SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE SWR2 Tandem Aus dem stillen Kämmerlein Die Brieffreundschaften der Karin F. Von Michael Sollorz Sendung: Montag, 12. September 2016, 19.20 Uhr Wiederholung: Dienstag, 13. September 2016 um 10.05 Uhr Redaktion: Nadja Odeh Regie: Maria Ohmer Produktion: SWR 2016 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Tandem können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/tandem.xml Mitschnitte aller Sendungen der Redaktion SWR2 Tandem sind auf CD erhältlich beim SWR Mitschnittdienst in Baden-Baden zum Preis von 12,50 Euro. Bestellungen über Telefon: 07221/929-26030 Bestellungen per E-Mail: [email protected] Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? 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Briefe aus einem halben Jahrhundert. 01 // 02 - O-Ton Karin: Man kann nicht zu jeder Tageszeit und an jedem Tag schreiben, das funktioniert nicht. // Aber wenn man so richtig drin ist im Schreiben, und alles im Fluss ist, sich die Synapsen richtig verbinden, so wie man das gerne hätte, dann macht das höllisch Spaß zu schreiben. Und dann werden es eben schon mal 5 Seiten, und ich wunder mich dann hinterher, ups! Erzähler:: Karin ist 63, eine kleine, stramme Person mit kampflustigen Augen. Sie hat an alten Briefen rausgesucht, was noch da ist. Die meisten wurden bei Umzügen weggeworfen. 03 // 04 - O-Ton Karin: In Vorbereitung dachte ich, mein Gott, du hast die ganzen ersten Briefe nicht mehr, und jetzt schreib doch mal und sag oder frag, wie wir uns kennengelernt haben, und da kam zurück, ich weiß auch das Jahr nicht mehr, aber ich weiß, als mein Sohn Donald 3 Jahre alt war, hast du mal n Päckchen geschickt mit nem Holzauto drin, so ne Art Kipper, wo man was aufladen konnte, mit nem Kran dran, // und da ist ihr Sohn drei Jahre alt gewesen, und inzwischen ist er 50. Erzähler:: Lindsay, Farmersfrau im fernen Neuseeland. Oben auf dem Häufchen ein Polaroid, verblasst. 05 // 06 // 07 // 08 - O-Ton Karin: Das hier ist sie, und das ist ihr Mann. Das Bild ist aber auch schon von 88, ein neueres hab ich nicht, ja, und so sahen die früher mal aus, als die Kinder noch klein waren, genau (kichert), die typischen Familien-Fotos … // Wenn ich das heute angucke, denn denk ich an meine eigene Wohnung in den 70er Jahren, groß gemusterte Tapeten mit Blumenblättern, schön orange, orangebraun, genau. // Die könnten genauso gut hier gleich um die Ecke wohnen, // die Kleidung, die Frisuren vor allem – die Menschen hätten alle ooch hier leben können. 09 - Drunterliegend: O-Ton Karin: Argentinien, Uruguay, Brasilien, Chile! // In Afrika hatte ich in Nigeria jemanden, in Südafrika... 10 // 11 // 12 // 13 - O-Ton Karin: Ich glaub, ich war 12, 12 oder 14 so in der Drehe rum hab ich angefangen, Briefe zu schreiben. // … n bisschen den Blick über die Kleinstadt hinaus haben, in der ich gewohnt hab, ooch n bisschen n Blick in die Welt 2 vielleicht … // Ich hab Briefmarken gesammelt und hab einfach Tauschpartner gesucht. // Und so hat sich das entwickelt, ich hatte in manchen Jahren 70, 80 Briefpartner, mit denen ich korrespondiert habe in aller Welt. Erzähler:: Als sie anfängt mit den Briefen, wird gerade die Mauer gebaut. Da ist Karin ein Schulmädchen in Dessau, DDR. 14 - Drunterliegend: O-Ton Karin: Australien, Neuseeland … Malaysia, Philippinen, Indien, Nepal … // Ceylon … Osten wirste vergeblich suchen, weil ich hatte keine Briefpartner nicht in Polen oder nicht in der UdSSR hatte ich keine. Erzähler: Den großen Bruder lieben - das Erziehungsziel wird nicht immer erreicht. 