(Hrsg.): Reconsidering Stagnation in the Brezhnev Era - H-Soz-Kult

D. Fainberg u.a. (Hrsg.): Reconsidering Stagnation in the Brezhnev Era
Fainberg, Dina; Kalinovsky, Artemy M.
(Hrsg.): Reconsidering Stagnation in the Brezhnev Era. Ideology and Exchange. Lanham: Lexington Books 2016. ISBN: 978-1-498-52993-8;
XXII, 198 S.
Rezensiert von: Philipp Casula, Historisches
Seminar, Universität Zürich / Higher School
of Economics (Moskau)
Die Breschnew-Ära erfreut sich in den
Geschichts- und Sozialwissenschaften eines
zunehmenden Interesses. Zahlreiche Bücher
setzen sich mit dieser Periode der sowjetischen Geschichte auseinander, unter anderem beflügelt durch mehr und mehr deklassifizierte Archiv-Quellen. Zu diesen Arbeiten
zählen unter anderem die Sammelbände von
Edwin Bacon und Mark Sandle1 sowie von
Martin Deuerlein und Boris Belge.2 Der nun
von Dina Fainberg und Artemy M. Kalinovsky vorgelegte Band setzt sich das konkrete und ambitionierte Ziel, das „StagnationsParadigma“ insgesamt in Frage zu stellen
(S. vii) und damit mit Klischees aufzuräumen, welche die Diskussion dieser zentralen
sowjetischen Periode dominieren: ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Stillstand, Korruption und Zynismus. „Stagnation“, so die Herausgeber sei kein falsches Konzept, doch es habe eine eigene, komplexe Geschichte. Zudem gäbe es zu viele Ausnahmen
von diesem „Stillstand“, um es zum alleinigen Deutungsmuster für eine gesamte Ära
zu erklären. Ziel des Bandes sei es, ein nuancierteres Bild dieser Periode zu zeichnen
(S. xiv–xv). Dabei werden „Breschnew-Ära“
und „Stagnation“ weitgehend synonymisch
verwendet. Das Buch ist in zwei große Teile
à fünf Kapitel gegliedert. Teil eins des Bandes untersucht „Ideologie zwischen öffentlicher und privater Sphäre“, während der zweite Teil Interaktionen zwischen der UdSSR und
dem Westen gewidmet ist.
Der Beitrag von Natatalya Chernyshova eröffnet den ersten Teil des Buches und ist
wegen seiner Detailfülle besonders interessant. Die Autorin unterzieht urbane KonsumPraktiken während der Breschnew-Ära einer
Neubewertung. Nicht die langen Wartezeiten vor Geschäften stehen im Mittelpunkt ihres Beitrages, sondern die Herausbildung ei-
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ner sowjetischen Konsumgesellschaft unter
den Bedingungen von Knappheit. Diese Entwicklung bedeutete allerdings mitnichten einen Rückzug in die Privatsphäre: Gemeinsames Schlangestehen – eigentlich Zeichen einer Mangelgesellschaft – erzeugte Solidarität, die sich sogar in ein gemeinsames Auftreten gegenüber den Behörden niederschlagen
konnte. Die Existenz einer Schattenwirtschaft,
die – so Chernyshova im Gegensatz zur These von James Millars klassischer Studie3 –
wohl eher nicht vom Staat absichtsvoll aufrechterhalten wurde, setzte nicht nur Knappheit voraus, sondern auch das Vorhandensein
von begehrten Gütern und eine entsprechend
kaufkräftige Nachfrage, die ihrerseits ein urbanes Milieu voraussetzen (S. 13). Was in
Chernyshovas Bild allerdings problematisch
erscheint, ist die von ihr vertretene These,
dass Konsumenten qua Konsum politisch aktiv waren, nur weil sie mit dem Regime – als
Produzenten – in Interaktion traten. Chernyshova legt hier den Begriff des „Politischen“
sehr oberflächlich aus, denn die Konsumenten operierten hier zwar um das bestehende
System herum, hatten deshalb aber nicht notwendigerweise eine andere Gesellschaftsordnung im Sinn: Sie agierten als ökonomische
Gewinnmaximierer und urbane Hedonisten,
nicht als citoyens, Dissidenten oder gar als Revolutionäre.
