Neues Deutschland

Mörderisches Menetekel
Angekündigte Eskalation
Fiedelnde Dandys
Dallas: Attentäter tötet Polizisten,
Täter per Roboter getötet. Seiten 4 und 8
Solidemo für die »Rigaer 94« in Berlin
wird vorzeitig aufgelöst. Seite 11
Die »Dexys« sind zurück – mit
Soul und Rod Stewart. Seite 15
Foto: dpa/Maurizio Gambarini
Foto: Warner Music
Montag, 11. Juli 2016
71. Jahrgang/Nr. 160
STANDPUNKT
Aus! Aus! Aus!
Jirka Grahl zieht EM-Bilanz
... aber Fußball als Lebensart gibt es auch ohne Europameisterschaft
Berlin. Es braucht nicht viel, um eine
Minderheit wieder in den Schoß des
Bundesbürger-Kollektivs zurückzubringen: einen endgültigen Abpfiff.
Denn nicht jeder hat sich für die Fußball-Europameisterschaft
interessiert. Im Land der Umfragen können
wir das sogar ziemlich exakt sagen:
17 Prozent haben sich in den vergangenen vier Wochen nicht für den
Turnierzirkus begeistern können. Ob
sie mit dessen Ende wieder als »normal« angesehen werden, ist Ansichtssache. Man könnte ja ebenso gut
die 83 Prozent EM-Fernsehgucker für
ein wenig neben der Spur halten.
An einer Tatsache wird aber auch
der EM-Schlusspfiff vom Sonntagabend nichts ändern: So sehr der
Fußball als Unterabteilung der Kulturindustrie erscheint, so sehr man
sich über die korrupten Funktionäre
des Milliardengeschäfts aufregen
kann, so sehr die sportliche Konkurrenz auf dem Rasen in die Kultur einer Marktgesellschaft eingeschrieben ist, in der es immer Sieger und
Besiegte geben muss – so sehr ist und
bleibt Fußball für viele die schönste
Nebensache, ganz egal, ob überbezahlte Kicker und Fahnen schwenkende Fans gerade das Fernsehprogramm dominieren oder nicht.
Jirka Grahl und Jan Brock haben
einige von ihnen besucht: den Wirt
Frank Lapawa, die Frauen von Türkiyemspor, die BFC-Legende Frank
Terletzki und Schiedsrichter »Manne« Küssner von Concordia Wilhelmsruh. tos Seiten 2, 3, 15 und 20
Foto: fotolia/Steven P. Stueckler [M]
UNTEN LINKS
Fußball ist ein Männersport. Das
zeigt sich allein am Spucken, auf
das Frauen weitgehend verzichten. Im Männerfußball ist es nicht
wegzudenken – zur emotionalen
Verarbeitung des Erlebten und
Kampfansage an den Gegner. Gebietsmarkierung und Machtsignatur zeigen sich in individueller
Ausprägung. Vom wütenden Entkorken der Wut wegen SchiriFehlentscheidungen bis zum
kunstvollen Spiralauswurf. Das
Spucken dürfte immer auch Botschaft an die Gegenseite darstellen. »Dich fress’ ich heute roh zum
Frühstück!« Aus der Natur kennt
man die Verarbeitung der Nahrung außerhalb des eigenen Körpers, die extraintestinale Verdauung. Zum Beispiel einige Insekten
spucken Sekrete auf ihr Opfer und
verspeisen es vorverdaut. Das
Fußballspuckphänomen ist jedenfalls dringend weiterzubeobachten. Nach dem Ende der EM darf
sich der malträtierte Rasen in den
französischen Stadien nun aber
vorerst erholen. Man könnte ein
paar Kühe drübertreiben. Jetzt, da
er schon mal vorverdaut ist. uka
ISSN 0323-3375
Corbyn oder Eagle – Labour hat die Wahl
Britische Sozialdemokraten bestimmen Vorsitz neu / Regierung lehnt zweites Brexit-Referendum ab
Millionen Briten hofften auf ein
zweites Brexit-Referendum – und
auf ein anderes Ergebnis. Daraus wird nichts. Die Labour-Basis kann bald wieder abstimmen: über den Parteivorsitz.
Von Vincent Körner
Jeremy Corbyn wird nicht besonders überrascht gewesen sein über
diese Nachricht – enttäuscht über
seine Parteifreundin Angela Eagle, die ihm nun den Labour-Vorsitz streitig machen will, war der
67-Jährige aber dennoch. Seit dem
Brexit-Referendum steht der linke
Abgeordnete unter heftigem Beschuss aus den eigenen Reihen.
Ihm wurde vorgeworfen, nicht
ausreichend für den EU-Verbleib
Großbritanniens geworben zu haben, auch sei er nicht der geeignete Spitzenmann für die wohl
kommenden Neuwahlen.