15 - O-Ton Karin: Also die ersten Briefe hab ich in die USA geschrieben, das weiß ich noch. Weil das ist einfach so 'n Land meiner Kinderträume gewesen die USA und Kanada. Erzähler: Auf den Umschlägen des zweiten Häufchens die Stars-and-Stripes-Marken zu 25 Cent, als Luftpostzuschlag der stolze Weißkopf-Seeadler: Weit geöffnete Schwingen. Absender: Roberto Avila, Huntsville, Texas. 16 // 17 // 18 // 19 - O-Ton Karin: (Papier-Geraschel) Das ist er in der Mitte in relativ jungen Jahren, und das sind Neffen und Kinder seiner Geschwister … // Also von ihm hab ich tatsächlich noch den allerersten Brief, den ich von niemand sonst mehr hab. // (großes Papier-Geraschel) Schön vergilbt. Ich muss jetzt aber nicht englisch lesen, oder? // (liest vor:) A few weeks back a friend hand me a small book titeled „Friends around the world“ … Erzähler: (übersetzt:) Vor ein paar Wochen gab mir ein Freund ein Büchlein mit Adressen, „Freunde rund um die Welt“. … Darf ich mich vorstellen? Mein Name ist Bobby Avila, geboren in Houston, Texas. Ich bin 29, arbeite in einer Tischlerei und gehe aufs College. 20 - O-Ton Karin: Wir haben wirklich jahrelang nur Belangloses geschrieben, // und nach 10 Jahren kam irgendwann mal n Brief, wo 'n ganz merkwürdiger Stempel hinten drauf war, und ich dachte, hm, das sieht doch hier irgendwie nach Gefängnisstempel aus. Und da hab ich dann mal zurückgefragt, was das für 'n Stempel ist, ja, und da hat er gesagt, er muss wohl noch mal von vorne anfangen, und hat dann noch mal richtig einen Brief geschrieben, // und hat noch mal sein Leben Revue passieren lassen. Erzähler: Roberto Avila, Kind mexikanischer Einwanderer, zehn Geschwister. Er ist noch klein, als sein Vater nach einer Prügelattacke stirbt. 3 21 // 22 - O-Ton Karin: Also er ist seit seinem 25 oder 26. Lebensjahr im Gefängnis, bis heute, er ist heute über 60, also er ist so alt wie ich, ist dorthin gekommen wegen Drogenhandels, er hat mit Drogen gedealt, wahrscheinlich in etwas größerem Maßstab, sonst wäre die Strafe ja nicht derart ausgefallen. // Und er hat immer wieder Anhörungen, und immer wieder wird seine Freilassung abgelehnt. 23 - Atmo: Karin kommt die Treppe runter und schließt ihren Blech-Briefkasten auf. Erzähler: Seit ihrer Kindheit schließt Karin jeden Tag ihren Briefkasten auf, ein besonderer Moment. Er gehört ihr ganz allein. Die Briefe – sie hat es nicht rumerzählt. 24 // 25 // 26 - O-Ton Karin: Nö, das war mein Hobby und das war meine kleene Welt, die ich da hatte. Wer es wusste, das waren die Menschen im KulturbundVerein, weil Briefmarken-Tauschen zu DDR-Zeiten nicht ganz so einfach war, das ging tatsächlich nur über den Kulturbund zu machen, man lieferte da ooch seine Briefe ein, weil alles andere wäre Devisenschmuggel gewesen. Wenn du die einfach so in 'nen Umschlag steckst und wegschickst … Wäre das ne strafbare Handlung gewesen. Man hat 's trotzdem manchmal getan … // Also die wurden offen eingeliefert beim Kulturbund, man musste auch nen Zettel dazutun, in welcher Höhe des Katalogwertes diese Briefmarken sind, so dass das wie ne Ausfuhrgenehmigung war, das ausführen zu dürfen. Also Briefe, wo inhaltlich was stand, die hab ich dann jeweils extra geschickt. // Das war ne ziemlich strenge Regelung, die es da gab. Aber ja, gut, was solls. Hastes einfach so gemacht, und gut is. 27 - Atmo: Fahrender Zug... 28 - O-Ton Karin: Das ist ein Häufchen von einem japanischen Brieffreund, das sieht tatsächlich alt aus, weil ihn kannte ich schon, bevor er verheiratet war, dann hat er eine Polin geheiratet, drei Kinder bekommen, die inzwischen schon Enkel haben, und er ist jetzt 72, glaube ich. Erzähler: Herr Mitchi bereist für Hitachi die Welt. Intelligentes Gesicht, Brille, jung. Daneben eine weiße Frau mit Baby. 29 - O-Ton Karin: Mitchi kannte ich ja schon länger persönlich, da war es so ein Gemisch aus Schreiben und persönlich kennen, weil er sehr häufig in Europa war, in Deutschland war, und dann auch zu DDR-Zeiten einfach mal, wenn er durchfuhr von Berlin nach Wien mit dem Vindobona, der Hauptbahnhof ja hielt, einfach mal gesagt hat, ich bin um die und die Zeit da, komm doch mal vorbei, ich hab 2 Beutel für dich! Und hat dann irgendwas aus'm Zug heraus gereicht. Mit Kaffeetütchen drinne und diversen andern Sachen. Man wurde dann n bisschen komisch vom Bahnpersonal beäugt, was das denn da wohl ist, aber mich hat eigentlich nie jemand gefragt, was ich denn da bekomme. // Und niemand wollte jemals in diese Beutel kucken oder sie mir wegnehmen. 4 Erzähler: Der Vindobona, er fährt die Strecke Hamburg – Wien. Mit Halt in Ostberlin, Dresden und Prag. Bis 89 ein Sehnsuchts-Zug. Wer an der Grenze raus muss, sieht die andern weiterfahren. 30 - O-Ton Karin: Ich weiß gar nicht, ob 's für die meisten 'nen Unterschied gemacht hat, ob Ost- oder West-Deutschland ist. Ich musste manchmal wirklich erst dreimal erklären, dass ich in der Deutschen Demokratischen Republik lebe. Und nicht in der Bundesrepublik. Aber da kam selten mal 'ne Reaktion drauf. Für die meisten war 's damit getan, zu begreifen, ah ja, es gibt ja zwei deutsche Staaten. Und die lebt nun halt im Osten. Aber da kam dann nicht oh je, oh je, armes Mensch, oder oh, hoch interessant, erzähl mal, wie das so ist. Erzähler: Eine Ausnahme ist Agnes, Jahrgang 38, ledig, Krankenschwester in der Schweiz. 31 // 32 - O-Ton Karin: Also mit ihr - sie ist glaub ich diejenige, mit der ich am meisten über Politik geschrieben hab. Weil sie war interessiert, wie das System DDR funktioniert, konnte es allerdings nie wirklich verstehen also, ist wahrscheinlich auch schwer zu verstehen gewesen. // Wie hier was funktioniert und warum wir Dinge nicht anders machen als wir sie machen, und das waren manchmal schon ganz schön heftige Briefe hin und her, wo ich manchmal dachte, Gott, mal sehen, ob sie dir jetzt überhaupt wieder antwortet, weil ich war halt n bisschen in Verteidigungshaltung gefangen, was sonst eigentlich gar nicht unbedingt mein Ding war. Erzähler: Einmal kommt die Schweizer Krankenschwester sogar in die DDR, eine Gruppenreise auf den Spuren Bachs, und Karin fährt nach Leipzig. 