LÄNDERFOKUS Brexit: Kein glorreiches Vorbild für

Helaba Volkswirtschaft/Research
LÄNDERFOKUS
7. Juli 2016
Brexit: Kein glorreiches Vorbild für Nordländer
AUTOR
Marion Dezenter
Telefon: 0 69/91 32-28 41
[email protected]
REDAKTION
Dr. Stefan Mitropoulos
HERAUSGEBER
Dr. Gertrud R. Traud
Chefvolkswirt/
Leitung Research
Helaba
Landesbank
Hessen-Thüringen
MAIN TOWER
Neue Mainzer Str. 52-58
60311 Frankfurt am Main
Telefon: 0 69/91 32-20 24
Telefax: 0 69/91 32-22 44
Das Beben an den Finanzmärkten, das der letztlich unerwartete Ausgang des britischen EUReferendums in der EU ausgelöst hat, verursachte auch in den nordeuropäischen Ländern
Erschütterungen. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Position gegenüber der EU sind Finnland,
Schweden, Dänemark und Norwegen von möglichen Auswirkungen unterschiedlich betroffen.
Wie umfangreich und anhaltend die Konsequenzen in diesen Ländern sein werden, hängt auch
von der Reaktion ihrer Regierungen ab.
Unmittelbar nach Bekanntwerden des Brexit-Votums reagierten auch die Finanzmärkte in den
nordeuropäischen Ländern. Dabei war die Haltung des jeweiligen Landes zur EU deutlich abzulesen: Im Euroland Finnland und im EU-Mitglied Schweden, die in der Vergangenheit auch schon
einmal durch geplante oder realisierte Referenden zur EU auffielen, waren die Reaktionen deutlicher als in Dänemark, wo die Krone eng an den Euro gekoppelt ist und die EU-Mitgliedschaft außer Frage steht. Auch in Norwegen war um den Tag des Referendums die Nervosität der Anleger
spürbar. Die Bevölkerung hatte bereits 1972 und 1994 gegen den EU-Beitritt gestimmt. Seit 1994
ist das Land aber als Teil des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) mit der EU verbunden. Zum
Tragen kam hier die Sorge um Beeinträchtigungen der Konjunktur durch den drohenden Brexit.
BIP real
in % gg. Vorjahr
2015
2016 p
BIP
pro Kopf
Arbeitslosenquote
Inflation
HVPI
Einwohner
EU-28=100
2015
in %
2016 p
in %
2016 p
in Mio.
2016
Dänemark
1,0
0,8
124
4,3
0,5
5,7
Finnland
0,5
1,1
108
8,9
0,2
5,5
Norwegen
1,6
1,3
163
4,6
2,8
5,3
Schweden
4,2
3,4
123
7,5
0,6
9,5
Deutschland
1,4
1,6
125
4,6
0,6
81,2
Eurozone
1,6
1,6
106
10,1
0,4
338,5
Quellen: Eurostat, Macrobond, Helaba Volksw irtschaft/Research
Die Publikation ist mit größter
Sorgfalt bearbeitet worden.
Sie enthält jedoch lediglich
unverbindliche Analysen und
Prognosen zu den gegenwärtigen und zukünftigen
Marktverhältnissen. Die Angaben beruhen auf Quellen,
die wir für zuverlässig halten,
für deren Richtigkeit, Vollständigkeit oder Aktualität wir
aber keine Gewähr übernehmen können. Sämtliche in
dieser Publikation getroffenen Angaben dienen der Information. Sie dürfen nicht
als Angebot oder Empfehlung für Anlageentscheidungen verstanden werden.
