NGOs fordern Aufkündigung von Türkei-Abkommen

Donnerstag, 30. Juni 2016 • Nr. 151
Labour steht vor Zerreißprobe
Kurz und knapp
Wieder „Charlie“
GROSSBRITANNIEN Parteichef Corbyn wackelt, wehrt sich aber
FRANKREICH
Von unserem
Korrespondenten
Sascha Zastiral, London
Die vor anderthalb Jahren bei
einem islamistischen Anschlag attackierte französische Satirezeitung Charlie
Hebdo ist Ziel von Morddrohungen geworden. Die Pariser
Staatsanwaltschaft leitete deswegen erste Ermittlungen ein,
wie gestern Mittwoch aus Justizkreisen verlautete. Nach
Ermittlerangaben wurden im
Juni rund 20 bedrohliche Botschaften auf der FacebookSeite von Charlie Hebdo veröffentlicht.
Ein Großteil der
Labour-Abgeordneten im
britischen Unterhaus hat
Parteichef Corbyn das
Vertrauen entzogen. Er habe
zu wenig getan, um den
Brexit zu verhindern, meinen
seine Kritiker. Doch Corbyn
möchte im Amt bleiben. Er
glaubt einen Großteil der
Basis hinter sich.
56.000 für Nexit
NIEDERLANDE
Foto: AFP
Nach dem Brexit-Votum der Briten steht auch die oppositionelle
Labour-Partei kopf. Parteichef
Jeremy Corbyn geriet über das
Wochenende unter Druck, als
ein Großteil seines Schattenkabinetts zurücktrat und zahlreiche
führende Labour-Politiker seinen
Rücktritt forderten.
Nun hat ein großer Teil der Labour-Abgeordneten im Unterhaus dem 67-Jährigen das Vertrauen entzogen: 172 Abgeordnete stimmten am Dienstagnachmittag gegen den Labour-Chef,
nur 40 für ihn. Vier Stimmzettel
waren ungültig, 13 Abgeordnete
enthielten sich.
Gestern weiteten sich die Rücktrittsforderungen aus. Der ehemalige Labour-Chef Ed Miliband
erklärte, er habe seit dessen Wahl
zu Corbyn gestanden. Aber seine
Position sei nun „unhaltbar“:
„Die Frage für ihn ist, was jetzt
das Richtige ist für das Land, für
die Partei und für die Anliegen,
die ihm wichtig sind.“
Corbyn solle sein Amt niederlegen, auch wenn das „für ihn und
für viele seiner Anhänger
schmerzhaft“ werden würde. Pat
Glass, Schattenerziehungsministerin, erklärte, dass sie Corbyn
nicht weiter zur Verfügung stehen würde. Der Labour-Chef
hatte sie erst am Montag ernannt.
Seine parteiinternen Kritiker
werfen Corbyn vor, er habe im
Vorfeld des EU-Referendums zu
wenig unternommen, um ein
„Leave“-Votum zu verhindern.
Harte Zeiten für den Labour-Chef: Jeremy Corbyn gestern im Unterhaus
Er trage daher eine Mitschuld daran, dass so viele Labour-Anhänger für einen Brexit gestimmt hätten. In der Tat war es im Vorfeld
des Referendums kaum zu übersehen, wie wenig Corbyn die EU
am Herzen lag – steht sie doch für
so vieles, was einem Linken wie
ihm zuwider ist.
Corbyn lehnt Rücktritt ab
Rechtlich bindend ist das Ergebnis der Vertrauensabstimmung
nicht. Und so gab sich Corbyn
kämpferisch: Kurz nach Bekanntwerden des Abstimmungsergebnisses erklärte er, er denke
gar nicht daran, zurückzutreten.
60 Prozent der Parteimitglieder
und wahlberechtigten Unterstützer hätten ihn zum Vorsitzenden
gewählt, damit er „für eine neue
Politik“ eintrete, ließ er in einer
offenbar vorbereiteten Erklärung
wissen. „Und ich werde sie nicht
im Stich lassen, indem ich zu-
rücktrete.“ Nun droht eine
Kampfabstimmung.
Führende
Gewerkschaften stellten sich
nach dem Ausbruch des Führungsstreits hinter Corbyn.
