sein Geld auch als Grundstücksmakler verdient. Soweit er es verdient. Wie im Leben so vieler hocherfolgreicher Männer ist der Vater kein guter Geschäftsmann. „Alles, was er berührt hat, war pleite“, so hat Solti – wir werden es nachher hören – über seinen Vater ausgesagt. Die dürftigen Verhältnisse der Familie, so hat es Soltis Biograph Paul Robinson beschrieben, suchte man „schamhaft zu verbergen“. Dass die als fast idyllisch erinnerten Verhältnisse der Kindheit eines bedeutenden Mannes in Wirklichkeit solche waren, in denen die knappe Kasse das Leben diktiert, ist ein interessantes Spezifikum so vieler bedeutender Biographien. Es waren Bedingungen, die Solti später keineswegs zu beschönigen neigte. Sie blieben aber immer präsent. Im Jahr 1973 kam es in London zu einer Schallplattenaufnahme, die hier kurz vorkommen soll, bevor wir Solti einige Takte aus seinem Leben selbst erzählen lassen. Mit dem London Philharmonic Orchestra, zu dessen Chef Solti hier noch nicht berufen war, traf man sich zu einer Gesamtaufnahme von Puccinis Oper „La Bohème“. Das Werk spielt in den bitter armen Verhältnissen von Künstlern, die um das eigene Überleben kämpfen. Die Sänger der Hauptrollen, Placido Domingo und Montserrat Caballé, erinnerten sich noch Jahrzehnte später mit Befremden der Tatsache, dass Solti bei dieser Oper auf die Idee verfallen war, seine Sänger möglichst ohne Vibrato, mit ganz geradem und möglichst unsentimentalen Ton singen zu lassen. Die Idee der gefühlvollen Versüßung dürftiger Verhältnisse – aus denen er nicht zuletzt selber stammte – war ihm offenbar unerträglich. Er wollte die ungeschminkte Wahrheit der Armut hören und darstellen. Georg Solti – 3. Folge Seite 3 von 11 Wenn er damit auch ein bis heute umstrittenes Schallplattendokument schuf – über sich selbst und das Verhältnis zur eigenen Vergangenheit hat er womöglich besser Auskunft gegeben als über Puccinis bis heute populärste Oper. Wir hören den Schluss des 3. Aktes. 3 RCA LC 00316 886972957 42,04 Track 707, 708 Giuseppe Verdi “Donde lieta” und “Che facevi, che dicevi” (Finale) aus “La Bohème”, 3. Akt Montserrat Caballé, Sopran (Mimì), Placido Domingo, Tenor (Rodolfo), Sherill Milnes, Bass-Bariton (Marcello), Judith Blegen, Sopran (Musetta) London Philharmonic Orchestra Ltg. Georg Solti 1973 8’24 Das Finale des 3. Aktes aus „La Bohème“ von Giacomo Puccini, aufgenommen 1973 mit einer exzellenten Besetzung: Montserrat Caballé als Mimì, Placido Domingo (Rodolfo), Sherill Milnes (Marcello) und Judith Blegen (als Musetta). Das London Philharmonic Orchestra unter Leitung von Georg Solti – dem Thema unserer Sendereihe im Kulturradio vom RBB. Sir Georg Solti, der Name klingt ungarisch zusammengesetzt (und um die Anfänge Soltis in Budapest geht es in der heutigen Folge). Tatsächlich wurde der Dirigent 1912 nicht als Georg Solti, sondern unter dem Namen György Stern geboren. Man befand sich inmitten einer Ungarisierungswelle der Magyaren – einer Nationalisierung, in der sich die Unabhängigkeitsbestrebungen innerhalb der k.u.k.Monarchie abzeichneten. In seiner Autobiographie „Solti über Solti“ – wir werden der Stelle zu einem späteren Zeitpunkt noch begegnen – hat Solti eingehend beschrieben, wie sehr schon die Schüler der damals zu Ende gehenden Donau-Monarchie gezielt indoktriniert, und das heißt: auf ihre unüberbrückbaren nationalen Unterschiede hingewiesen wurden. „Man sorgte dafür, dass die Untertanenvölker einander misstrauen und sich nicht mögen“, so Solti. Diese Strategie des