Denn die vier Länder befinden sich in unterschiedlichen Phasen ihres Konjunkturzyklus, so dass
Exporteinbußen und andere Spillover-Effekte besser oder schlechter verkraftet werden können: In
Schweden etwa boomt die Konjunktur. 2015 wuchs die Volkswirtschaft gegenüber dem Vorjahr um
real 4,2 %, für 2016 ist ein Plus von 3,4 % machbar. Eine leichte Abkühlung wäre hier eher unproblematisch. Ganz anders in Norwegen: Der Ölpreisverfall seit Mitte 2014 macht der vom Energiesektor dominierten Wirtschaft zu schaffen. Und auch die finnische und die dänische Volkswirtschaft kämpfen mit dem noch schwachen bzw. sich abschwächenden Wirtschaftswachstum.
Norwegen hat zudem von den vier Ländern die intensivsten Handelsbeziehungen mit Großbritannien: Über 20 % der Warenexporte gehen auf die britische Insel, die damit die wichtigste Exportdestination ist. Für die anderen drei Länder hat Großbritannien mit 6 % bis 7 % ein deutlich geringeres Gewicht. Daher werden der Wertverlust des Britischen Pfunds und der zu erwartende Dämpfer in der Konjunktur des Vereinigten Königreichs in der norwegischen Wirtschaft unmittelbarer
Spuren hinterlassen als bei den Nachbarn. Hinzu kommen Preis- und Konjunktur-Effekte über den
Außenhandel mit der EU, die wir 2016 für überschaubar halten.
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LÄNDERF OKUS SKANDINAVIEN
Vielfalt des Konjunkturzyklus in Skandinavien
Löwenanteil der Exporte in die EU
Reales BIP, % gg. Vj.
Warenexporte in die EU, % aller Exporte
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Insgesamt dürften die konjunkturellen Folgen des Brexit-Votums daher für Norwegen am deutlichsten spürbar sein und v.a. ab 2017 Wachstum kosten. Auch Schweden wird von der schwächeren
Konjunktur des Handelspartners betroffen, wenn auch aufgrund der niedrigeren Warenexporte
nach Großbritannien in geringerem Umfang. Zudem zeigt sich die schwedische Konjunktur generell derzeit in einer robusten Verfassung. Auch für Finnland und Dänemark sind die direkten Auswirkungen auf die Realwirtschaft zunächst nicht gravierend. Allerdings könnte die damit verbundene Unsicherheit dem ohnehin schwachen Wachstum zusätzlich schaden.
Auf und Ab an den Märkten
Deutliche Marktreaktionen
Diese Aspekte dürften nach dem Brexit-Votum auch die Finanzmärkte bewegt haben, denn kurzfristig war ein deutlicher Anstieg der Verzinsung von 10-jährigen Staatsanleihen zu verzeichnen.
Auch die Währungen reagierten: Während die Abwertung gegenüber dem Euro durch den Wertverlust des Euro selbst noch recht moderat ausfiel, war sie gegenüber dem US-Dollar viel stärker.
In allen drei Ländern, besonders aber in Schweden, war jedoch nach der ersten Aufregung bei
Staatsanleihen eine Trendwende abzulesen, so dass der Spread zur deutschen Benchmark zurückging. Am schwächsten waren die Ausschläge in Dänemark, das den Investoren durch seine
enge Euro-Anbindung offenbar wenig Anlass zur Sorge bot. Auch die Verluste an den Devisenmärkten wurden z.T. wieder aufgeholt, allerdings scheint hier eher ein gespanntes „wait and see“
das Motto zu sein als die Entwarnung. Offenbar werden insbesondere schwedische Anleihen weiterhin als sichere Geldanlage betrachtet, während Unsicherheiten über den Umfang der Kapitalbewegungen noch auf die Wechselkurse wirken.
Bonds: Sicherer Hafen Schweden
Währungen: Wait and see
Spreads 10-jähriger Staatsanleihen zur deutschen Benchmark, Basispunkte
Währungen zum Euro, Index, 1.1.2016 = 100
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Quellen: Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Zu Turbulenzen an den nordeuropäischen Aktienmärkten kam es mit Verzögerung, da am 24. Juni,
dem Tag nach dem britischen Referendum, wegen des Mitsommerfestes die Börsen geschlossen
blieben. Zwar war den Aktienindizes am nächsten Börsentag die Verunsicherung noch anzumerken, in der Folge stabilisierte sich die Situation aber.
