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DEFGH Nr. 210, Samstag/Sonntag, 10./11. September 2016
BUCH ZWEI
I. „Was sind das für Geräusche?“
E
r fühlt sich seltsam losgelöst, fast haltlos.
Er muss sich konzentrieren, damit er das
Gleichgewicht nicht verliert. Zum ersten
Mal nach all den Jahren trägt er weder
Fußfessel noch Handschellen, noch halten ihn Gefängniswärter mit blauen Gummihandschuhen an der Schulter fest. Das Gericht lässt ihn
die zwanzig Schritte von der Anklagebank bis zum
Zeugenstuhl allein gehen. Zwanzig Schritte – fast
ein Ausflug in die Freiheit für einen Mann, der die
Freiheit wohl nie mehr erleben wird.
Ramsi bin al-Schibb, Internierungsnummer
US9YM-010013DP, ist ein Gefangener der Vereinigten Staaten, ein Terrorismusverdächtiger, ein mutmaßlicher Beteiligter eines Massenmordes. Er trägt
einen kurzen Vollbart, ein Tuch, das hinten am Kopf
zusammengeknotet ist, und eine Armeejacke in hellem Flecktarn, als stehe er noch im Gefecht. Er sagt
von sich, er sei ein Feind der USA.
Bin al-Schibb, 44, in Jemen geboren, später nach
Deutschland ausgewandert, ist vor einem Sondergericht auf dem US-Stützpunkt Guantanamo Bay in
Kuba des Mordes an 2976 Menschen angeklagt, ihm
droht die Todesstrafe. Er soll den Terroristen geholfen haben, die am 11. September 2001 vier Flugzeuge kaperten – zwei Maschinen flogen sie ins New
Yorker World Trade Center, eine in das Pentagon in
Washington, eine stürzte auf freiem Feld ab. Dieser
Tag liegt nun 15 Jahre zurück, aber er hat sich in das
Gedächtnis der Menschheit eingebrannt: Die Bilder
der Türme in New York, aus denen schwarzer Rauch
in den strahlend blauen Himmel steigt; beim zweiten Einschlag die Gewissheit, dass Terroristen am
Werk sind; die Menschen, die aus den obersten
Stockwerken ins Leere springen.
Als bin al-Schibb am 24. Februar 2016 als Zeuge
aussagt, geht es allerdings nicht um die Taten oder
Opfer von damals. Bin al-Schibb spricht stattdessen
über sich; die Qualen liegen in der Gegenwart, und
das Opfer, das er beschreibt, ist er selbst.
Der Prozess
Mit den Anschlägen vom 11. September begann
vor 15 Jahren das Zeitalter des globalen Terrors.
In Guantanamo wollen die USA nun Ramsi bin al-Schibb
aburteilen, den Hamburger Boten von Osama bin Laden.
Doch das Tribunal offenbart vor allem, wie Amerika
aus einem Täter ein Opfer gemacht hat
von lena kampf, georg mascolo und nicolas richter
Anwalt: Seit Sie hier in Guantanamo sind, werden
Sie Geräuschen ausgesetzt?
Angeklagter: Ja.
Anwalt: Was sind das für Geräusche?
Angeklagter: Anfangs waren es Schläge gegen die
Wand meiner Zelle. Aber sie ändern sich dauernd.
Anwalt: Können Sie die letzte Nacht beschreiben?
Angeklagter: Gegen elf Uhr habe ich mich schlafen
gelegt. Wie immer warteten sie 30 Minuten und
dann fingen sie an mit den Vibrationen. Es ging an
und aus. An und aus. Bis morgens um fünf.
Anwalt: Beschreiben Sie die Vibrationen.
Angeklagter: Es ist, als würde man im Auto sitzen,
wenn der Motor an ist. Es ist sehr störend, sehr zermürbend, sehr . . . es macht einen verrückt.
Ein Militärstaatsanwalt nimmt bin al-Schibb ins
Verhör. Er gehört zu einem Anklage-Team, das die
ganze linke Hälfte des Gerichtssaals einnimmt.
Staatsanwalt: Herr bin al-Schibb, könnte man Sie
davon überzeugen, dass es die Geräusche und Vibrationen gar nicht gibt?
Angeklagter: Nein.