Vielvölkerstaates begann sich nun zu rächen. Die DonauMonarchie hatte den Sprengstoff, der zu ihrem eigenen Untergang beitrug, selbst gelegt. Erst mit dem Ende des I. Weltkrieges freilich ging die österreichischungarische Doppelmonarchie zu Ende. Über die Hintergründe der Frage aber, wie aus dem Namen Stern, und zwar erst im Jahr 1926, der Name Solti wurde, hat der Dirigent viel später in Berlin (bei einer „Berliner Lektion“ im Renaissance-Theater) Auskunft gegeben. Er unterhielt sich damals mit dem Zeithistoriker Joachim Fest. O 12 Berliner Lektionen (= Nr. 5) Track 001, ab 15:35 bis 20:57 Interview Georg Solti 1995 (über seine Namenänderung von Stern zu Solti; mit Joachim Fest): Es war eine Ungarisierung. Eine Nationalisierung, die mit den Nazis noch nichts zu tun hatte. So kam ich zu diesem Namen. Meine Schwester auch. Aber meine Eltern nicht. (…) JF: Das hatte noch nichts mit Antisemtismus zu tun. 2’34 Georg Solti – 3. Folge Seite 4 von 11 (…) GS: Nein. (…) (17:40) Ich kam ganz unschuldig auf diese Welt. Ich war begabt. Ich darf es sagen. Ich habe in jungen Jahren schon Klavier gspielt. Meine Mutter hat es verboten. Gottseidank. (…) Dabei brauchten wir das Geld dringend. Wir waren arm. Ich komme aus einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie. Mein Vater war ein lieber Kerl. Aber ein unglückseliger Geschäftsmann. Alles, was er berührt hat, war pleite. Alles. Stellen Sie sich das vor. (…) Ich spreche jetzt von 1914 zu 1918. (…) Mein Vater, der liebe, dumme, hatte alles, was er hatte, in Kriegsanleihen angelegt. Als es dann 1920 zur Ausbezahlung kam, da hat mans nicht abheben können. Denn das Trambillet war mehr als der Erlös. Das war weg. (…) (20:10) Als ich zwölf Jahre alt waren, kam ich auf die Akademie. Und ich musste mein Schulgeld verdienen. Mit Unterricht-Geben. (…) Aber ich möchte die harten Anfänge meines Lebens nicht missen. Ich weiß, wie wichtig es ist, Geld zu verdienen. Ich weiß, wie wichtig es, das Geld nicht rauszuschmeißen. Wie wichtig es ist, für seine Familie zu sorgen. Das habe ich da gelernt. Ich möchte nichts an meinem Leben ändern. Nichts. (20:54) Trotz Scheußlichkeiten, die ich mitgemacht habe. 4 Decca LC 00171 430 387-2 Track 101, 102, 103 Richard Strauss “Die Karten fallen besser als das letzte Mal” (Anfang) aus “Arabella”, 1. Akt Judith Hellweg, Sopran (Kartenaufschlägerin), Ira Malaniuk, Mezzo-Sopran (Adelaide), Hilde Güden, Sopran (Zdenka), Anton Dermota, Tenor (Matteo Wiener Philharmoniker Ltg. Georg Solti 1957 9’15 Der Beginn von „Arabella“, der Oper von Richard Strauss, die – um es vorauszuschicken – meiner Auffassung nach vielleicht beste OpernGesamtaufnahme von Georg Solti. Der ungarische Dirigent, Gegenstand unserer Sendereihe hier im Kulturradio vom RBB, dirigierte die Wiener Philharmoniker im Jahr 1957. Und davor hörten Sie Georg Solti im Gespräch mit Joachim Fest – 1995 bei den Berliner Lektionen im Renaissance-Theater. Solti stammte, so könnte man sagen, aus ähnlich armen Verhältnissen wie im Libretto von Hugo Hofmannsthal; allerdings handelte es sich bei den Soltis bzw. Sterns nicht um verarmten Adel, sondern, wie Solti sagt, um eine „kleinbürgerliche jüdische Familie”. Musikalisch gesonnen war man schon. Zwar endete ein erster Besuch bei einer auf Ungarisch gesungenen Aufführung von Wagners „Meistersingern “ damit, dass der junge Mann während des 1. Aufzuges einschlief. Georg Solti – 3. Folge Seite 5 von 11 Bereits mit 5 ½ Jahren jedoch hatte man erkannt, dass der Junge über musikalisches Gehör