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LÄNDERF OKUS SKANDINAVIEN
Zentralbanken reagieren
mit Bedacht
Wachsam sind die nationalen Zentralbanken: Zwar gab es keine Leitzinsbewegungen außer der
Reihe und auch beim regulären Zinstermin der schwedischen Notenbank Anfang Juli wurde der
Leitzins stabil gehalten. Dennoch reagierten die Notenbanken auf das Ergebnis des Referendums:
Die norwegische Zentralbank pumpte nach Bekanntwerden des Votums gut 23 Mrd. Kronen (rund
2,5 Mrd. Euro) in den Markt und setzte so ein Signal gegen eine Aufwertung zum Euro. Die
schwedische Riksbank schob die Aussicht auf eine Anhebung der Zinsen weiter hinaus auf Ende
2017 und verwies auf die gestiegene Unsicherheit an den Finanzmärkten. In Dänemark bekräftigte
die Zentralbank erneut, den Euro-Kronen-Kurs stabil halten zu wollen.
Geldpolitik: Keine Panikreaktionen
Leitzinsen, %
Quellen Macrobond, Helaba Volkswirtschaft/Research
Die EZB hat ihre Geldpolitik massiv gelockert. Sollte sie sich genötigt sehen, eine konjunkturelle
Abschwächung als Folge des Brexit mit weiteren Maßnahmen abzufedern, dürfte dies die Finanzmärkte in Nordeuropa tendenziell stärken. Denn dann würde – insbesondere in Schweden, aber
auch in Dänemark – der Aspekt „sicherer Hafen“ wieder stärker in den Vordergrund rücken. Für
diese Länder ist das indes keine allzu attraktive Perspektive, da der Kapitalzufluss die Währungen
und damit die Exporte verteuern würde. Daher ist davon auszugehen, dass die Zentralbanken der
vier Länder dann ihre Maßnahmen zur Stärkung bzw. Stabilisierung der Konjunktur (Quantitative
Easing, Leitzinssenkung, Devisenmarktinterventionen) weiter ausbauen würden.
Austrittsperspektive wenig attraktiv für Nordländer
Partnerschaft außerhalb
der EU nicht billiger
Dass die skandinavischen EU-Länder dem Beispiel Großbritanniens folgen, ist derzeit nicht zu
befürchten. In Diskussionen wird zwar als Argument für einen EU-Austritt neben der größeren
Unabhängigkeit auch die Einsparung von EU-Beiträgen angeführt. Das Beispiel Norwegens zeigt
jedoch, dass der Zugang zum EU-Binnenmarkt seinen Preis hat. Die Beiträge, die Norwegen 2015
pro Kopf der Bevölkerung in den EU-Haushalt zahlte, passen in das Gefüge der Zahlungen, die
von den nordeuropäischen Mitgliedsländern geleistet werden. Ersparnisse wären also auf diesem
Weg kaum zu erzielen.
EU-Haushalt: Beiträge auch von außerhalb
Beiträge zum EU-Haushalt 2014, Mrd. Euro bzw. Euro pro Kopf der Bevölkerung
2.500
250
Mio. Euro
linke Skala
2.000
pro Kopf
rechte Skala
200
1.500
150
1.000
100
500
50
0
0
DK
FI
SE
Quellen: EU-Kommission,, Helaba Volkswirtschaft/Research
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NO*
*2015 lt. Regierung Norwegens
3
LÄNDERF OKUS SKANDINAVIEN
Auch bei der vermeintlichen Unabhängigkeit ist genau hinzuschauen: Norwegen, das immer wieder als Modell für eine Eigenständigkeit außerhalb der EU genannt wird, ist in dieser Hinsicht weniger autonom als vielfach angenommen. Große Teile des EU-Rechts und der EU-Standards hat
Norwegen umgesetzt. Dies gilt auch für die Personenfreizügigkeit, die in Großbritannien vielen
unvorteilhaft erscheint und in der Brexit-Kampagne eine wichtige Rolle gespielt hat. Da gut 80 %
der norwegischen Exporte in die EU gehen wiegt der Zugang zum Binnenmarkt für Norwegen
offensichtlich schwerer als die Zugeständnisse, die das Land hier macht.