33 // 34 // 35 // 36 - O-Ton Karin: Das war 84, 85, // das war irgend so 'n Hotel, wo eigentlich nur westdeutsche oder westliche Ausländer absteigen durften oder konnten – das war in der Nähe vom Hauptbahnhof und wir haben uns dort getroffen. // Sie hatte ja vielleicht auch nur 'ne Stunde Zeit, sie war mit 'ner Reisegruppe unterwegs. Wir haben dort einfach n bisschen gesessen und haben gesprochen, und uns gefreut, dass wir uns mal gesehen haben, aber n bisschen komisch war das, war wirklich komisch, // Man kriegt das nicht so schnell überein, dass das ein und dieselbe Person ist, mit der man sich eigentlich ja manchmal wirklich zutiefst persönliche Sachen ausgetauscht hat, und auf einmal sitzt der oder diejenige vor einem und huää, dann fängt das große Stottern an, und man versucht irgendwie vom Schreiben zum Sprechen anzuknüpfen, und das ist total schwer. Erzähler: Schreiben als Schutzraum. Ungewohnt für Karin, im Mittelpunkt zu stehen. Die Befragung strengt sie an. 37 // 38 - O-Ton Karin: 5 Ja, 52 geboren, sozusagen Kind der späteren Nachkriegsjahre. Bin 10 Jahre zur Schule gegangen, hab 'n Beruf gelernt, hab dann studiert, in Dresden, - das berühmte, was man da immer so gerne studiert hat – Ingenierökonomie! // spezialisiert aufs Verkehrswesen. Und da speziell die Eisenbahn. Also ich bin Eisenbahnerin gewesen. Erzähler: Wenn das Mikro aus ist, fragt sie mehr als einmal: Wen soll denn das alles interessieren? 39 // 40 // 41 - O-Ton Karin: Gott jetzt fällt mir gar nicht mehr ein, wann ich geheiratet hab, ist ja aber eigentlich auch egal. Da das nicht der wichtige Teil meines Lebens war. // Meine Arbeitskollegen haben immer zu mir gesagt, eigentlich seid ihr gar nicht richtig verheiratet, weil wir selbstständig jeder für sich Dinge getan haben, was in anderen Ehen offensichtlich nicht üblich war. // Mein Kind ist 1980 zur Welt gekommen, kann man gut rechnen mit der Zahl, 1980, muss man nicht immer überlegen, wie alt sie denn nun ist. Erzähler: Das Kind ist erwachsen, die Ehe geschieden. Jetzt wohnt Karin als Rentnerin in Radebeul, zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Andrea. 42 - Atmo: Karins Lebensgefährtin kommt nach Hause. Andrea: Tun mir die Füße weh! … - So, woll 'n wir jetzt n Kaffee trinken? 43 // 44 - O-Ton Karin: Das war mir schon sehr wichtig, das mitzuteilen. Und ich dachte mir, wer mich daraufhin ausschließt und mir nicht mehr schreibt, ist gut. Ist ne Entscheidung. // Es gab welche, die gar nicht drauf reagiert haben, aber einfach weiter geschrieben haben, aber es gab auch einige, die wirklich nachgefragt haben. Wo ich mich auch sehr gefreut hab. Oder die mir auch gesagt haben, dass sie sich für mich freuen. 45 - Atmo: Fahrender Zug. - wie 27. Erzähler: Dresden Hauptbahnhof. Wo einst der japanische Brieffreund seine Tüten auf den Bahnsteig runter reichte, winken im Herbst 89 erregte Menschen aus Zügen. Man hat ihnen versprochen, sie dürfen durchfahren bis Österreich. 