verfügte. Eigentlich sollte er singen – so wie seine ältere Schwester Lilly –; aber das schmeckte ihm nicht so recht. So kaufte man ein altes Klavier, auf dem der junge Solti rasch so große Fortschritte machte, dass er seine ältere Schwester, die eine recht gute Sopranstimme hatte, auf dem Klavier begleiten konnte (und musste). Die Privatstunden bei einem Lehrer waren so erfolgreich, dass Solti bereits im Alter von 12 Jahren öffentlich zu konzertieren begann – als Pianist. Mit dreizehn Jahren (nach anderen Quellen allerdings erst mit fünfzehn) schrieb er sich – noch unter dem Namen György Stern – bei der Königlichen Franz-Liszt-Akademie in Budapest ein, an Ungarns führender Musikschule. Fünf Jahre blieb er dort, und es zählten Leo Weiner, Ernst von Dohnanyi und Zoltan Kodaly zu seinen Lehrern. Als Dohnanyi als Klavierlehrer wegen Krankheit ausfiel, wechselte Solti sogar zeitweilig zu dem großen Bela Bartok. Wir werden uns mit Soltis Nähe zur Musiktradition Ungarns später noch eingehender beschäftigen. Schon hier jedoch ist ein kurzes Haltmachen vor Solti als Bartok-Interpret angebracht. Im Jahr 1938 fungierte Solti bei einer Aufführung von Bartoks Sonate für zwei Klaviere und Schlagzeug als Umblätterer. Der Komponist selber gemeinsam mit seiner Frau spielten die Klavier-Parts. Nur die jüngeren Zuhörer applaudierten, wie sich Solti später ärgerlich erinnerte. Im Jahr 1953 entstand die früheste, maßstäbliche Aufnahme desselben BartokWerkes mit Georg Solti am Klavier. Sein Klavier-Partner war jetzt Geza Anda. Am Schlagzeug hören Sie Ludwig Porth und Karl Peinkofer. Solti hatte die Mission Bartok früh angenommen. Und früh umgesetzt. Wir hören den 3. Satz: Allegro non troppo. 5 Audite LC 04480 23.410 Track 210 Bela Bartok Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug, Sz 110 III. Allegro non troppo Geza Anda, Georg Solti, Klavier Ludwig Porth, Karl Peinkofer, Schlagzeug 6’13 Der 3. (und letzte) Satz: Allegro non troppo aus der – nicht unpopulären – Sonate für 2 Klaviere und Schlagzeug von Bela Bartok, hier gespielt im Jahr 1953 von Geza Anda und Georg Solti am Klavier. Am Schlagzeug: Ludwig Porth und Karl Peinkofer. Die Teenager-Jahre standen für Solti ganz entschieden nicht im Zeichen von Dirigierwünschen – sondern im Zeichen des Klaviers. Und: des Komponierens. Bei seinen frühen Kompositionen handele es sich um „Jugendsünden“, so wiegelte Solti später ab, wenn man ihn darauf ansprach. Der Bezug zum Komponieren ist jedoch nicht so unwichtig wie er uns heute scheinen könnte. Der praktische Erfolg vieler Dirigenten von einst ergab sich gerade daraus, in der Musik doppelt verwurzelt zu sein – nicht nur als reproduzierender, sondern ebenso als produzierender Künstler. Nicht allein Wilhelm Furtwängler wäre hier als Beispiel eines komponierenden Dirigenten (genauer wohl: eines dirigierenden Komponisten) zu nennen. Von Otto Klemperer und Bruno Walter gibt es eine Vielzahl von Kompositionen. Ebenso von Felix von Weingartner, Artur Schnabel, Wilhelm Kempff und vielen anderen großen Musikern ihrer Zeit. Sie kannten die Musik auch von der ‚anderen’ Seite. Georg Solti – 3. Folge Seite 6 von 11 Im Zusammenhang mit seinem Klavierspiel und seinen Kompositionen kam Solti immerhin schon in frühen Jahren auch mit dem Komponisten Zoltan Kodaly in Berührung. Eine punktuelle, aber doch lange nachwirkende Begegnung! Das hat Solti noch 1997, kurz vor seinem Tod, im Gespräch mit dem Journalisten Jürgen Christ erzählt. O 1 3 Jürgen Christ im Gespräch mit Georg Solti (1) (= Nr. 11) Track 001, ab 11:02 bis 15:00 Interview Georg Solti 1997 (mit Jürgen Christ): Mit 14 oder 15 Jahren, ich weiß es selber nicht mehr, da war ein Wettbewerb, ein pianistischer Wettbewerb in Budapest. Und ich habe mitgemacht. Ich habe den 1. Preis gemacht. Und meine Mutter hat gebeten den Präsidenten, Husar hieß er, ein Faschist… Und der hat mir eine Empfehlung törichterweise für Herrn Kodaly gegeben. Und Herr Kodaly war weitgehend links. Das habe ich alles nicht gewusst. Bin angekommen, mit meiner Mutter und ich. Meine Mutter hat mich für einen jungen Mozart gehalten. (…) Kompositionen aus der Jugendzeit… Er hat’s angehört und hat sehr vernünftig gesagt: Ja, der Junge hat Talent. Und zu meiner Mutter: Er soll die Schule fertig machen und dann zu mir kommen. Und ich werde ihn nehmen. Sehr vernünftig. Meine Mutter war beleidigt, dass ihr Mozart nicht genommen wurde. Und ging zu einem anderen Professor. Und der hat mich angenommen. So bin ich also mit 15 zum Kompositionsstudium gekommen. Und der Kodaly hat mich zwei Mal im Jahr geprüft. Schriftliche Aufgaben. (…) Dann ging ich als Korrepetitor mit 18 Jahren an die Oper. Und das war ein bisschen später, da haben wir ein Singspiel von ihm erstmalig aufgeführt, die “Siebenbürginsche Tanzspiel”. Und ich wurde gebeten, Kodaly zu seiner Loge zu führen. Und plötzlich ist er stehengeblieben, hat sich umgedreht und zu mir gesagt: Wissen Sie, Sie brauchten keine Empfehlung. Sie haben Ihren Weg sowieso gemacht. Er hat’s nie vergessen. Aber jetzt kommt das Schöne: Etwa 30 Jahre später habe ich in Salzburg dirigiert die Wiener Philharmoniker ein Konzert mit der 1. Mahler. Und nach dem Konzert sagte man mir: Prof. Kodaly und seine junge Frau möchten mit Ihnen sprechen. Natürlich kam er, ich war sehr gerührt. Wissen Sie, was er gesagt hat: “Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, dass ich so unfreundlich zu Ihrer Mutter war.” Das lag 40 Jahre zurück. “Aber der Schreiber war ein politischer Feind von mir. Ich konnte es nicht vertragen.” Was sagen Sie dazu! Eine ungeheuerliche Geschichte. 2’45 Georg Solti – 3. Folge Seite 7 von 11 Noch in seiner letzten Aufnahme überhaupt, im Jahr 1997, kehrte Georg Solti zum Werk Zoltan Kodalys zurück. Hören wir einen Ausschnitt aus dem „Psalmus hungaricus“ op. 13. Es spielt das (von Ivan Fischer gegründete) Budapest Festival Orchestra. Der Solist ist Tamás Daróczy. Chor und Kinderchor des Ungarischen Rundfunks. Die Leitung hat Georg Solti. 6 Decca LC 00171 458 929-2 Track 009, 010 Zoltan Kodaly Psalmus hungaricus op. 13 (II.) „Keserüségem annyi nem volna“ (III.) Adagio („Te azért lelkem, gondolatodat“) Tamás Daróczy, Tenor Choir and Children’s Choir of Hungarian Radio & TV Budapest Festival Orchestra Ltg. Georg Solti 1998 13’38 Kleiner ungarischer Akzent in unserer heutigen Folge über die Anfänge von Georg Solti in Budapest. Sie hörten den Schluss des Psalmus hungaricus op. 13 von Zoltan Kodaly. Der Solist war Tamás Darószy, Tenor. Chor und Kinderchor des Ungarischen Rundfunks sowie das Budapest Festival Orchestra unter Leitung von Georg Solti im Jahr 1998. Es handelt sich um die letzte Schallplattenaufnahme Soltis – und mit ihr kehrte der ungarische Dirigent, musikalisch gesehen, zu sein Anfängen zurück. Das Kapitel “Solti und Budapest” – innerhalb unserer Sendereihe über Georg Solti, ist im Grunde schmal. Seine Zeit in Ungarn wurde abrupt und frühzeitig beendet mit der Emigration. Der Zufall wollte es, dass Solti damals nur ein einziges Mal an der