Auf dem linken Flügel von Labour war hingegen von einer Volte die Rede, die auf den Kurs der
Partei abziele. Unter Corbyn, der
erst im September 2015 mit breiter Mehrheit von der Basis gewählt worden war, waren nicht
nur Abertausende Mitglieder gewonnen worden, es wurde auch
eine Kurskorrektur eingeleitet –
weg von dem Kurs der Tony-Blair-
Jahre. Doch Eagle wird selbst eher
zum linken Flügel der Partei gerechnet, sie hatte allerdings zum
Beispiel für den Irakkrieg gestimmt. Nach einem gescheiterten
Schlichtungsverfahren kündigte
die 55-jährige Ex-Gewerkschafterin an, am Montag offiziell ihre Bewerbung um den Parteivorsitz ein-
Der Chef der Gewerkschaft Unite warnte
vor einer »dauerhaften
Spaltung« von
Labour, sollte Corbyn
an einer Wiederkandidatur gehindert
werden.
zureichen. Der Labour-nahe »Daily Mirror« kommentierte die Ankündigung mit den Worten, Eagle
werde nun wohl als »Kandidatin
der Einheit« angesehen, »jemand,
der die Basis, die Abgeordneten
und die Führung der Labour-Partei nach der Krise einen kann«.
Das bleibt abzuwarten, zumal
bereits ein Streit darüber begonnen hat, ob Corbyn für eine Wiederkandidatur die Zustimmung der
Abgeordneten braucht. Heraus-
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NATO: Neuer
Doppelbeschluss
Was vom Turnier
übrig bleibt
Die große Fußballsause ist vorbei:
Nach gut vier Wochen sollte am
Sonntagabend in Paris das Endspiel der EURO 2016 ausgetragen
werden – ohne Beteiligung der
Weltmeistermannschaft. Keine
Gesänge aus der deutschen Kurve
(»Fan Club Nationalmannschaft
powered by Coca-Cola«) mehr,
wo so gerne »Sieg!« und »Scheiß
Italiener« skandiert oder der
Evergreen »Die Nummer eins der
Welt sind wir!« angestimmt wird.
Auch in der Heimat der DFB-Elf
war viel weniger »entspannter
Partypatriotismus« zu beobachten
als bei den großen Turnieren
2006, 2008, 2010, 2012 und
2014. Die Inbrunst der rechten
Fahnenschwenker von Pegida
und Co. haben so manchem anno
2016 das schwarz-rot-güldene
Jubeln vergällt.
Was aber wird vom EM-Turnier
bleiben? Für Gastgeber Frankreich
war es neben der Finalteilnahme
die frohe Botschaft, dass der Terror bis Sonntag außen vor geblieben ist. Island, Wales und Ungarn
brachten wunderbare Märchen
von dem Turnier nach Hause. Und
den Deutschen bescherte diese
aufgeblähte Europameisterschaft
mit 24 Teams dank des schwachen sportlichen Niveaus der
meisten Spiele und des DFBScheiterns ein kleines Stück Normalität zurück: Fanmeilen waren
weniger besucht als zuvor, an Autos und Fenstern ist abgeflaggt.
Selbst wenn mittlerweile sogar die
NATO-Staatenlenker ihre Treffen
in Fußballstadien abhalten: Die
Überhöhung der Unterhaltungsindustrie Fußball könnte in Zukunft deutlich kritischer hinterfragt werden.
Bundesausgabe 1,70 €
forderer des Vorsitzenden benötigen über 50 Stimmen der Parlamentarier, es ist nicht ausgemacht, dass Corbyn diese Anzahl
erreicht. Bei einer Misstrauensabstimmung nach dem Referendum
votierten nur 40 Labour-Abgeordnete für ihn – aber 172 gegen ihn.
Corbyn erklärte, ein Vorsitzender könne auch so antreten – und
er hat dabei die Unterstützung
starker Gewerkschaften. Der Vorsitzende der größten britischen
Gewerkschaft Unite, Len McCluskey, warnte bereits, es werde zu
einer »dauerhaften Spaltung« von
Labour führen, wenn Corbyn daran gehindert werden sollte, wieder anzutreten. Wie ernst die Lage eingeschätzt wird, vermag die
Ankündigung des walisischen Abgeordnete Owen Smith illustrieren, der sich »so schnell wie möglich« mit Corbyn treffen will, um
alle Mittel zur »Rettung der Partei« auszuloten.
Corbyn selbst, der stets auf die
große, fast zwei Drittel umfassende Unterstützung der Basis bei seiner Wahl vor zehn Monaten verwies, reagierte auf Eagles bereits
vor einigen Tagen erwartete Kandidatur-Ankündigung
übrigens
gelassen: »Echter Druck ist, wenn
man nicht genug Geld hat, um seine Kinder zu ernähren, wenn man
kein Dach über dem Kopf hat«,
sagte er bei einem Gewerkschaftsfest. Sollte sich Eagle
durchsetzen, wäre sie die erste bekennende Homosexuelle an der
Spitze einer großen britischen
Partei. Auch die Mitglieder der
Konservativen können bald ihren
neuen Chef wählen – es wird in jedem Fall eine Frau. Innenministerin Theresa May und EnergieStaatssekretärin Andrea Leadsom
gehen ins Rennen um die Nachfolge von David Cameron.
