Ausgerechnet Rürup gegen Rente mit 69

Letzter Versuch
TASS/DPA-BILDFUNK
Am 19. August 1991 ergriff ein
»Staatskomitee für den Ausnahmezustand« in Moskau die Macht. Statt
den Zerfall der Sowjetunion aufzuhalten, wurde er beschleunigt. Ein
Gespräch mit Hans Modrow und eine
Analyse von Reinhard Lauterbach
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Zuschauer
Eingeknickt
Zusammenschluss
Kämpferisch
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Die Staatengemeinschaft schweigt
weiter zu Massakern an Kurden
und Kritikern in der Türkei
In Köln setzt sich die Erdogan-Lobby
erneut durch: Kurdisches Kulturfestival abgesagt
In Kiew diskutierten osteuropäische
Neonazis über ihre geopolitische
­Strategie. Von Peter Schaber
Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff
will im Amtsenthebungsverfahren vor Senat Flagge zeigen
Sittentest für Muslime
Über 40.000 Festnahmen
nach Putsch in der Türkei
Istanbul. Im Zusammenhang
mit den Ermittlungen nach dem
Putschversuch in der Türkei ist das
Vermögen von 187 Geschäftsleuten
beschlagnahmt worden. Das habe
die Istanbuler Staatsanwaltschaft
entschieden, berichtete die Nachrichtenagentur DHA am Donnerstag. Ihnen werde vorgeworfen, Verbindungen zum Prediger Fethullah
Gülen zu haben. Nach 187 Verdächtigen werden gefahndet.
Bei der ausgerufenen »Säuberungswelle« sind bislang 79.900
Beschäftigte des öffentlichen
Dienstes entlassen worden, sagte
Ministerpräsident Binali Yildirim
am späten Mittwoch abend in einer
im Fernsehen übertragenen Rede.
40.029 Menschen seien festgenommen worden, gegen 20.355 sei
Haftbefehl ergangen. Außerdem
wurden 4.262 Firmen und Einrichtungen geschlossen, weil sie mit
Gülen zusammengearbeitet haben
sollen.
(dpa/Reuters/jW)
DAMIR SAGOLJ / REUTERS
Vor der Konferenz der Unions-Innenminister streiten CDU und CSU über Burkas.
Ein Teilverbot ist wahrscheinlich. Von Ulla Jelpke
Von der Union als größte Bedrohung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung ausgemacht: islamische Verschleierung. Mit Terrorismus hat das nichts zu tun
könnte. Zu Recht – der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat schon
vor sechs Jahren darauf hingewiesen,
ein Verbot der Vollverschleierung sei
mit dem Grundgesetz nicht vereinbar.
Vom Verweis auf die Verfassung
lassen sich die Scharfmacher unter de
Mazières Kollegen aber nicht beeindrucken. Dazu gehören insbesondere jene Innenminister, die in aktuellen Wahlkämpfen stehen, etwa Frank
Henkel (Berlin) und Lorenz Caffier
(Mecklenburg-Vorpommern). Beide
fordern auch die Abschaffung der doppelten Staatsbürgerschaft. Henkel forderte im ARD-»Morgenmagazin« unter
Verweis auf die jüngsten Anschläge in
Süddeutschland, Menschen mit zwei
Pässen müssten sich klar bekennen.
»Es kann keine doppelten Loyalitäten
geben«, so Henkel, der damit die Frage
der Staatsbürgerschaft zum Bekenntnis
für oder wider terroristische Gewalt
erhob.
Politiker der SPD lehnten diese Pläne ab: »Der Doppelpass bleibt«, erklärte etwa Justizminister Heiko Maas.
Berlins Regierender Bürgermeister
Michael Müller bezeichnete die Forderungen seines CDU-Innensenators
als »wilden Aktionismus«. Den wahrscheinlich intelligentesten Beitrag zur
Debatte lieferte der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (ebenfalls SPD), der erklärte, wer Burkas
verbiete, der müsse auch verbieten,
»dass sich Menschen als Nikolaus
verkleiden«. Die Burka sei zwar ein
Zeichen mangelnder Integration, aber
nicht mangelnder Sicherheit.
Hinter den Kulissen bereiten Union und SPD allerdings einen Kompromiss vor, der Teilverbote der Burka
in bestimmten Bereichen vorsieht. De
Maizière nannte etwa Meldeämter,
Standesämter und Demonstrationen,
SPD-Vize Ralf Stegner kam dem per
Twitter entgegen: Ein Verbot sei »in
Sicherheitsbereichen und einzelnen
Institutionen« grundgesetzkonform.
Verlässliche Zahlen, wie viele Frauen
in Deutschland eine Vollverschleierung
tragen, gibt es übrigens nicht.
Die anderen Punkte des Forderungskatalogs der Union wurden gestern allenfalls am Rande angesprochen. Der
bayerische Innenminister Herrmann
machte sich für eine »Fußfessel für
islamistische Gefährder« stark und forderte ähnlich wie auch schon de Maizière die Aufweichung der ärztlichen
Schweigepflicht. Auf dem »Berliner
Erklärung« betitelten Wunschzettel der
Unions-Innenminister werden darüber
hinaus »mehr Personal und mehr Befugnisse für unsere Nachrichtendienste« gefordert, die künftig auch Minderjährige bespitzeln und die Vorratsdatenspeicherung nutzen sollten. Datenschutz solle es nur »mit Augenmaß«
geben, heißt es in dem Papier.