Budapester Oper dirigiert hat – und das an genau jenem Tag, der über die Notwendigkeit seines Exils entscheiden sollte. Keine glückliche Geschichte – und Solti hat das oft genug betont. Aber doch eine, die zumindest halbglücklich, nämlich mit einer geglückten Flucht vorerst besiegelt werden konnte. Soltis einziges Budapester Dirigat – er war damals 26 Jahre alt – fand am Abend des sogenannten ‚Anschlusses’ Österreichs an das Deutsche Reich statt; womit auch im unweiten Budapest den jüdischen Bürgern (wie Solti) der Boden unter den Füßen zu brennen begann. Solti dirigierte – ohne vorherige Probe! – eine Aufführung der „Hochzeit des Figaro“ von Mozart. Auch darüber hat Solti – mit gewohnt lakonischer, knapper, fast kaltschnäuziger Distanz, und zugleich temperamentvoll – oft Auskunft gegeben. O 1 4 Berliner Lektionen (= Nr. 5) Track 001, ab 36:30 bis ca. 37:30 Interview Georg Solti 1995 (über Anfänge und Emigration, mit Joachim Fest): Ich habe ein einziges Mal in Budapest dirigiert. Das war eine schreckliche Nacht. Es war die Nacht des Anschlusses Österreichs an Hitler-Deutschland. Ein einziges Mal. Dann kam die Emigration, acht Jahre, wo ich Klavier gespielt habe. Ich habe gesagt: Ich muss dirigieren. 0’30 Georg Solti – 3. Folge Seite 8 von 11 Solti ging in die Schweiz – nach Zürich. Schon früher, 1936/37, hatte er in Salzburg Toscanini getroffen (und ihm assistiert) – und dabei sein vielleicht doch größtes musikalisches Vorbild kennengelernt; dies wird uns in der nächsten Woche, in der Sendung über Soltis Vorbilder, noch wiederbegegnen. Zur Zeit der Kriegserklärung von Deutschland an Polen, im Februar 1939, befand sich Solti wegen der Luzerner Festwochen rein zufällig in der Schweiz. Er war Toscanini gefolgt, einfach um der Aufführung des Verdi-Requiems unter seiner Leitung (in der Luzerner Jesuiten-Kirche) beizuwohnen. Toscanini lud ihn naiverweise ein, ihn in New York zu besuchen. Dies wäre natürlich nicht so einfach gewesen, wie es sich Toscanini – in nicht untypischer Dirigenten-Weltfremdheit – vorstellte. Immerhin ergab sich aus der Tatsache, dass sich Solti bei Kriegsausbruch in der Schweiz befand, der für ihn vorteilhafte Umstand, dass er vorerst in der Schweiz bleiben konnte, ohne (zumindest für eine Weile) Schwierigkeiten befürchten zu müssen. Er blieb einfach. So begann Soltis achtjähriges Zürcher Exil 1939 – durch einen Konzertbesuch. Solti wohnte zur Untermiete bei verschiedenen Künstlern und Musikern. Nicht weniger als neun Mal soll er seine Adresse gewechselt haben. Durch Schwarzarbeit als Korrepitor konnte er sich mehr schlecht als recht über Wasser halten. Trotzdem: Komfortable Exil-Verhältnisse, wenn man es mit anderen jüdischen Biographien dieser Zeit vergleicht. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Werke, mit denen Solti auf diese Weise früh in Berührung kam, in vielen Fällen ein Leben lang diejenigen blieben, die er am Besten beherrschte und mit denen er den bleibendsten Eindruck erzielte. Das gilt für das Verdi-Requiem, das er 1939 mit Toscanini in Luzern erlebte. Es gilt für „Falstaff“, bei dem er Toscanini zwei Jahre zuvor in Salzburg assistiert hatte. Und es gilt für Mozarts „Nozze di Figaro“, jenes Werk, mit dem Solti 1938 in Budapest an der Oper debütiert hatte. Wir hören einen Ausschnitt aus der viel späteren Gesamtaufnahme der Oper (mit Thomas Allen, Lucia Popp, Samuel Ramey, Kiri Te Kanawa und Frederica von Stade). Auch diese Aufnahme gehört zu den absoluten Inkunabeln der SoltiDiskographie. 