46 // 47 // 48 // 49 - O-Ton Karin: Ich hab se selber winken sehn. // Ich hab sie selber winken sehn. // Ich hab mich gefreut. Und hab 's fast gar nicht geglaubt, dass sie wirklich durchfahren dürfen. Ich hab mich für die Leute gefreut. Selbst wenn 's nicht meine Intention war, so 'n Weg zu gehen. Ich hätte lieber eher hier was verändert als weg zugehn. // Die Veränderungen sind dann mit der Wiedervereinigung gekommen, ich hab in 'nem Ingenieurbüro gearbeitet … unser Ingenieurbüro – wurde nicht mehr gebraucht. Erzähler: Ein Ingenieurbüro auf hohem Niveau, trotzdem. Der Schock: Arbeitslos. Jahre in Frauen-Projekten, dann studiert sie noch mal: Sozialpädagogik. Eine harte Zeit, 6 während die meisten Brieffreunde denken, jetzt würde Karins Leben leichter. Ausgerechnet Agnes, die Schweizer Krankenschwester, die dem Experiment DDR überhaupt nichts abgewinnen konnte, schreibt über den historischen Herbst: 50 – O-Ton Karin: (liest vor): Wie viele Emotionen da frei wurden, wie viel Freude, aber auch Wut, Enttäuschung und Hass. Dabei habe ich ein sehr ungutes Gefühl. Ich verstehe wenig oder gar nichts von Wirtschaft und Politik, aber ich befürchte sehr, dass die DDRBürger auf dem besten Weg sind, nochmals betrogen und verkauft zu werden. Erzähler: Immer öfter brechen jetzt Kontakte ab, besonders rüber ins andere Deutschland. 51 // 52 // 53 // 54 - O-Ton Karin: Eine einzige gibt ’s noch, in Westberlin jetzt GanzBerlin, // Die andern sind – die haben sich aufgelöst in Wohlgefallen. Die, die DDRBriefmarken gesammelt haben, für die war Schluss, das ist ein abgeschlossenes Gebiet jetzt, ja abrupt ist das eingebrochen. // Was mich aber mal am meisten frappiert hat, war ein Briefpartner, den ich in Uruguay hatte, // ich glaub, er war nach Argentinien gegangen, um nicht politisch verfolgt zu werden. Also dieser Briefpartner war sehr interessiert daran, wie das tatsächlich funktioniert mit Sozialismus, und mit dem Gemeinwesen im Lande und alles, und der hat schlagartig aufgehört zu schreiben. Mit der Wende. Und denn hab ich mal ein oder 2 Jahre später mal nachgefragt, warum er gar nicht mehr schreibt, und da kam zurück, ja, das Schreiben mit mir ist für ihn jetzt uninteressant, weil ich ja jetzt auch in 'nem kapitalistischen Land lebe. Musik: Pathetisch aus Karl-May-Film. Erzähler: Wild ist der Westen, weit ist die Prärie. Märchen-Orte – über Nacht zum Greifen nah. An der Wand ein großes Farbfoto, selbst aufgenommen: majestätische Felsen im Abendlicht, das Monument-Valley. 55 // 56 - O-Ton Karin: Ich wollte da schon immer mal hin. Das ist die legendäre Landschaft der WesternFilme der 50er, 60er Jahre, da wollte ich selber gerne immer mal stehen. Damals hab ich nicht gewusst, dass das n Indianer-Reservat ist, das hab ich dann erst gelernt. // Wir sind ja dann richtig einmal quer durch das Reservat durchgefahren, die dirigieren sich ja sozusagen selbst, die haben ihre eigene Polizei, ihre eigenen Schulen, ihr eigenes Krankenhaus, alles autonom betrieben und haben auch so was wie 'ne Hauptstadt natürlich, wo 's ne Universität gibt, da haben wir schon gedacht, wir kommen da mal ins Gespräch, im Museum haben wir das dann mal 'n bissel geschafft, aber nicht wirklich. Nicht wirklich mit denen die dort leben, das war irgendwie schade. 57 - Atmo: Karin kommt die Treppe runter, schließt Blech-Briefkasten auf. (wie in 23.) Erzähler: 7 Inzwischen ist Roberto Avila in seinem texanischen Gefängnis 63 geworden und an Diabetes erkrankt. Immer kunstvoller bemalt der Häftling seine Couverts, tanzende Tiere, Blumen. 