Dessen Regierung hat unterdessen eine neuerliche Abstimmung über den EU-Verbleib Großbritanniens kategorisch ausgeschlossen. Die über vier Millionen
Unterzeichner einer entsprechenden Petition erhielten am Wochenende die Absage per E-Mail.
Auch wenn die Echtheit eines kleinen Teils der Unterschriften unter
der Petition angezweifelt wurde,
ist der Wunsch nach einem neuen
Brexit-Referendum groß – in der
Hoffnung vieler, es werde anders
ausgehen. Eine Mehrheit für eine
Wiederholung gibt es aber laut einer aktuellen Umfrage nicht. Laut
Zahlen für den »Independent«
sprechen sich derzeit 40 Prozent
der Briten für eine neue Volksabstimmung aus, 44 Prozent sind dagegen. mit Agenturen
Drohgebärde und Dialogangebot als
Gipfelsignale Richtung Russland
Warschau. Die NATO-Staaten haben bei ihrem Gipfel in Warschau den osteuropäischen
Russland-Gegnern den Rücken gestärkt, zugleich aber ihre Dialogbereitschaft gegenüber Moskau bekräftigt. »Die gemeinsame
Botschaft ist, dass unsere Beziehung auf Verteidigung und Dialog beruht«, sagte Generalsekretär Jens Stoltenberg in der polnischen Hauptstadt. Russland kritisierte, die
NATO konzentriere sich auf eine »nicht existierende« Bedrohung aus dem Osten.
Der Pakt beschloss die Stationierung von
vier Bataillonen in den baltischen Staaten
Estland, Lettland, Litauen sowie in Polen. Die
Gipfelteilnehmer bekräftigten nach einem
Treffen mit dem ukrainischen Präsidenten
Petro Poroschenko zudem, dass die NATO die
»illegale und unrechtmäßige Annexion der
Krim« nicht anerkenne, sie warfen Moskau
»anhaltende Destabilisierung der Ost-Ukraine« vor. Aber die NATO stelle »keine Bedrohung für irgendein Land dar«, heißt es in der
»Warschauer Erklärung zur transatlantischen Sicherheit«. AFP/nd
Seiten 4 und 7
Südsudan: Kämpfe
zum Jubiläum
Seit fünf Jahren unabhängig – und
noch immer kein Frieden im Land
Juba. Rund um den 5. Jahrestag der Unabhängigkeit ist der »schlafende Bürgerkrieg«
in Südsudan wieder offen ausgebrochen.
Zwischen Freitag und Sonntag kamen nach
Regierungsangaben in der Hauptstadt Juba
an die 270 Menschen ums Leben. Das Regierungsviertel war heftig umkämpft. Am
Sonntag konzentrierten sich die Gefechte vor
allem auf den Süden der Stadt, wo der ehemalige Rebellenführer Riek Machar seine Residenz hat. Die für Samstag geplanten Feiern
zum Jahrestag des jüngsten Staates der Erde
waren abgesagt worden.
Ein Sprecher Machars sprach von einem
Angriff der Truppen des Präsidenten Salva
Kiir. Seine Leute hätten das Viertel unter
Kontrolle und drei Panzer Kiirs erbeutet. Auch
am Flughafen Jubas gebe es heftige Kämpfe.
Die US-Botschaft sprach von Gefechten »in
ganz Juba«. Nach Angaben des Büros des
Staatspräsidenten waren unter den Toten 60
Soldaten Kiirs und 210 Kämpfer Machars.
Krankenhäuser meldeten aber auch den Tod
vieler Zivilisten. dpa/nd
Seite 8
SPD: Geißler rät zu
Kurs nach Kompass
Schielen nach Stimmungen – ein
»Übel unserer Demokratie«
Berlin. Das politische Ausrichten nach demoskopischen Stimmungswerten hält Heiner
Geißler für »ein großes Übel unserer Demokratie«. Er habe als Bundesminister der Regierung von Helmut Kohl und als CDU-Generalsekretär »niemals die Politik, von der ich
überzeugt war, geändert, weil die Umfragewerte sanken. Das wäre ja lächerlich«, sagte
der Politiker im nd-Interview. Die SPD sei ein
Beispiel dafür, »was passiert, wenn man sich
fast ausschließlich von Stimmungen leiten
lässt«. Als Bundeskanzler habe Gerhard
Schröder mit der Agenda 2010 die Seele der
eigenen Partei verraten. Er habe in einem
»Husarenritt kurzfristig den damals vorherrschenden wirtschaftswissenschaftlichen und
neoliberalen Forderungen entsprochen, mit
sechs Millionen Minijobs, Zeitarbeit und befristeten Arbeitsverträgen«. Damit habe
Schröder das Grundvertrauen der SPD-Wähler zerstört, so Geißler. »Die SPD ist längst
keine Volkspartei mehr.« Sie solle ihre guten
Ergebnisse in der aktuellen Regierungsarbeit
besser herausstellen. nd
Seite 5