7 Decca LC 00171 417 395-2 9901492 Track 015 Wolfgang Amadeus Mozart “Paca, pace, mio dolce tesoro” (Finale) aus “Le Nozze di Figaro”, 4. Akt Thomas Allen, Bass-Bariton (Conte), Lucia Popp, Sopran (Susanna), Samuel Ramey, Bass-Bariton (Figaro), Kiri Te Kanawa, Sopran (Contessa) London Philharmonic Orchestra Ltg. Georg Solti 1981 6’53 Das Finale aus Mozarts Oper “Le Nozze di Figaro”, 4. Akt. In der Gesamtaufnahme unter Leitung von Georg Solti hörten Sie im Jahr 1981: Kiri Te Kanawa (als Gräfin), Thomas Allen (als Graf), Lucia Popp (Susanna) und Samuel Ramey (Figaro). Es spielte das London Philharmonic Orchestra. Gewiss ein Höhepunkt der gesamten Solti-Diskographie – und ein erstaunliches Mozart-Juwel, wenn man bedenkt, dass sich 1981 bereits die historische Aufführungspraxis heftig auf dem Vormarsch Georg Solti – 3. Folge Seite 9 von 11 befand. Solti wollte davon im allgemeinen nicht viel wissen, und hat trotzdem Maßstäbliches beigetragen – einfach aufgrund der Vitalität und Kraft der Aufführung. So, wie zuvor beschrieben, begannen also zunächst Soltis Exil-Jahre – keineswegs beabsichtigt, aber doch so, dass man den Ausgang als absolut ‚glücklich’ ansehen muss. Solti hat es selber auch so gesehen. O 1 5 Jürgen Christ im Gespräch mit Georg Solti (1) (= Nr. 11, Teil 2) Track 001, ab 19:00 bis 23:35 Interview Georg Solti 1997 (über die Schweizer Jahre, mit Jürgen Christ): So bin ich mit einem kleinen Handkoffer in die Schweiz gereist. Und dort hängengeblieben. (…) (20:14) Und meine heroische Mutter schickte mir ein Telegramm, für das ich ihr ein Leben lang dankbar sein werde – am Tag, als ich mit Toscanini sprach: “Komm nicht nachhause!” Das war unglaublich – für eine Mutter. Wirklich heroisch. Ich bin nicht nachhause gegangen. Ich spürte, dass sie recht hatte. Und so bin ich also hängen geblieben. Ohne Geld. Ohne Freunde. Und mit einem Visum, das noch fünf Tage gültig war. Aber das ist so unglaublich in meinem Leben: Ich habe einen Schutzengel, keine Frage. Ich kenne nur einen Menschen, den Tenor Max Hirzel, der aus Dresden zurückkam. Er war kein Jude. Ich habe ihn angerufen. “Ja, warum kommen Sie nicht zu mir. Ich arbeite an Tristan. Sie können mir helfen.” So bin ich zu ihm. Er hat Tristan nie gelernt. Aber ich habe es gelernt. Ich hatte zunächst mal ein bisschen Geld. Dann habe ich geheim Stunden gegeben. Illegal. Es hat sich natürlich herumgesprochen. Es gab nicht viele begabte Musiker. Es war leicht. Und so habe ich mich durchgeschlagen. Bis es dann nach dem Wettbewerb im September 1942 Geld bekam, wovon ich leben konnte. Und auch einige Engagements habe ich bekommen. Und eine Erlaubnis für fünf Studenten. 2’55 In dieser Weise beginnt in Zürich zunächst ein kleines Klavierzwischenspiel (eigentlich: ein Vorspiel) zur Karriere des Georg Solti. Auch die frühesten professionellen Aufnahmen, die es von Solti gibt, entstanden nicht etwa mit ihm als Dirigenten. Sondern mit dem Pianisten Georg Solti. Keine schlechten Aufnahmen! Wir haben vorhin schon ein (erst kürzlich veröffentlichtes) Beispiel gehört. Viel gewichtiger ist die folgende Aufnahme; jetzt schon aus dem Jahr 1947. Im Kopfsatz der berühmten „Kreutzer-Sonate“, also der Violinsonate Nr. 9 A-Dur op. 47 von Ludwig van Beethoven, begleitete Georg Solti am Klavier den berühmten Geiger Georg Kulenkampff. Die Aufnahme, schon damals für die Londoner Decca, entstand im Juni 1947. Wir hören den 2. und 3. Satz, Andante con variazioni und Presto. Georg Solti – 3. Folge 8 Decca LC 00171 473 129-2 Track 202, 203 