Stadt-Land-Gegensätze bilden auch den
Hintergrund für den Beitrag von Lewis Siegelbaum über die Migration in die urbanen Zentren der Sowjetunion während der
„Stagnations-Ära“. Zwischen 1959 und 1978
migrierten 1,5 Millionen Menschen in die großen Städte der UdSSR (S. 46), was unter anderem zu einem starken Frauen-Überschuss
auf dem Land führte. Dabei, so kann Siegelbaum unter anderem anhand von Leserbriefen in verschiedenen Zeitschriften zeigen, gaben unterschiedlichste Gründe Anlass, dem
Dorf den Rücken zu kehren. Der Land-StadtExodus bedeutete in der UdSSR des Spät1 Edwin
Bacon / Mark Sandle, Brezhnev Reconsidered,
Houndmills 2002.
2 Boris Belge / Martin Deuerlein (Hrsg.), Goldenes Zeitalter der Stagnation? Perspektiven auf die sowjetische
Ordnung der Breznev-Ära, Tübingen 2014.
3 James Millar, The Little Deal. Brezhnev’s Contribution to Acquisitive Socialism, in: Slavic Review 4 (1985),
S. 694–706.
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sozialismus eine pragmatische Herausforderung und zugleich eine ideologische Bestätigung. Auf der pragmatischen Ebene musste der Exodus gestoppt werden. Ideologisch
aber war die Migration in die Stadt Zeichen für eine erfolgreiche Modernisierung der
Sowjetunion und für ein Ende der „Idiotie
des Landlebens“ (S. 52). Insgesamt liegt dieser Beitrag aber quer zum Gesamtkonzept
des Buches, weil er sich nur am Rande mit
der „Ideologie der Stagnation“ auseinandersetzt und zum Beispiel den mit Migration
einhergehenden Wertewandel lediglich streift
(S. 49). Durchsetzt mit Fachtermini und demographischen Daten ist Siegelbaums Beitrag
zudem nicht immer leicht zugänglich.
Anders der Beitrag von Juliane Fürst über
das sowjetische „Hippie-System“ (kurz: sistema) in der Breschnew-Ära. Die Autorin
gibt einen Einblick in diese paradoxe Subkultur, die sich einerseits gegen die Stagnation
auflehnte und insofern bestätigt, dass es einen empfundenen Stillstand gab, andererseits
aber mit ihrem Wirken Symbol dafür ist, dass
die Stagnation nicht vollständig war. Hier verpasst die Autorin zu differenzieren, auf was
sich Stillstand im Stagnationsparadigma bezieht. Dass es natürlich auch Ab- oder gar
Auflehnung im Spätsozialismus gab, liegt auf
der Hand: Es kann keine Macht ohne Widerstand geben, keinen isolierten Ort des Widerstandes, sondern nur eine Vielzahl jeweils
einzigartiger Widerstandsformen.4 In ihrem
vor allem auf 31 Zeitzeugen-Interviews basierenden Text bestätigt Fürst, dass es während der „Stagnation“ Freiheitsräume gab,
um die sich der Staat einfach nicht kümmerte
(S. 131). Das änderte sich mit der zweiten, politischeren Generation sowjetischer Hippies.
Darauf reagierte der Staat dann mit Repression. Paradoxerweise führte dies zu einer Professionalisierung des Hippietums und zu einer Symbiose von Macht und Widerstand.
Unterdrückung wurde zu einer Möglichkeitsbedingung der Hippie-Subjektivität.5
Sari Autio-Sarasmo schlägt eine Analyse der Ost-West-Interaktionen auf der „Mikroebene“ vor und untersucht in einem
unsystematischen Vergleich den sowjetischfinnischen und den sowjetisch-westdeutschen
wissenschaftlichen Austausch während der
Stagnationsära. Zentral verantwortlich für
Technologietransfer war das 1958 gegründete Staatliche Komitee für Wissenschaft und
Technologie. Bis zum Ende der Sowjetunion blieb es die wichtigste sowjetische Instanz für die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit dem Westen (S. 89). Besonders in den
1960er-Jahren wurde die Zusammenarbeit intensiviert und wechselseitige Besuche fanden direkt in Forschungsinstituten oder HighTech-Fabriken statt. Während die Motivation der sowjetischen Seite sehr deutlich wird,
insbesondere die Defizite im Bereich Computertechnik (S. 94), lässt der Beitrag weitgehend im Unklaren, was die westlichen Partner jenseits des ökonomischen Profits dazu
bewog, direkt oder indirekt technologisches
Wissen preiszugeben. Autio-Sarasmo folgert
aus dieser Geschichte der Ost-West Kooperation, dass „Stagnation“ in der BreschnewÄra sicherlich als ökonomische Rezession und
Pessimismus definiert werden kann, keineswegs aber als eine Periode der „Inaktivität“.
