Editorial Weltwoche Ausgabe 27

Editorial
mehr einem anderen Geld aus, wenn er dafür
keinen Zins oder gar einen Negativzins aufgebrummt bekommt. Es ist interessant, dass sich
immer mehr Freunde mit den zwanziger und
dreissiger Jahren des letzten Jahrhunderts befassen, als sich das Geld im Zuge einer Hyper­
inflation auflöste.
Lähmend schön
Brexit in Südfrankreich.
Jordans Angriff auf den Franken.
Spiegel gegen die Demokratie.
Von Roger Köppel
N
L
etzten Freitag nahm ich in Südfrankreich
an einer Debatte über den Brexit teil. Auf
dem Podium sass unter anderem die linksfranzösische Exministerin Elisabeth Guigou, die
mit dem uneinnehmbaren Selbstvertrauen
­einer Frau, die Frankreichs höchste Schulen besuchte und ausserdem noch immer sehr schön
ist, den EU-Ausstieg der Briten für eine Verrücktheit erklärte. Es fiel mir schwer, den
­Unsinn ihrer Argumentation zu zerzausen,
weil mich Guigou lähmend an die französische
Leinwandgöttin Mireille Darc erinnerte, die
während der siebziger Jahre als Film- und
­Lebenspartnerin Alain Delons meine sehnsüchtigsten Jungteenager-Träume beherrschte
(«Ein Mädchen wie das Meer»).
Dann aber äusserte die Sozialistin mit säuerlicher Miene den Satz, der wie kein anderer die
Arroganz, die Verblendung und die kaum in
Worte zu fassende Anmassung des real existierenden Europäismus heutiger Prägung ausdrückte: «Die EU ist unverzichtbar, weil sie die
europäischen Grundwerte verkörpert, also
Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie.» Ich war
verblüfft, mit welcher Selbstverständlichkeit
Frau Guigou eine derartige Ungeheuerlichkeit
aussprechen konnte. Kein Staat, keine Behörde, keine Agentur hat den Alleinvertretungs­
anspruch für europäische Werte. Es sind die Bewohner Europas und die Vielfalt ihrer Länder,
die , wenn schon, diese Werte tragen.
Wer es sehen will, der sieht: Die heutige EU
ist zu einer Bedrohung jener Werte geworden,
die sie hochzuhalten glaubt. Demokratie und
Rechtsstaat verwildern in der EU, wegen der
EU. Die EU missachtet laufend ihre Regeln und
trifft Entscheidungen, zu denen die Bürger nie
befragt wurden: Euro, Staatsverschuldung,
Asyl, Griechenlandhilfe, Sicherung der Aussengrenzen. Nichts wollte die ehemalige französische Spitzenpolitikerin von solchen Einwänden ­hören. Die Panzerdivisionen ihrer Ideologie
versperrten den Blick auf die Wirklichkeit. Die
heutige EU hat wenig, der Brexit aber sehr viel
mit «europäischen Grundwerten» wie Demokratie, Freiheit und Selbstbestimmung zu tun.
B
ei einem Mittagessen unterhalte ich mich
mit einem erfahrenen, erfolgreichen Bankier. Abgesehen davon, dass er den Brexit wie
ich erfreulich findet («Die EU ist Wahnsinn»),
teilen wir auch die Sorgen über die Zukunft des
Schweizer Frankens. Macht Nationalbankpräsident Thomas Jordan unsere Währung kaputt?
Weltwoche Nr. 27.16
Bild: Nathan Beck
«Der Rechtsstaat verwildert in der EU.»
Es ist doch krank, dass immer noch mehr Mil­
liarden gedruckt werden, um eine Aufwertung
zu verhindern. Ich bin kein Nationalbanker,
aber ich weiss, dass es nicht gut kommt, wenn
ein starkes Land, das eine starke Währung hat,
die eigene Währung laufend schwächt. Wann
ist der Punkt erreicht, an dem der Franken unkontrollierbar absackt? Was bedeutet der gewaltige Verlust an Kaufkraft, den Jordan den
Schweizern beschert? Dazu kommen noch die
Negativzinsen, dieses Krebsgeschwür der Wirtschaft, dieses Gift, das unsere Sparguthaben
auffrisst. Im Volkswirtschaftsunterricht habe
ich gelernt, dass die Wirtschaft von Zinsen lebt.
Die einen leihen den andern Geld aus, um dafür
Zinsen zu bekommen. Es leiht doch keiner
Qualität ist nicht
unser Anspruch,
sondern eine Selbstverständlichkeit.
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ach dem Volksentscheid der Briten, der anders herausgekommen ist als erwünscht,
wird in der EU umgehend der Ruf nach einem
Verbot von Volksentscheiden laut. Allen voran:
Das deutsche Nachrichtenmagazin Der Spiegel,
einst selbst erklärtes «Sturmgeschütz der
­Demokratie», macht sich heute für die Einschränkung derselben stark. Unter dem Titel
«Plebiszit des Grauens» giftet das Blatt in seiner jüngsten Ausgabe gegen die direkte Demokratie. «In der komplexen Welt des 21. Jahrhunderts» müsse man «das politische Kerngeschäft
gewählten Vertretern» überlassen – die dann
zum Beispiel an den Stimmbürgern vorbei die
Unheilswährung Euro einführen oder die Landesgrenzen öffnen für Völkerwanderungen aus
Afrika und dem Nahen Osten. Das einstige
­Oppositionsblatt Der Spiegel ist zum schreibenden Arm des Establishments geworden. Spiegel
des Widersinns.
S
chon wieder muss ich mir das wirtschaftshistorisch falsche Lob der bilateralen Ver­
träge anhören. Bei einer «Arena»-Sendung, an
der ich teilnehmen durfte, behauptete ein unter
dem Brexit leidender Student, ohne die Bilateralen wäre die Schweiz in den neunziger Jahren
verarmt. Es ist nicht zu fassen, mit was für
­Bildungslücken unsere Jugend in die Hochschulen surft.
Zu den Tatsachen: Anfang der neunziger
­Jahre rutschte die Schweiz nach einer Überhitzung mit Immobilienblase in die Rezession. Die
­Zinsen explodierten, Firmen gingen ein. Die
Wirtschaft lahmte heftig, gleichzeitig wurde
der Staat aufgebläht. FDP-Nationalrat Ueli Bremi forderte: «Wir müssen wieder früher aufstehen.» Das Nein der Schweiz zum EWR im Dezember 1992 schleuderte die Polit-Elite gänzlich
ins Elend: Ein schwarzer Tag, hiess es trotzig aus
Bern, man werde die EU bald, auf Knien kriechend, um einen Beitritt bitten et cetera.
Es kam anders. Bereits 1996 erholte sich die
Wirtschaft. Ich erlebte es als junger Chefredaktor. Plötzlich sprudelten wieder die Inserate.
Die Budgetkürzungen liessen nach. Der Aufschwung wurde nur kurzzeitig durch das
­Platzen der Dotcom-Blase unterbrochen, dann
ging es fröhlich weiter bis zum Crash von 2008.
Mit den Bilateralen hatte dieser Aufschwung
bis zum Abschwung nichts, rein gar nichts zu
tun. Die EU-Abkommen traten nach einer
Volksabstimmung erst ab 2002 gestaffelt in
Kraft. Es ist Geschichtsklitterung, die Erholung
der Wirtschaft in den Neunzigern mit Verträgen zu erklären, die es damals gar nicht gab.
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