58 // 59 // 60 - O-Ton Karin: Also er hat sehr viel über seine Entwicklung zu Gott hin geschrieben. Die im Gefängnis stattgefunden hat, sozusagen seine Abkehr von dem, was er an weltlichen Dingen mit seiner Drogendealerei getan hat. // Nach 40 Jahren im Gefängnis ist das eigentlich das normale Leben. Also er kennt gar nichts anderes mehr. Ist mit 26 ins Gefängnis gekommen, und er kennt das eigentlich gar nicht, und er hat auch selber mal geschrieben, dass er gar nicht wüsste, ob er draußen noch zurecht käme. // Er geht zwar immer wieder zu diesen Gesprächen und hatte also zumindest Anfang der 90er die Hoffnung, dass es diesmal klappen könnte und er entlassen wird, aber das schreibt er schon lange, lange nicht mehr, also – Er geht da einfach noch hin, weil er muss, aber diese Hoffnung hat für ihn keinen Sinn mehr. Zumindest formuliert er das so, weil er wirklich Angst davor hat, rausgehen zu müssen. 61 - Atmo – Karin: Also ich bin 3 x in den USA gewesen, // ich war in Jordanien, in Syrien, in Lybien, in Marocco … In Namibia. In Japan. In fast allen europäischen Ländern, und Portugal werde ich mir dies Jahr noch angucken … Erzähler: In den meisten Ländern war ich bis jetzt noch nie, sagt sie bescheiden. - Überall Brieffreunde. Der Eiserne Vorhang – Vergangenheit. Man könnte einander jetzt besuchen. Doch das geschieht nicht. 62 - O-Ton Karin: Vielleicht hat das was damit zu tun, dass Schreiben über so viele Jahrzehnte n gewissen Eindruck von 'nem Menschen entstehen lassen und das will man nicht durch die Realität verändert wissen oder - Ich hab 's mir mal so als Möglichkeit gedacht, warum ich nicht selbst auf jemand zugegangen bin. Ich hab aber auch nicht drauf gewartet, dass mich jemand einlädt. Erzähler: Selbst mit Agnes, Mitte der 80er schon mal zu Besuch in der DDR, gibt es kein Wiedersehen mehr. Warum? 63 - O-Ton Karin: Dafür hab ich echt wirklich keene Antwort. Ich weiß es einfach nicht. Ich bin durchaus schon 2 oder dreimal in der Schweiz gewesen in der Zeit als wir dann reisen konnten, aber ich bin eigentlich nie wirklich auf die Idee gekommen, mal vorher anzuklopfen per Brief und zu fragen, können wir uns irgendwo treffen? 64 - Atmo Küche: Essen blubbert auf dem Herd. Andrea: N bisschen mehr Salz. Koste mal … Erzähler: Das Abendessen köchelt auf dem Herd. Karin ist erschöpft. Sie verschließt sich, sobald das Gespräch die politische Wende berührt. 8 65 // 66 - O-Ton Karin: Wir kommen schon wieder an die Ecke, wo ich nicht hin will. // Und von außen betrachtet zu werden ist immer was anderes als dort zu leben und das wirklich gelebt zu haben. Erzähler: Die Geschichtsschreibung folgt dem Sieger. Wie soll man sich in die Augen schauen? 67 // 68 // 69 // 70 - O-Ton Karin: Na Agnes hat sich wirklich schon für das Leben hier interessiert und konnte mit dem politischen System überhaupt nix anfangen. Da war immer so 'n Haufen Bedauern da, dass wir ja so eingesperrt sind und dies und das und keene Bananen jetzt mal so ganz banal verknappt klischeehaft gesagt, und – Ich hab dann eben immer geschrieben, nee, man kann hier ooch ganz ordentlich leben, es ist einfach nicht so, dass hier alles grau ist und hm … // Man konnte das nicht so stehen lassen, weil man wollte auch nicht als weiß ich nicht behindert in multi-behindert