SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Musikstunde Ferruccio Busoni (1866 -1924) Junge Klassizität? (5) Von Reinhard Ermen Sendung: Freitag, 30. September 2016 Redaktion: Ulla Zierau 9.05 – 10.00 Uhr Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Mitschnitte auf CD von allen Sendungen der Redaktion SWR2 Musik sind beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden für € 12,50 erhältlich. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. 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Dahinter steckt auch so etwas wie ein Neuanfang, er versetzt sich, metaphorisch gesprochen, in die Rolle eines Schülers, der sich die Musik erst mit solchen kleinen Sonaten erobert. Herausgekommen sind kurze Grundsatzerklärungen, die keinesfalls einfach daherkommen. Man denke nur an die zweite, die Sonatina Seconda, in der er fast die Tonalität aufgibt. Selbst seine Bewunderer waren über dieses Stück erschreckt. Es gibt in den Sonatinen auch eine über Bach, die „brevis“, die kurze „In Signo Johannis Sebastiani Magni“, das ist die Nummer fünf von 1919. Auch die sechste trägt einen lateinischen Titel wie alle Stücke aus dem Zyklus: Sonatina super ‚Carmen„“. Busoni, der 1920 eigentlich solche Opernparaphrasen längst hinter sich gelassen hat, stürzt sich noch einmal in das Geschehen. - Es spielt Joseph Moog. Musik 1: Ferruccio Busoni. Sonatina super “Carmen” Joseph Moog, Klavier LC 03369 CLAVES 50-2905 7.20 Joseph Moog spielte die Sonatina super „Carmen” von Ferruccio Busoni. Da rekapituliert, da erinnert sich einer und das tut er mit musikantischer Leichtigkeit, in der jede Geste sitzt. Fernab von aller Eitelkeit, realisiert Busoni einen Operntraum am Klavier, mit dem selbstredend auch jeder Virtuose zufrieden sein kann. Selbst wenn man es nicht unbedingt erwartet, die „Kammerphantasie“ 3 über „Carmen“ ist bereits ein Beispiel für das späte Schlagwort von der „Jungen Klassizität“. Dabei geschieht hier im Grunde genommen das Gleiche wie schon zu Zeiten von Franz Liszt: Ein Erfolgsstück der Opernbühne gelangt über das Klavier in den Salon und den Konzertsaal. Diese Tradition ist sicherlich in die Idee mit eingegangen, aber Busoni geht es auch darum, die Musik zu befreien, etwa von den Ansprüchen des Ausdrucks und von der romantischen Indienstnahme des Erzählens. Die Opernparaphrase erscheint jetzt in einem neuen Licht, denn „unter einer ‚jungen Klassizität„ verstehe ich die Meisterung, die Sichtung und Ausbeutung aller Errungenschaften vorausgegangener Experimente“, schreibt Busoni 1920 an den Kritiker Paul Bekker. Es geht darum, die eben genannten Errungenschaften, „in feste und schöne Formen“ hineinzutragen. „Diese Kunst“, so lautet das entsprechende Glaubensbekenntnis, „wird alt und neu zugleich sein.“ Die Stichworte „Sichtung und Ausbeutung“ klingen in diesem Zusammenhang etwas nüchtern, ja in gewisser Weise kaufmännisch, aber es geht Busoni um eine Summe. Und darin steckt etwas Grundsätzliches. Es geht nicht um einen Neoklassizismus, wie ihn etwa Igor Strawinsky zu gleichen Zeit kultiviert! Musik 2: Igor Strawinsky. Pulcinella nach Pergolesi: Sinfonia Tapiola Sinfonietta, Masaaki Suzuki. LC 03240 BIS BIS-2211 SACD 1.59 “Pulcinella” nach Pergolesi, 1920 von Igor Strawinsky neu erdacht als Ballett mit Gesang. Die Tapiola Sinfonietta spielte unter Masaaki Suzuki die einleitende “Sinfonia”. Nein, so eine neu-alte Niedlichkeit ist bei Busoni nicht gemeint. Hinter der von