EU-Skepsis im Norden kaum gestiegen
Euro-Länder kritischer
In den regelmäßig von der EU durchgeführten Umfragen zeichnet sich ab, dass in Ländern, die
besonders stark in die EU integriert sind, die Skepsis gegenüber der Mitgliedschaft stärker zugenommen hat. So stimmten beim letzten Eurobarometer im Herbst letzten Jahres der Aussage
„(Unser Land) wäre besser für die Zukunft gerüstet, wenn es nicht Mitglied der EU wäre“ in der
Eurozone mit 31 % der Befragten 5 Prozentpunkte mehr zu als noch im Frühjahr. In Ländern, die
nicht der Eurozone angehören, blieb der Wert mit einer Zunahme von nur einem Prozentpunkt
nahezu unverändert, wenngleich er absolut höher liegt (38 %). Auch bei den nordeuropäischen
Ländern sind die Vorbehalte in Finnland, in der Region das einzige Land der Eurozone, stärker
gestiegen als in Schweden. Allerdings liegt die Ablehnungsquote ohnehin unterhalb des EUDurchschnitts und deutlich näher an den niedrigsten Werten, die in Estland und den Niederlanden
zu finden sind.
Eurobarometer: Bye-Bye EU?
„Wäre das eigene Land außerhalb der EU besser für die Zukunft gerüstet?“, Zust. 2015, %
40
40
35
35
Herbst
30
25
30
25
Frühjahr
20
20
15
15
10
10
5
5
0
0
DK
FI
SE
DE
EU
Quellen: EU-Kommission, Helaba Volkswirtschaft/Research
Brexit löst keinen
Exit-Sog aus
So dürfte ein Brexit in den nordeuropäischen EU-Ländern in nächster Zeit keine Nachahmer finden. Von den Regierungen kamen klare Statements pro EU-Mitgliedschaft. Für Finnland, das nicht
Teil der NATO ist, hat die EU-Mitgliedschaft eine zusätzliche politische Komponente. Auch Wahlkampfgetöse wird das Votum der Briten in den vier Ländern derzeit kaum auslösen, denn außer in
Norwegen (2017) stehen in nächster Zeit keine Parlamentswahlen an. Zwar konnten auch in den
Nordländern die Rechtspopulisten zuletzt bei Wahlen Rekordergebnisse feiern, jedoch zeigt das
Beispiel Finnlands, wo die mitregierenden „Finnen“ derzeit mit Umfragetiefs zu kämpfen haben,
dass Aussagen von der Oppositionsbank und Regierungsverantwortung ganz unterschiedliche
Dinge sind.
In den nordischen EU-Ländern wäre die Ansteckungsgefahr nach dem Brexit-Votum vermutlich
größer, wenn die „Out“-Wähler in Großbritannien glaubhafter in der Rolle strahlender Sieger auftreten könnten. Nun aber scheint sich Katzenjammer breitzumachen: Nicht wenige Briten kommen ins
Grübeln, im Parlament gibt es Vorschläge, das Votum nicht umzusetzen und die politischen
Frontmänner, die sich für den Austritt stark gemacht hatten, haben den Rückzug angetreten. Vor
diesem Hintergrund erscheint das Streben nach EU-Unabhängigkeit wesentlich weniger glorreich,
potenzielle Nachahmer dürften vorsichtiger werden. 
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