Siehe Seiten 8 und 15
Ausgerechnet Rürup gegen Rente mit 69
Ehemaliger Regierungsberater kritisiert Bundesbank-Vorstoß als »nicht konstruktiv«
D
er Vorstoß der Bundesbank
für eine Rente erst mit 69
Jahren geht nach den Worten des früheren »Wirtschaftsweisen«
Bert Rürup an der Realität vorbei.
Damit werde »die aktuelle rentenpolitische Diskussion gar nicht zur
Kenntnis« genommen, sagte der
Rentenexperte am Donnerstag im Interview mit der Nachrichtenagentur
Reuters. Gegenwärtig gehe es darum,
»wie man das System armutsfester
machen kann«.
Die Bundesbank hatte am Montag
Berechnungen vorgelegt, wonach das
Renteneintrittsalter ab 2030 in Stufen
bis 2060 von 67 auf 69 Jahre steigen
sollte. Durch die längere Lebensarbeitszeit könne ein weiteres Absinken
des Rentenniveaus verhindert werden.
Nach geltendem Recht steigt das Renteneintrittsalter bis 2029 von derzeit
65 Jahren und fünf Monaten auf dann
67 Jahre. Zugleich soll das allgemeine
Niveau der Bezüge aus der gesetzlichen Altersvorsorge von derzeit knapp
48 auf 43 Prozent des durchschnittlichen Nettoeinkommens sinken.
Rürup beklagte, die Bundesbank
thematisiere die anstehenden Fra-
gen, wie man den Risiken einer
Zunahme von Altersarmut begegnen könne, gar nicht. Dabei gehe es
im Moment konkret darum, »wie
man mit den Soloselbständigen und
Langzeitarbeitslosen umgehen soll,
was eine rentenpolitische Antwort
auf eine Zunahme von gebrochenen
Erwerbsbiographien sein kann«.
Rürup war von 2002 bis 2003 Vorsitzender der von der Bundesregierung von SPD und Grünen installierten »Kommission für die Nachhaltigkeit in der Finanzierung der
sozialen Sicherungssysteme«, kurz
»Rürup-Kommission«. 2004 wurde
auf der Basis der Vorschläge des
Gremiums das »Gesetz zur Nachhaltigkeit der Rente« verabschiedet,
mit dem unter anderem die erwähnte
Absenkung des Rentenniveaus auf
43 Prozent festgeschrieben wurde,
die ein wesentlicher Grund für die
vielen Durchschnittsverdienern drohende Altersarmut ist. Die Kommission hatte sich schon damals für die
2007 beschlossene Anhebung des
Renteneintrittsalters von 65 auf
67 Jahre ausgesprochen.
(Reuters/dpa/jW)
Widerstand gegen
Abschiebungen wirkt
MARKUS SCHOLZ/DPA - BILDFUNK
E
igentlich sollte das Treffen der
Unions-Innenminister, das gestern abend in Berlin begann,
der Sicherheitspolitik gewidmet sein.
Tatsächlich spitzte sich die unionsinterne Debatte unmittelbar vor Beginn der
Zusammenkunft auf reine Symbolpolitik zu: Befürworter und Gegner eines
Burka-Verbots meldeten sich nahezu
stündlich in den Nachrichtenagenturen
zu Wort. Dabei behauptet zwar keiner ernsthaft, dass die Frage, ob eine
muslimische Frau voll-, halb- oder gar
nicht verschleiert ist, irgend etwas mit
Sicherheit zu tun hat. Es genügt den
meisten Konservativen, dass ihnen die
Burka einfach nicht gefällt: Sie sei »ein
Fremdkörper in unserem Land«, polterte etwa Bayerns Innenminister Joachim
Herrmann. Wichtigster Gegner eines
Totalverbots ist Bundesinnenminister
Thomas de Maizière, der befürchtet,
dass eine solche Maßnahme vom Bundesverfassungsgericht kassiert werden
Berlin/Brüssel. Seit Anfang 2015 sind
mehr als 600 Abschiebungen per
Flugzeug aus der BRD im letzten
Moment gestoppt worden. Das geht
aus einem Bericht der Bild (Donnerstagausgabe) hervor, der sich auf
Daten des Bundesinnenministeriums bezieht. Demnach sei die Abschiebung in 330 Fällen ausgesetzt
worden, weil sich die Migranten
heftig gewehrt hätten. Zudem hätten
sich 160mal Fluglinien oder Piloten
geweigert, den Flug durchzuführen. Wie es nach den Abbrüchen
weiterging, schrieb das Blatt nicht.
Am Mittwoch protestierten zwei
Deutsche in einem Flugzeug spontan gegen die Abschiebung eines
Migranten. Sie wurden zusammen
mit vier weiteren Personen des
Flugzeugs verwiesen, wie die Nachrichtenagentur Belga berichtete.
Der Asylsuchende wurde ebenfalls
aus der Maschine gebracht. Er
soll aber noch in dieser Woche mit
einem anderen Flug abgeschoben
werden. (dpa/jW)
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