Staatsanwalt: Also Sie sind sich völlig sicher, dass
die Wachen das tun, um Sie zu schikanieren?
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Ramsi bin al-Schibb wurde ein Jahr nach den Anschlägen
vom 11. September 2001 in Pakistan verhaftet (oben). Nach
mehreren Jahren in der Gewalt der CIA wurde er nach
Guantanamo auf Kuba gebracht. Auf dem US-Militärstützpunkt steht er vor einem Sondergericht (unten).
Angeklagter: Ja.
Staatsanwalt: Hatten Sie Schlafstörungen, bevor
Sie 2002 in Gefangenschaft gerieten?
Angeklagter: Überhaupt nicht.
Staatsanwalt: Träumen Sie manchmal von den
Menschen, die am 11.9.2001 getötet wurden?
Verteidiger: Einspruch!
Richter: Stattgegeben.
Staatsanwalt: Es gibt mehrere plausible Gründe für
das, was hier passiert, also für die Klagen über Geräusche und Vibrationen. Einer davon: Er lügt und
führt damit Dschihad gegen unsere Wachen.
Das Verfahren gegen den früheren Hamburger
Studenten Ramsi bin al-Schibb sollte ein Jahrhundertprozess werden für ein Jahrhundertverbrechen; gegen einen Mann, den Ermittler in Deutschland und in den USA zusammen mit dem mitangeklagten Khalid Scheich Mohammed für den Cheflogistiker des 9/11-Terrors halten. Bin al-Schibb ist
der frühe Vertreter eines Terrors, der die Welt zurzeit in immer schnellerer Folge heimsucht. Damals
überbrachte er Nachrichten von Al-Qaida-Chef Osama bin Laden an die Attentäter; nach der Tat prahlte
er im Gespräch mit einem arabischen Journalisten,
er danke Gott dafür, ein Terrorist zu sein. Er führte
einen Koffer vor mit Erinnerungsstücken – einer
Flugkarte der Ostküste etwa. Bin al-Schibb leugnet
nichts, er ist stolz darauf, dass er dabei war.
Eigentlich ist das für jedes Strafgericht ein ziemlich klarer Fall, einer zumindest, der sich bewältigen lässt. Und doch ist nach Recherchen von Süddeutscher Zeitung, NDR und WDR ungewiss, ob man
bin al-Schibb und dessen vier mutmaßliche Komplizen in absehbarer Zeit rechtskräftig verurteilen
wird – oder überhaupt je. Nach 2001 haben die USA
aus einem Mann, der sich selbst einer solch mörderischen Tat rühmt, ein Opfer gemacht. Sie haben ihn
gefoltert, nun wollen sie ihn hinrichten. Gleichzeitig
versuchen sie, so viel wie möglich über die Misshandlung geheim zu halten, und könnten damit einen fairen Prozess unmöglich gemacht haben, sogar vor einem militärischen Sondertribunal, sogar
in Guantanamo, das als Symbol dafür steht, wie
sehr Amerika nach 9/11 seine Werte verriet.
Und doch scheint die Idee Guantanamo, die Idee
einer Sonderjustiz für Terrorverdächtige, aufzuleben, gerade in diesen Tagen mit immer neuen Anschlägen in Amerika und Europa. Im US-Wahlkampf sagt der Republikaner Donald Trump, er würde Guantanamo „vollstopfen mit bösen Kerlen“, in
Frankreich redet man über ein eigenes Guantanamo. Der Fall bin al-Schibb aber zeigt, dass diese Methode weder Sicherheit noch Gerechtigkeit schafft.
Im Krieg gegen den Terror etablierte US-Präsident George W. Bush ab 2001 ein einmaliges juristisches Verfahren, das vom robusten Standard der
Bundes- und Militärgerichte abwich. Er entschied,
Gefangene auf dem Stützpunkt Guantanamo Bay
unterzubringen, die Basis liegt auf kubanischem Gebiet, das die USA seit Jahrzehnten von der dortigen
Regierung pachten. Bush wollte Verdächtige festhalten, aburteilen, hinrichten – ohne ihnen die Rechte
aus der US-Verfassung zu gewähren. Anfangs sah
man Männer in orangefarbenen Anzügen in Käfigen knien; als Beobachter dachte man, so würde
man nicht mal seinen Hund behandeln.
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RichterN
SZ20160910S3538510