ihm anvisierten „Klassizität“ steckt ein weiterer Kerngedanke, der von der „Einheit der Musik“. Das ist sein Begriff für das, was man auch ‚absolute Musik„ nennt. Busoni meint eine befreite Kunst, die nicht mehr in Fächern gedacht wird, sondern wie eine Art ‚Ding an Sich„. Das Klavier hilft gelegentlich mit, wenn es zum Beispiel darum geht, aus „Carmen“ wieder ein Stück Musik zu machen, das die Bühne vergisst. Das Klavier kann in diesem Sinne auch ein Vergrößerungsglas sein. Man kann die Musik vielleicht sogar von den Instrumenten befreien. „Die Kunst der Fuge“, deren Schlussfindung Busoni selbst in seiner Fantasia Contrappuntistica betreibt und mit einem meisterlichen Klaviersatz realisiert, ist zum Beispiel eine Musik, die von Anfang an nicht an nicht an ein Instrument gefesselt ist. Auf vier Systemen notiert, wäre das eine Idee, die sich unabhängig von den akustischen Realitäten ausdrückt. Jeder, der das realisieren will, tritt mit seinen Klangvorstellungen an diese Musik heran und erweckt sie für Augenblicke zum Leben. 4 Musik 3: 2.57 Johann Sebastian Bach. Die Kunst der Fuge BWV 1080: Contrapunctus 1 Musica Antiqua Köln, Reinhard Göbel LC 00113 Archiv Produktion 413642-2 Musica Antiqua Köln spielte unter der Leitung von Reinhard Göbel den Contrapounctus 1 aus Bachs Kunst der Fuge. So ein idealisiertes Denken von einem Kern, von einer Musik an sich schließt die konventionelle Arbeit an den Gattungen nicht aus. Doch Busoni tut das in seinen späten Kompositionen mit einem anderen Bewusstsein. Die Formen zum Beispiel funktionieren als eigenständige Einheiten und können gleichzeitig Teil eines übergeordneten Ganzen sein. Als Beispiel in diesem Sinne kann „Doktor Faust“ dienen. Ja, in gewisser Weise ist die Oper das ideale Sammelbecken für eine neue Formenvielfalt. Sie wird vom Sujet gleichzeitig aufgerufen, also „von den einfachen Lied-, Marsch-, und Tanzweisen bis zu dem kunstreichsten Kontrapunkt, vom Gesang zum Orchester, vom ‚Weltlichen„ zum ‚Geistlichen„“, schreibt Busoni über dieses „musikalische Gesamtkunstwerk“ mit Namen Oper, die „jede Gattung und Art“ aufnehmen kann, die in der Lage ist, „jede Stimmung zu reflektieren.“ In seinem musikdramatischen Hauptwerk feiert dieses Formenbewusstsein geradezu Triumphe. Bezeichnenderweise kommen in der Beschreibung, klassische Opernnummern wie Lied, Arie oder Duett nicht vor. Auch die gibt es, doch zum Paradigma taugen sie nicht. Die Beschwörung der Geister durch Faust etwa konzipiert er als Variationen Zyklus auf ein Frage- und Antwortthema, wobei die einzelnen Variationen jeweils aufsteigen und schneller werden. Das Gartenfest des ersten Bildes in Parma wird als Ballett-Suite angelegt. Im zweiten Bild, in der Schenke in Wittenberg geraten die protestantischen und Katholischen Studenten in einen Streit; es prallen aufeinander der Choral „Ein feste Burg“ und ein „Te Deum“. Eine ausgesprochen sinnfällige Lösung findet er auch für das „Intermezzo“ zwischen den beiden Vorspielen und dem „Hauptspiel“. Zum einen handelt er hier ganz kurz die Gretchentragödie ab, deren Klischeehaftigkeit ihn nicht reizt. Er legt sie sozusagen im Nachhinein beiseite. „Des Mädchens Bruder“ schwört in einer Kapelle Rache an dem Verführer der Schwester. Mephistopheles sorgt dafür, dass der Soldat zu Tode kommt. Der Doktor Faust nimmt es auf sein Gewissen. Angelegt ist diese Szene als Rondo, partiell auch als Orgelkonzert. Knapp 12 Minuten dauert dieses Intermezzo. Es