PREIS DEUTSCHLAND 4,90 € 15.01.16 101158_ANZ_10115800005367 [P].indd 1 DIEZEIT 09:12 WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR Jetzt für Ihr Smartphone! www.zeit.de/apps 7. JULI 2016 15.01.16 No 29 09:11 101159_ANZ_10115900005368 [P].indd 1 Was nun, Herr Habermas? Der Philosoph erklärt, wie Europa aus der Brexit-Krise herausfindet Neue ZEIT-Serie Titelfoto: Maggie West, aus dem Fotoprojekt »KISS« DIE ZEIT im Taschenformat. Die Zukunft der Liebe Feuilleton, Seite 37 Recht haben reicht nicht Er ist der mutigste Fußballexperte. Jetzt wird es einsam um Mehmet Scholl Fußball, Seite 16 Folge 1: Was gilt heute als attraktiv? Wie sich das Suchen und Finden von Partnern verändert hat ZEITMAGAZIN PLEBISZITE UMWELTSCHUTZ Diktatur des Volkes Geht doch! Wer die Menschen direkt befragt, spielt Verführern in die Hände. Schicksalsfragen gehören ins Parlament VON JOSEF JOFFE R ichard Dawkins, der berühmte Biologe, versteht etwas von den Weltläuften. Für oder gegen Brexit? »Woher soll ich das wissen? Ich habe keinen Abschluss in Wirtschaft oder Geschichte. Was fällt Ihnen ein, mir Ignorant solche schicksalhafte Entscheidung anzuvertrauen?« Das Parlament müsse wägen und beraten. Das Referendum sei ein »Akt monströser Verantwortungslosigkeit«. Fügen wir hinzu: Es war gleichsam ein Atom‑ schlag gegen die bedachten Interessen Britanniens und Europas – ausgeführt von etwa 36 Prozent aller Wahlberechtigten. Dieses Verdikt ist keines‑ wegs eine Attacke gegen die Demokratie, sondern deren plebiszitäre Abart, den Volksentscheid. Konsultieren wir die Bibel der modernen Demokratie, die Federalist Papers. Mit ihren 85 Beiträgen gossen die amerikanischen Gründer‑ väter 1787 das philosophische Fundament für jene Constitution, die bis heute gilt und weltweit als Verfassungsmodell gedient hat. Lesen wir zum Brexit, was James Madison, der spätere Präsident, in Nr. 63 zur Direktdemokratie sagte: »In kritischen Augenblicken wird sich die Intervention eines gemäßigten und angesehenen Gremiums (hier: der Senat) als segensreich erwei‑ sen, um den Weg in die Irre sowie den Schlag, den das Volk gegen sich selbst führen will, so lange aufzuschieben, bis Vernunft und Wahrheit wieder Herr geworden sind.« Der kreativste Lügner war Boris Johnson, der Mann, der Premier werden wollte Welch »bittere Pein« wäre den Athenern »erspart« geblieben, »hätte ihr politisches System eine so vorausschauende Sicherung gegen die Tyrannei ihrer eigenen Leidenschaften gekannt«. Prophe‑ tisch Madisons Diktum, wonach »selbstsüchtige Männer« das Volk mit »geschickten Fehlinfor‑ mationen verleiten« könnten. Britanniens Verführer, Boris Johnson und Nigel Farage, haben sich nun selbst (politisch) entleibt – aus schierer Feigheit. Sollen doch ande‑ re die Trümmer beseitigen! Ihre Kampagne war eine Orgie der Schwindeleien, befeuert von einer »Lügenpresse« (hier stimmt das Wort), die statt Prüfung zynische Propaganda lieferte. Beispiele: 18 Milliarden Pfund entrichte Lon‑ don an die EU; in Wahrheit sind’s nur acht – nicht mal ein Viertel Prozent der Wirtschafts leistung. Berlin zahlt doppelt so viel. 27 000 Wörter umfasse die Weißkohl-Direktive der EU; bloß existiert die nicht. Kinder unter acht dürften keine Ballons aufblasen. Ein Hirngespinst. Es gilt nur die Warnung, wonach Eltern auf die ganz Kleinen aufpassen sollten. Ex-Premier John Major sprach schlicht von »Betrug«. Der kreativste Lügner war Boris Johnson, der Premier werden wollte. Wir können »den Kuchen behalten und essen«, dröhnte er. Er gaukelte vor, den Zugang zum Binnenmarkt bewahren und dennoch die Freizügigkeit kippen zu können. Er kannte die Wahrheit, und prompt röhrten die 27 anderen EU-Mitglieder nach dem Brexit: »Nein!