Als die zerrüttete Partei nach
der überraschenden Niederlage
bei den Parlamentswahlen im
Mai des vergangenen Jahres nach
einem neuen Parteichef suchte,
reichte Corbyn seine Kandidatur
erst in letzter Minute ein. Selbst
einige seiner Gegner unterstützten damals Corbyns Kandidatur.
Sie rechneten offensichtlich damit, dass eine haushohe Niederlage des Außenseiters den linken
Flügel der Partei ein für alle Mal
ruhigstellen würde.
Doch dann gewann Corbyns
Kampagne rasant an Fahrt. Tausende Unterstützer strömten zu
Corbyns Auftritten und feierten
ihn frenetisch. Im Londoner
Hipsterviertel Camden kletterte
er auf einen Feuerwehrwagen,
um vor Hunderten von Anhängern zu sprechen.
Corbyn versprach nukleare Abrüstung, die Wiederverstaatlichung des Zugverkehrs, ein Gesundheitssystem, das frei von Privatisierungen bleiben sollte, und
ein Wiedererstarken des produzierenden Gewerbes, das er
durch staatliche Investitionen
ankurbeln wollte. Vor allem warb
er für ein Ende der Sparpolitik der
konservativen Regierung.
Seine Botschaft kam bei den
Labour-Anhängern an, und da
bei auffällig vielen Jungwählern.
Im September 2015 wurde Corbyn in einem Erdrutschsieg mit
fast 60 Prozent der abgegebenen
Stimmen in der ersten Runde ins
Amt des Parteichefs gewählt. Es
war das stärkste Mandat, das je
ein Labour-Chef bekommen hat.
Zugleich hatte Corbyn unter den
Labour-Abgeordneten im Parlament so wenig Unterstützung wie
kein Labour-Vorsitzender vor
ihm. Und genau diese Abgeordneten versuchen gerade, Corbyn
zu stürzen.
NGOs fordern Aufkündigung von Türkei-Abkommen
AI UND MSF Von Luxemburg mitgetragene EU-Flüchtlingspolitik angeprangert
Claude Clemens
„Médecins sans frontières“
(MSF) und Amnesty
International (AI) Luxemburg
versuchten gestern auf einer
gemeinsamen
Pressekonferenz, der
gesamten EU und der
Luxemburger Regierung im
Speziellen ins Gewissen zu
reden. Dies wegen der
EU-Flüchtlingspolitik, im
Kontext des laufenden
EU-Gipfels (siehe S. 6, 7).
Denn es gibt nicht nur den Brexit, die Flüchtlingskrise ist auch
noch immer nicht gelöst. Es war
seitens der zwei Organisationen
die Forderung an Luxemburgs
Regierung, das EU-Türkei-Abkommen aufzukündigen.
Dieses verlagere das Problem in
ein nicht sicheres Drittland; würde de facto eine EU-Grenzkontrolle einführen, die von der Türkei erledigt würde; würde via die
„Bezahlung“ von einer Milliarde
Dollar humanitäre Hilfe politisieren und damit zweckentfremden.
Letzteres ist für MSF eine „rote
Linie“, weswegen die Ärzte ohne
Grenzen Mitte Juni verkündeten,
keine EU-Gelder mehr anzuneh-
men. „Nicht das erste Mal“, so
MSF-Luxemburg-Direktor Paul
Delanois, „bei den USA und
Großbritannien war das auch
schon mal der Fall.“
Warnung vor
„Domino-Effekt“
Zusammenfassend sagen MSF
(humanitäre Hilfsorganisation)
und AI (Menschenrechtsorganisation), dass dieses Abkommen
das Asylrecht in seiner derzeitigen Form ganz außer Kraft setzen
könnte. Und dieses Asylrecht
gründet eigentlich auf fünf internationalen und rechtlich bindenden Texten – u.a. natürlich die
universelle Menschenrechtsdeklaration, die Genfer Konvention
von 1951 und die europäische
Menschenrechts-Konvention –
die nun ganz einfach außer Acht
gelassen würden. Denn die
Grundvoraussetzungen des Asylrechts wären in der Türkei nicht
garantiert. Dies würde man wissentlich außen vor lassen.