zeigt zum einen, dass die „Einheit der Musik“ keinesfalls eine Kopfgeburt ist, und zum zweiten ist zu hören, wie die „Junge Klassizität“ als Summe der überlieferten Formen auch das Drama trägt, indem sie deren natürliches Sprachpotential aktiviert. Das archaische Gebaren wird gleichzeitig zur Lokalfarbe des Dramas. In der Aufnahme mit dem Orchester 5 des BR unter Ferdinand Leitner von 1969 hören Sie Franz Grundheber als Soldat, William Cochran als Mephistopheles, Dietrich Fischer-Dieskau als Faust und Manfred Schmidt als Leutnant. Musik 4: 11.45 Ferruccio Busoni. Doktor Faust: Intermezzo Franz Grundheber, William Cochran, Dietrich Fischer-Dieskau, Manfred Schmidt, Symphonieorchester des BR, Ferdinand Leitner LC 00173 Deutsche Grammophon 427 413-2 Das Intermezzo, ein szenisches Zwischenspiel aus „Doktor Faust“ von Ferruccio Busoni in der Referenzaufnahme mit dem Symphonieorchester des BR unter Ferdinand Leitner mit Franz Grundheber, William Cochran, Dietrich FischerDieskau und Manfred Schmidt. Busonis Umgang mit den absoluten Formen in der Oper erinnert deutlich an Alban Berg, der seinen 1922 abgeschlossenen „Wozzeck“ in ein geradezu aristokratisches Gewand kleidet. So sind die fünf Szenen des ersten Aktes eine Folge von Charakterstücken, die Szenen des zweiten Aktes bilden eine fünfsätzige Sinfonie, die fünf Bilder des dritten Aktes sind jeweils als Inventionen ausgewiesen. Berg braucht diese eigenständigen Formen um die neue freitonale Musiksprache gleichsam von innen zu stützen, bzw. zu kanalisieren. Die Formen haben Aufgaben, vielleicht sogar in dem Sinne, dass sie den ungeheuerlichen Ton dieser wahrhaft neuen Musik zu zähmen helfen oder doch ein wenig kanalisieren. Bei Busoni sieht das naturgemäß anders aus, die Formen sind zum Teil autonom, aber sie fügen sich sinngemäß in den vorgegebenen Zusammenhang. Busoni nimmt in gewisser Weise das vorweg, was in der Schönberg-Schule fast schon zur Manie wird, den bewussten Rückgriff auf das Formenrepertoire der Musikgeschichte. Mit der Forcierung einer Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen, wird sich das noch verstärken. Altmeisterliche Polyphonie reguliert das neue Material. Doch das ist eine andere Geschichte. Ähnlich wie im „Doktor Faust“, so läuft das auch im „Wozzeck“. Die fünf Charakterstücke des ersten Aktes sind explizit als Suite, Rhapsodie, Militärmarsch & Wiegenlied, und als Pasacaglia ausgewiesen. Das fünfte Bild ist bezeichnet als „Quasi Rondo“, also ähnlich wie das eben gehörte Intermezzo aus „Faust“. Das Formgebaren ist weniger offensichtlich, es beaufsichtigt aber den Tonfall und fügt sich auch hier nahtlos in die dramatische Konzeption. – „Wozzeck“, das fünfte Bild, der übersteigerte Dialog zwischen Marie und dem Tambourmajor, hier in einer Referenzaufnahme mit dem Orchester der Pariser Oper unter Pierre Boulez, bzw. mit Isabel Strauss und Fritz Uhl. 6 Musik 5: Alban Berg. Wozzeck. Akt 1, Szene 5 Isabel Strauss, Fritz Uhl Orchestre National de L‟Opere de Paris, Pierre Boulez LC 06868 Sony Classical M2 30852 3.57 Die fünfte Szene des ersten Aktes aus „Wozzeck“ von Alban Berg, in einer Aufnahme mit Isabel Strauss, Fritz Uhl und dem Orchester der Pariser Oper unter Pierre Boulez. „Einheit der Musik“ und „Junge Klassizität“ sind die Schlüsselbegriffe des späten Busoni. Es muss dabei nicht immer um einen ausgewiesenen Umgang mit überlieferten Formen gehen, die sich zum Beispiel im musikalischen Gesamtkunstwerk