zu sein in verschiedenen Dingen, man wollte das einfach nicht so kleingeredet haben das eigene Leben. Weil man es selber gar nicht so empfunden hat. Und letztendlich sind das bloß Meinungen gewesen, denn die meisten sind niemals in der DDR unterwegs gewesen und haben sich das mal selber angeguckt. Naja, und Agnes war 84, 85 dagewesen, und hinterher hat sie auch geschrieben, es sei total schrecklich gewesen, die Grenzkontrollen total schrecklich, und dass sie nicht wiederkommen wird. Ich hatte das auch mit 'ner Freundin aus Wuppertal, // die hat sich wirklich hinter meinem Rücken versteckt, wenn da mal so 'n Volkspolizist über die Straße ging oder was – ich sag, sag mal, was isn mit dir los?, und sie naja … // Ja, die Ängste sind mir von den wenigen Besuchen, die ich zu DDR-Zeiten hatte, am meisten in Erinnerung. Dass die höllische Angst hatten, hier nicht wieder rausgelassen zu werden, und vor jeder Uniform Schiss gekriegt haben – wo ich dann sagen musste, mein Gott, das ist nur n Eisenbahner, das ist nichts Gefährliches! Erzähler: Agnes, die Schweizer Krankenschwester, ist jetzt 77. Obwohl es keine persönliche Begegnung mehr gibt, schreiben die Frauen einander weiter. - Auch der Kontakt zu Herrn Mitchi nach Japan hat über all die Jahre gehalten. 71 // 72 // 73 // 74 // 75 // 76 - O-Ton Karin: Er ist auch nach der Wende noch gekommen, war beispielsweise höchst interessiert an meinem Trabant und hat die Innereien fotografiert, die Motorhaube musst ich heben (lacht), und er hat die ganzen Innereien fotografiert und sich gewundert, dass da so vieles noch so ganz einfach ist und es fährt trotzdem. Und genauso platt war er – die Andrea hat zu der Zeit damals die Wohnung in Radebeul renoviert und saniert und da waren ganz viele Freundinnen und Freunde da zum Helfen, tapezieren und malern, und ich hab ihn in meinen Trabi eingesackt und hab gesagt, ich muss jetzt aber hier noch mal anhalten, // und da war er so platt und sagt oh, so viele, so was gibt ’s bei uns in Japan nicht, da kommt niemand und hilft dir. // Und denn haben wir uns viele, viele Jahre gar nicht gesehen, bis ich dann das Geld endlich zusammen hatte, mal nach Japan zu fahren. // Und ich war n bisschen sehr bänglich davor, was – wie funktioniert das, sich nach so langer Zeit wiederzusehen und hach, was erzählt man sich denn da, ja. Und dann war das, // als ob die 15 Jahre Nicht-Sehen gar nicht gewesen wären, das war dann wie gestern. // Eine Umarmung, und los ging 's. 9 Erzähler: Eine Umarmung - erstaunlich für einen reiferen Herrn in Tokyo. - Sie haben voneinander gelernt, die Frau aus Sachsen und ihr japanischer Freund. Bloß dass er jetzt E-Mails schreibt, mag Karin nicht. 77 // 78 - O-Ton Karin: Ich hab gerne Raschelpapier in der Hand und mach gerne n Umschlag auf. // Vorm Computer sitzen und da was reintippen, da funktioniert mein Gehirn nicht, vor 'nem Blatt Papier sitzen und was schreiben, da hab ich das Gefühl, ich müsste die Hand wie 'n Roboter rasend schnell bewegen können. // Das hat für mich einfach 'ne Faszination und ich werd also auch in 10 Jahren noch Briefe schreiben. Und noch länger, so lange es geht (Rascheln). Und solange die andern noch existieren. 10
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