Dennoch: Die Schlussfolgerungen von AutioSarasmo bleiben – wie auch in den meisten
anderen Artikeln des Sammelbandes – auf
den Einzelfall beschränkt. Die Autorin konstatiert, dass der Technologietransfer darin
scheiterte, der Wirtschaft neue Impulse zu liefern, unter anderem, weil es zu wenig Kanäle
gegeben habe, um die Technologie innerhalb
der Sowjetunion weiter zu verbreiten.
Insgesamt hinterlässt der Band von Fainberg und Kalinovsky einen gemischten Eindruck. Einerseits haben es die Herausgeber geschafft, eine einseitige Betrachtung der
Breschnew-Ära als „Stagnation“ aufzubrechen und in vielen Einzelstudien Belege zu
erbringen, dass diese eine dynamische Ära
gewesen ist. Andererseits bleiben die sehr
kleinteiligen Studien hinter den Erwartungen
zurück, die die Herausgeber in der Einleitung geweckt haben. Dort suggerieren Fainberg und Kalinovsky die Ursprünge des
Stagnation-Begriffs zu ergründen. Genannt
werden Memoiren von sowjetischen Reformern wie Arbatov, Černjaev, Brutenc oder
Jakovlev, die alle Aufschluss hätten geben
können, warum sich in der Sowjetunion ein
4 Michel
Foucault, The History of Sexuality, Bd. 1, New
York 1978, S. 95–96.
5 Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt 2013, S. 16–18.
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D. Fainberg u.a. (Hrsg.): Reconsidering Stagnation in the Brezhnev Era
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Gefühl des Stillstandes breit gemacht hatte,
scheinbar besonders in Teilen der politischen
Elite (S. xiv). Es waren also nicht nur ausländische „Sowjetologen“, die sowjetische „Stagnation“ konstatierten, sondern auch sowjetische Politiker selbst – hier wäre eine systematischere Untersuchung wünschenswert gewesen. Zudem hätte sich die Möglichkeit ergeben, den Stagnations-Diskurs in West und
Ost unter die Lupe zu nehmen. Stattdessen
haben die Herausgeber eine Reihe an sich
faszinierender und aufschlussreicher Einzelstudien vorgelegt, die oft aber nur Variationen eines Themas sind, das bereits Aleksei
Yurchak meisterhaft und theoretisch sattelfester in seinem Werk „Everything Was Forever,
Until It Was No More“ diskutiert hat. Auch
er hatte das Anliegen, Dichotomien aufzubrechen und den sowjetischen Bürgern wieder Handlungsmacht zuzuschreiben.6 Fainberg und Kalinovsky fehlt aber solch ein klarer Analyserahmen. Die Artikel bleiben oft
zu sehr auf ihr spezifisches – oft urbanes
(Chernyshova), akademisches (Geltzer) oder
bürokratisches (Autio-Sarasmo) – Milieu fokussiert und schlagen nur stichwortartig die
Brücke zum Thema des Sammelbandes. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem
„Stagnations“-Diskurs in Ost und West steht
also noch aus. Zugutehalten muss man dem
Band, dass er die immer lebendiger werdende
Debatte um die Breschnew-Ära weiter anfeuert.
HistLit 2016-3-104 / Philipp Casula über
Fainberg, Dina; Kalinovsky, Artemy M.
(Hrsg.): Reconsidering Stagnation in the Brezhnev Era. Ideology and Exchange. Lanham 2016,
in: H-Soz-Kult 08.08.2016.
6 Alexei
Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was
No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2006,
S. 5.
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