Die Organisationen warnen zudem vor einem „Domino-Effekt“:
Andere Länder könnten sich ein
Boot mit 800 Toten
Über ein Jahr nach dem
schlimmsten Schiffsunglück im
Mittelmeer seit dem Zweiten
Weltkrieg mit mutmaßlich
mehr als 800 Toten ist das seinerzeit vor Libyen gekenterte
Flüchtlingsboot unterwegs
nach Sizilien. Wie die italienische Marine mitteilte, gelang
es, das Boot aus 380 Metern
Tiefe an die Meeresoberfläche
zu holen und abzuschleppen.
Im sizilianischen Hafen von
Augusta soll es in ein gekühltes
Zelt gebracht werden. Forensikexperten sollen mit Unterstützung von Angehörigen versuchen, die Toten zu identifizieren, die dann beerdigt werden sollen.
(AFP)
Beispiel daran nehmen. Teilweise würde dies auch schon geschehen: Kenia wurde genannt, das
anscheinend in Dadaab das größte Flüchtlingscamp der Welt –
300.000 bis 500.000 Personen –
schließen und die Menschen zurück nach Somalia schicken wolle.
Die EU beabsichtige möglicherweise auch, ein ähnliches Abkommen wie mit der Türkei mit
16 anderen Staaten zu schließen.
Darunter Eritrea, Somalia, Sudan
und Afghanistan – vier Länder
aus den „Top zehn“ derer, die
weltweit am meisten Flüchtlinge
hervorbringen.
In den Krisengebieten könne
man derweil nicht mehr von
„camps d’accueil“ reden, sondern müsse viel mehr von „camps
de rétention“ oder sogar „camps
de détention“ reden. Auch die
sog. „Hotspots“ seien nichts anderes. Die Menschen würden unter unmöglichsten Bedingungen
eher festgehalten denn aufgenommen, so der Vorwurf.
David Pereira, Präsident von AI
Luxemburg, brachte es wohl treffend auf den Punkt: „Wie können
wir es als EU-Bürger überhaupt
so weit kommen lassen ... und
dann auch noch zuschauen.“
Befürworter eines EU-Austritts der Niederlande haben
mehr als 56.000 Unterschriften für eine entsprechende
Petition gesammelt. Trotz verschwindend geringer Erfolgsaussichten sagten die Organisatoren der Kampagne, Patrick Crijns und Peter van
Wijmeren, der Zeitung NRC
vom gestrigen Mittwoch, sie
hätten vor allem das „Interesse an einem Nexit“ aufzeigen
wollen. Ein Großteil der
56.710 Unterschriften war
nach dem erfolgreichen
Brexit-Referendum in Großbritannien eingegangen.
Defizitziel wackelt
FRANKREICH
Frankreich droht nach Einschätzung des französischen
Rechnungshofs sein Defizitziel im kommenden Jahr zu
verpassen. Wegen neu beschlossener Ausgaben gebe es
ein „hohes Risiko“, dass die
Neuverschuldung 2017 nicht
wie geplant auf 2,7 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts
gesenkt werden könne, erklärte der Rechnungshof gestern in Paris. Das im April
vorgelegte Stabilitätsprogramm enthalte zudem nicht
die notwendigen Reformen,
um dieses Ziel zu erreichen.
Toter Sänger
OSTUKRAINE
Ein ukrainischer Opernsänger, der den Großteil seines
Berufsleben in Frankreich
verbrachte, ist bei Kämpfen
gegen pro-russische Separatisten in der Ostukraine getötet worden. Ein Heckenschütze habe Wassyl Slipak am
Mittwochmorgen in der
selbsterklärten Volksrepublik
Donezk erschossen, sagte ein
Vertreter des ultranationalistischen Rechten Sektors der
Online-Informationsseite
hromadske.ua.
Schneckenschleim
DEUTSCHLAND
Auf dem Schleim von Nacktschnecken ist in Paderborn
ein Trabant ausgerutscht und
schwer verunglückt. Der Trabi erlitt Totalschaden, der
Fahrer blieb unverletzt. Die
Nacktschnecken waren demnach Teil einer Schneckenwanderung auf der Autobahn.
Persönlich erstellt für: asbl asti
EUROPA 13
Tageblatt