Oper vom Dienst am Ausdruck emanzipieren. Busoni beschwört die Einheit, noch ehe er sie theoretisch formuliert. Möglicherweise steckt auch in dem schwebenden Kind, das er in Sachen Musik schon mal zitiert, im „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ etwa, oder im Prolog zum „Doktor Faust“ die ersehnte „Einheit“, die man auch als „Ganzheit“ charakterisieren könnte. Als metaphysisches Ideal, als Klang sozusagen in statu nascendi sind wir ihr in diesen Musikstunden gelegentlich schon begegnet, im „Gesang vom Reigen der Geister“, in der „Berceuse elégiaque“ etwa. Vielleicht steckt schon im Schlusssatz des großen Klavierkonzerts etwas davon. Manchmal gerät er selbst ins Staunen, zum Beispiel im Zusammenhang mit seinem „Nocturne Symphonique, das zum Teil auch in seinen „Doktor Faust“ einging. Dieses Nachtstück, schreibt er (sinngemäß) im Juli 1913 an seine Frau „scheint mir, nach definitiver Prüfung und Durchsicht, eine Art Vollkommenheit an sich zu haben …“ Im März 1914 wird er die Uraufführung mit den Berliner Philharmonikern dirigieren. Hier kommen Linien und Farben überein oder wie Busoni es bei einer anderen Gelegenheit als Ideal seiner Musik formuliert, geht es darum „Harmonie und Melodie zur unauflöslichen Einheit zu gießen“. Eine Form muss nicht benennt werden, sie erfindet sich im Vollzug. Das Stück fließt langsam, still und feierlich, wie eine raunende Hymne an die Nacht. In seinen „Elegien für Orchester“, die wie die Sonatinen eine Art Versuchsreihe bilden, ist sie die Nummer zwei. – Die Aufnahme mit Hans Rosbaud und dem SWF Sinfonieorchester Baden-Baden entstand am 24. Januar 1962. Musik 6: Ferruccio Busoni. Nocturne symphonique SWF Sinfonieorchester Baden-Baden, Hans Rosbaud Eigenproduktion des SWR 7.20 7 Das SWF Sinfonieorchester Baden-Baden mit dem Nocturne Symphonique von Ferruccio Busoni. Die Leitung hatte Hans Rosbaud. 1920 kehrt Busoni nach Berlin zurück. An der Akademie der Künste übernimmt er eine Meisterklasse für Komposition. Er hält als Pianist einen triumphalen Einzug in seine Stadt. Er gastiert, zum Beispiel in London. Die Arbeit am „Faust“ stockt. Der Mann hat eine labile Gesundheit. Die Kräfte verlassen ihn. Hans Heinz Stuckenschmidt spricht ganz allgemein von einer „Sepsis“, also einer Vergiftung, bzw. Blutvergiftung. Berichte über seine letzten Tage erzählen von einem, dem man verzweifelt versucht, das Rauchen und Trinken abzugewöhnen. Der Pianist Gottfried Galston, ein unermüdlicher Bewunderer Busonis, hat über die letzten Monate akribisch Tagebuch geführt. In ständiger Gesellschaft mit Freunden und geduldeten Verehrern siecht Busoni dahin. Im Anhang der großen Biographie von Edward Dent, die 1933 erschien, befindet sich eine relativ aufwendige Richtigstellung, der zufolge Busoni nicht am „Delirium Tremens“ gestorben ist, wie einige Berliner Zeitungen es gemeldet hatten. Sein letzter Ausflug in die Öffentlichkeit ist wohl der Besuch einer Aufführung von Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ im April 1924 gewesen. Am 27. Juli stirbt der rastlose Sucher in Berlin. Musik 7: Ferruccio Busoni. Toccata. 3. Giaccona Marc André Hamelin, Klavier LC 07533 Hyperion CDA67951/3 2.59 Marc André Hamelin spielte die Toccata, bzw. den dritten Absatz daraus die Giaccona. Die SWR2 Musikstunden in dieser Woche waren Ferruccio Busoni gewidmet. Am Mikrophon verabschiedet sich Reinhard Ermen.
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