« Nun sind auch hochmögende Parlamente nicht gegen Wahn gefeit. Deshalb ist die Volks‑ herrschaft der Verfassung untertan. Hat die Mehrheit freie Fahrt, »sind die Rechte der Min‑ derheit nicht gesichert«, lehrt Madison in Nr. 51. Folglich haben die Jungamerikaner Gewalten teilung und checks and balances eingebaut, die seitdem für jede freiheitliche Verfassung gelten. Das Volk ist der Souverän, nicht der Diktator. Eine Kammer konterkariert, was die Mehrheit der anderen verfügt hat. Beide müssen sich dem obersten Gericht unterwerfen – in Deutschland dem Verfassungsgericht. Dieses entscheidet, was erlaubt ist. Noch eine Sicherung: Die Verfassungs änderung erfordert zwei Drittel des Bundestages, drei Viertel der US-Bundesstaaten. Die 52 Prozent der britischen Urnengänger haben die »Verfassung« – die bestehende Ord‑ nung – umgeschrieben (so denn der Brexit Ge‑ setz wird). Das »Raus« wird das Leben von Aber‑ millionen umkrempeln. Die einen werden arbeits los, weil das Auslandskapital England nicht mehr als Tor zur EU nutzen kann. Handelsströme ver‑ siegen, weil der Binnenmarkt perdu ist. London verliert seinen Rang an Frankfurt. Und das Ver‑ fassungsrecht der Wohnungswahl? Etwa zwei Millionen Briten in der EU are not amused. So viel Langfrist-Unheil wurde an einem ein‑ zigen Tag angerichtet. Demokratie ist eben kein An/Aus-Schalter, der das überlegte, konsequenzen bewusste Handeln kurzschließt. Deshalb kennen Deutschland und Amerika keine nationalen Ple‑ biszite. Sie haben 1948 in Herrenchiemsee und 1787 in Philadelphia weise entschieden. Der Va‑ banque-Spieler David Cameron hat » Rule Britannia!« in »Fool Britannia!« verwandelt. www.zeit.de/audio Flüchtlinge im Schulalltag Schaffen die das? Fünf Wahrheiten vor den Sommerferien Chancen, Seite 61 Das Ozonloch schrumpft. Dieser Erfolg der globalen Politik könnte auch beim Kampf gegen den Klimawandel helfen VON PETRA PINZLER M enschen können also die Um‑ welt doch nicht nur zerstören, wie man bislang immer dach‑ te. Sie können ihre Zerstö‑ rungen auch wieder besei tigen, die Dinge wieder in Ordnung bringen. Denn nicht weniger steckt hinter der überraschenden Meldung, das Ozon‑ loch schließe sich wieder. Die Schutzschicht um die Erde erholt sich langsam; bis Mitte dieses Jahr‑ hunderts, vermuten amerikanische Forscher, könnte sie sogar wieder vollkommen intakt sein. Das ist die gute Nachricht dieser Tage, und es ist mehr als nur eine wissenschaftliche Sensation. Es ist ein politisches Signal: Mutige Entscheidungen können doch etwas bewirken. Und das bedeutet auch etwas für die nächste große Reparatur aufgabe, die nun ansteht – die Bekämpfung des Klimawandels. Jahrzehntelang schien die Ozonschicht unauf‑ haltsam zu schrumpfen. Sie ist aber für das Leben auf der Erde unverzichtbar. 1987 reagierten die Regierungen weltweit und verabschiedeten ge‑ meinsam das sogenannte Montreal-Protokoll, in dem sich die Staaten verpflichteten, fortan auf ozonzerstörende Chemikalien wie Fluorchlor‑ kohlenwasserstoffe (FCKW) zu verzichten. Die Hersteller von Kühlschränken mussten von nun an neue Kühlmittel verwenden, und Kosmetik‑ firmen waren gezwungen, Haarsprays ohne die Treibgase FCKW zu entwickeln. Heute, fast 30 Jahre später, wirkt das Verbot. Internationale Abkommen funktionieren, wenn mutige nationale Schritte folgen Natürlich mischen sich in den Jubel auch Zwei‑ fel: War die Angst vor dem Ozonloch womög‑ lich übertrieben? War alles bloß eine Ökohyste‑ rie? Es stimmt schon: Ursache und Wirkung lassen sich in der Natur nicht immer hundert‑ prozentig beweisen. Es ist ja nicht einmal völlig sicher, dass der Lungenkrebs eines Kettenrau‑ chers allein durch dessen Zigarettenkonsum aus‑ gelöst