Seite 10 von 11 Ludwig van Beethoven Violinsonate Nr. 9 A-Dur op. 47 „Kreutzer“ II. Andante con variozioni III. Finale: Presto Georg Kulenkampff, Violine Georg Solti, Klavier 1947 18’42 Georg Solti und Georg Kulenkampff mit dem 2. und 3. Satz: Andante con variozioni und Finale: Presto aus der „Kreutzer-Sonate“ von Ludwig van Beethoven; also aus der Violinsonate Nr. 9 A-Dur op. 47. Hier in einer sehr frühen Aufnahme Soltis aus dem Jahr 1947. Auf die Exil-Erfahrungen Soltis von 1938 bis 1945 werden wir in der großen SoltiSendereihe hier im Kulturradio vom RBB noch zurückkommen. Nicht zuletzt auch in Gestalt von eigenen Äußerungen des Dirigenten. Kurzes Wort zur Quellenlage: Solti hat vielfach Interviews über die Geschichte seines Lebens gegeben – und zwar meistens so, als sei es das erste Mal. Bewundernswert! – etwas besorgniserregend vielleicht auch, weil es das Maß an Selbstfixiertheit, an dem Dirigenten schon von Berufs wegen oft leiden, gewiss noch verstärkte. Soltis eigene Angaben sind dabei oft verlässlich – und jedenfalls detailreicher, lebendiger und authentischer als die dürren Forschungsbeiträge, soweit es überhaupt welche gibt. Auch als kleines Zwischen-Fazit der heutigen Folge über Anfänge und Exil soll daher ein Zitat von Solti selber stehen. Noch einmal stammt es aus dem Berliner Gespräch mit Joachim Fest (1995 im Rahmen der „Berliner Lektionen“). Es bringt die Methode Soltis, Karriere trotz widriger Exil-Umstände zu machen, glücklich und witzig genug auf den Punkt. O 1 6 Berliner Lektionen (= Nr. 5) Track 001, ab 28:50 bis 30:05 Interview Georg Solti 1995 (über seine Methode eine Karriere zu machen, mit Joachim Fest): Wie immer habe ich die Leute gepestet. Ich habe gesagt: Ich bin kein Pianist, lasst mich dirigieren. (…) Es war bestimmt schrecklich. (…) Ich bin der technisch unbegabteste Mensch. Ich kann nicht kochen. Ich kann nur Kaffee kochen, wenn ich den Knopf drücke. Und das geht machmal auch schief. Ich kann nichts mit meinen zwei Händen – außer dirigieren. 0’30 In der nächsten Woche geht es an dieser Stelle um die Vorbilder Soltis. Aber Obacht: es handelt sich hierbei nicht um irgendwelche partikularen Lokalgrößen. Sondern um Dirigenten, die eine Tradition begründet haben, die heute, so scheint es, etwas in den Hintergrund getreten ist. „Mein Idol: Erich Kleiber – Vorbilder Georg Soltis“ – heute in einer Woche. Dann geht es – außer um Erich Kleiber – vor allem um den großen Arturo Toscanini. Und, am Rande, um Wilhelm Furtwängler. Hören wir zum Abschluss für heute und als Ausblick auf nächstes Mal einen dieser Dirigenten, dessen Bezüge zu unserem Thema auf Anhieb hörbar sind. Erich Kleiber, der Vater von Carlos Kleiber, mit einer phantastisch dirigierten Tarantella Georg Solti – 3. Folge Seite 11 von 11 aus den „Année de pèlereninage“ von Franz Liszt. Es handelt sich um die Nr. 3: Venezia e Napoli, arrangiert für Orchester. Die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern ist schon ein bisschen älter. Sie stammt von 1932. 9 Teldec LC 06019 0927 42664 2 Track 008 Franz Liszt Tarantella aus „Année de pèlereninage“ (Nr. 3: Venezia e Napoli) Berliner Philharmoniker Ltg. Erich Kleiber 1932 6’50 Knackige Rhythmik, enorme Elastizität und Explosivität - der Stil von Erich Kleiber weist voraus auf das, was wir nächste Woche in die Luft gehen lassen.....Dann also geht es um dirigentische Vorbilder Soltis, bis dahin, Ihnen noch einen schönen Sonntag, Ihr Kai Luehrs-Kaiser.
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