offenen Brief - Deutscher Richterbund

Deutscher Richterbund · Haus des Rechts · Kronenstraße 73 · 10117 Berlin
Frau Bundeskanzlerin
Dr. Angela Merkel
Bundeskanzleramt
Willy-Brandt-Straße 1
10557 Berlin
1. August 2016
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Frau Dr. Merkel,
Deutscher Richterbund
mit tiefer Sorge beobachtet der Deutsche Richterbund die aktuellen Ereignisse in der Türkei. Die türkische Staatsführung missbraucht offensichtlich
den Mitte Juli gescheiterten Putschversuch, um systematisch Richter und
Staatsanwälte aus der Justiz des Landes zu entfernen, die bisher trotz politischen Drucks die Aufgaben einer unabhängigen dritten Staatsgewalt erfüllt
haben. Viele der entlassenen und verhafteten Kollegen sind dem Deutschen
Richterbund über eine langjährige Zusammenarbeit in der Europäischen
Richtervereinigung bekannt. Es handelt sich bei den Verhafteten auch um
Mitglieder der – inzwischen von der Regierung zerschlagenen – unabhängigen türkischen Richtervereinigung Yarsav, deren Integrität und Engagement
für den Rechtsstaat außer Zweifel stehen. Yarsav und ihren Mitgliedern
Sympathien für die Putschisten oder Aktivitäten für die Gülen-Bewegung
vorzuwerfen, ist nicht nachzuvollziehen und konstruiert.
T +49 30 206 125-0
F +49 30 206 125-25
Staatspräsident Erdogan hat nur wenige Stunden nach dem Putschversuch
eine – bereits in den Monaten zuvor aufgestellte – Namensliste mit fast
3000 (angeblich) verdächtigen Richtern und Staatsanwälten vorgelegt. Er
nutzt die Situation nach dem Putschversuch, um sich künftig einer wirksamen Kontrolle durch eine unabhängige Justiz zu entziehen und stattdessen
parteinahe Juristen an den Gerichten zu installieren. Er enthält der türkischen Bevölkerung damit den Zugang zu einer unparteiischen Justiz vor.
Individuelle, nachprüfbare Vorwürfe gegen die entlassenen Kollegen hat die
türkische Regierung bis heute nicht vorgelegt, der Zugang von Familien und
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Haus des Rechts
Kronenstraße 73
10117 Berlin
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www.drb.de
Vertretungsberechtigter Vorstand
Jens Gnisa, DirAG
Joachim Lüblinghoff, VROLG
Lore Sprickmann Kerkerinck, DirAG
Vorsitzender
Jens Gnisa
Registergericht
Amtsgericht Charlottenburg
VR 19853
Anwälten zu den Inhaftierten ist untersagt oder streng reguliert. Mit den
offensichtlich politisch angeordneten, willkürlichen Entlassungen und Verhaftungen sowie einer Beschlagnahme des Vermögens von etwa 3000
Richtern und Staatsanwälten bricht Präsident Erdogan in seinem Land offen
mit dem Rechtsstaatsprinzip, das in Deutschland und Europa zum Fundament der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gehört.
Angesichts des eklatanten Verstoßes der Türkei gegen fundamentale europäische Werte appellieren wir an Sie, die türkische Staatsführung mit allen
Ihnen zu Gebote stehenden politischen Mitteln zu einer Umkehr zu bewegen
und auf den Weg des Rechtsstaates zurückzuführen. Insbesondere sollte die
Bundesregierung sich nachdrücklich dafür einsetzen, dass die entlassenen
und verhafteten türkischen Kollegen unverzüglich wieder in ihre Ämter zurückkehren und ihre Vermögen unangetastet bleiben. Sollte es konkrete
Anhaltspunkte für rechtswidriges Verhalten einzelner Richter und Staatsanwälte geben, sind die Vorwürfe anschließend in rechtsstaatlichen Verfahren
zu überprüfen.
Zudem sollten die im Zuge der EU-Beitrittsverhandlungen vereinbarten Milliardenhilfen für die Türkei ausgesetzt werden, solange das Land sich der EU
nicht annähert, sondern europäische Grundwerte negiert. Die bisherigen
Reaktionen der Bundesregierung hinterlassen in der deutschen Richterschaft nicht den Eindruck, dass Deutschland sich mit der erforderlichen
Konsequenz für den Erhalt des Rechtsstaates und einer unabhängigen Justiz
in der Türkei einsetzen möchte. Die von der türkischen Staatsführung offen
zur Disposition gestellten europäischen Grundwerte sind aber zu wichtig, als
dass sie einer realpolitischen Abwägung mit anderen Interessen – namentlich in der Flüchtlingspolitik – zugänglich wären.
Mit freundlichen Grüßen
Jens Gnisa
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