wird. Die Tabakindustrie konnte in den USA mit diesem Argument jahrelang Prozesse gewinnen. Trotzdem finden die meisten Men‑ schen es heute plausibel, dass Rauchen krank macht. Und ganz ähnlich ist es mit dem Ozon‑ loch: Alles spricht dafür, dass die Treibgase FCKW die Schutzschicht der Erdatmosphäre geschädigt hat. PROMINENT IGNORIERT Was also lässt sich aus dieser Erfolgsgeschichte für den Kampf gegen den Klimawandel lernen? Die Erwärmung der Erde ist für die Menschen ähnlich lebensbedrohlich wie ein Loch in der Schutzschicht der Atmosphäre. Und wie bei den FCKW gibt es eine plausible Ursache: den welt‑ weiten Ausstoß an CO₂. Genau deswegen haben sich 190 Regierungen im vergangenen Dezember in Paris zu gemeinsamem Handeln verpflichtet. Auch die Bundesregierung war dabei, leider nur beherzigt sie die wichtigste Lehre der Ozon‑ geschichte bisher nicht. Sie lautet: Internationale Umweltabkommen funktionieren nur, wenn ih‑ nen mutige nationale Entscheidungen folgen. Wenn die Politik klare Ziele formuliert und sie auch gegen Widerstände durchsetzt. Wenn die Regierung kluge Gesetze schreibt und diese den Bürgern auch vernünftig erklärt. Der Klimaschutzplan 2050, den die Umwelt‑ ministerin gerade an ihre Kabinettskollegen ver‑ schickt hat, bleibt da erstaunlich vage. Er fordert keine neuen Maßnahmen, um den CO₂-Ausstoß noch in dieser Legislaturperiode so stark wie nö‑ tig zu reduzieren. Er enthält keinen konkreten Vorschlag, wie der Autoverkehr – der immerhin 18 Prozent des deutschen CO₂-Ausstoßes ver ursacht – noch vor der nächsten Wahl umgebaut werden könnte, sodass die Menschen mobil bleiben und umweltfreundlich unterwegs sind. Die große Herausforderung einer solchen Ver kehrswende liegt in der notwendigen Verhaltens änderung der Menschen – und das ist ein wesent‑ licher Unterschied zur Bekämpfung des Ozon‑ lochs. Noch immer steht in jeder Küche ein Kühlschrank und in vielen Badezimmern ein Haarspray – nur eben ohne FCKW. Die Verkehrs wende aber gelingt nur, wenn es neue, ganz andere Formen der Mobilität gibt. Strengere Grenzwerte für den CO₂-Ausstoß. Die gezielte Entwicklung neuer Autos. Und am Ende auch das Verbot klas‑ sischer Verbrennungsmotoren. Das klingt fantastisch? Der amerikanische Ökopionier Amory Lovins hat die Wucht, mit der technologischer Wandel kommen kann, ein‑ mal am Beispiel der Osterparade auf der Fifth Avenue in New York beschrieben. Auf der fuhren im Jahr 1900 nur Pferdefuhrwerke, 1910 dann schon fast nur noch Autos. Bald fuhren die Autos überall. Weil der Staat erst Straßen baute – und irgendwann die Pferde in der Stadt verbot. www.zeit.de/audio Etwas und Nichts Als der Bikini-Erfinder Louis Ré‑ ard vor 70 Jahren sein Fastnichts in Paris erstmals zeigte, musste eine Nackttänzerin es anziehen, weil sich die Mannequins weigerten. Lange Zeit war der Bikini verpönt. Der Fortschritt hat uns mittler weile den Minikini und den Mi crokini beschert. Insofern ist der muslimische Ganzkörperanzug, der Burkini, zu begrüßen: Jetzt kann man den Weg vom Etwas zum Nichts abermals beschreiten. GRN. Kleine Fotos (v. o.): Lennart Preiss/dapd; Anatol Kotte für DIE ZEIT; Schmölcke/Interfoto Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, 20079 Hamburg Telefon 040 / 32 80 ‑ 0; E-Mail: [email protected], [email protected] ZEIT ONLINE GmbH: www.zeit.de; ZEIT-Stellenmarkt: www.jobs.zeit.de ABONNENTENSERVICE: Tel. 040 / 42 23 70 70, Fax 040 / 42 23 70 90, E-Mail: [email protected] PREISE IM AUSLAND: DK 49,00/FIN 7,50/N 66,00/E 6,10/ CAN 6,30/F 6,10/NL 5,30/ A 5,00/CH 7.30/I 6,10/GR 6,70/ B 5,30/P 6,30/L 5,30/H 2090,00 o N 29 7 1. J A H RG A N G C 7451 C 29 4 190745 104906
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