„Der Markt kann kein Vertrauen herstellen“

Interview ǀ „Der Markt kann kein Vertrauen herstellen“ — der Freitag
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„Der Markt kann kein Vertrauen
herstellen“
Interview Der Soziologe Colin Crouch fordert in der VWDebatte härtere Regeln für die Marktwirtschaft – um sie
vor sich selbst zu beschützen
Das VW-Hauptwerk in Wolfsburg
Foto: Carsten Koall/AFP/Getty Images
der Freitag: Herr Crouch, beim VW-Skandal haben wir es mit
einer der größten Betrugsaffären der vergangenen Jahre zu
tun. Was erzählt diese über den Zustand des Kapitalismus?
Colin Crouch: Der VW-Skandal ist kein Einzelfall. Er steht im
Zusammenhang mit vielen anderen Skandalen, insbesondere im
Finanzsektor. Denken Sie an den Libor- und den Euribor-Skandal.
All diese Skandale haben weltbekannte und renommierte Firmen
zu verantworten. Dazu ist es gekommen, weil das Streben nach
Profit der absolut dominierende Aspekt unternehmerischen
Handelns geworden ist. Dafür nehmen Konzerne auch hohe
Risiken in Kauf – etwa den Verlust ihrer Reputation.
Dass man dieses Risiko einging – hat das auch damit zu tun,
dass man sich bei VW durch die Nähe zur Politik zu sicher
fühlte? Dem Land Niedersachsen gehören ja 20 Prozent der VWStammaktien.
Ich glaube nicht, dass die Eigentumsstruktur viel damit zu tun
hat. Das erste Problem ist, dass die Verantwortlichen nicht auf
Ehrlichkeit um ihrer selbst willen setzen. Wenn sie ehrlich sind,
dann nur aus taktischen Gründen. Das zweite Problem: Sie
profitieren davon, dass es ein sehr geringes Risiko gibt, entdeckt
zu werden. Drittens gehen sie davon aus, dass es nicht so
schlimm wäre, wenn sie auffliegen. Denn die Profite, die sie bis
dahin gemacht haben, sind höher als die Strafe, mit der sie
rechnen müssen. So war es zumindest bei den Banken. Die
meisten Banken waren ja betroffen. Wenn alle mitmachen, muss
niemand ernsthafte Konsequenzen fürchten. Alle haben gleich
viel an Reputation verloren. Wenn Volkswagen bei den AbgasManipulationen nun der einzige Hersteller bleibt, dann könnte
der Konzern in große Probleme geraten. In der Finanzkrise hat
man viele Banken aber als systemrelevant eingestuft. Sie waren
zu wichtig, als dass man sie hätte pleitegehen lassen. Ich kann
mir vorstellen, dass Volkswagen ebenfalls too big to fail sein wird.
Colin Crouch, geboren 1944, ist ein britischer Politologe und Soziologe. 2004
wurde er mit dem Buch Postdemokratie bekannt. Gerade ist von ihm Die
bezifferte Welt (Suhrkamp) erschienen
Foto: Niccolò Caranti
Als Reaktion wurde damals gefordert, dass Banken kleiner
werden müssen. Wäre das auch jetzt eine Forderung, die für
Industrieunternehmen gelten könnte?
In vielen Sektoren gibt es diese Tendenz zu hoher
Kapitalkonzentration: Banken-Branche, IT-Branche,
Automobilindustrie, Pharma-Industrie und in Teilen der
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Lebensmittelbranche. Der heutige Kapitalismus wird beherrscht
von wenigen Unternehmen, die in bestimmten Sektoren sehr
dominant sind. Der Markt garantiert da keine Ausgeglichenheit.
In ihrem 2004 erschienenen Buch „Postdemokratie“ haben sie
das Paradox des deregulierten Liberalismus beschrieben:
Dieser führt eben nicht, wie seine Verfechter stets behaupten,
zu freien Märkten, sondern zu Oligopolen.
Je globaler die Volkswirtschaft, desto stärker die
Kapitalkonzentration – zumindest in bestimmten Bereichen.
Deshalb steuern wir nicht auf eine freie Marktwirtschaft zu,
sondern auf eine zunehmend oligopole Marktwirtschaft.
Der Sozialwissenschaftler David Harvey geht sogar noch
weiter. Er sagt: „Kapitalisten wollen keinen Wettbewerb, sie
wollen Monopole.“ Müsste die Linke also paradoxerweise den
Kapitalismus vor den Kapitalisten beschützen?
Ja, aber das ist ja schon seit langem so. Der Markt kann sich ja
nicht selbst regulieren. Es braucht staatliche Interventionen. In
den USA gab es gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Anti-TrustBewegung. Auch der deutsche Ordoliberalismus zielte in die
gleiche Richtung. Er sagte: Wir brauchen Regeln, um die
Marktwirtschaft vor sich selbst zu beschützen.
Einige Theoretiker, etwa Slavoj Žižek oder Axel Honneth,
würden da womöglich widersprechen. Zumindest versuchen
sie in ihren aktuellen Büchern die Idee des Sozialismus zu
reaktivieren. Was halten Sie davon?
Wenn wir unter Sozialismus die Verstaatlichung der Industrie
verstehen, dann ist die Antwort darauf komplex. Es gibt Bereiche,
wo es nicht möglich ist, marktwirtschaftlichen Wettbewerb zu
stimulieren: Schienennetz, Wasserversorgung oder Bildung. Hier
kommt entweder kein Wettbewerb zustande – oder er fällt zu
Lasten der Verbraucher aus. Es gibt aber andere Branchen, in
denen es nicht sinnvoll wäre, eine ganze Industrie zu
verstaatlichen. Das Problem am Sozialismus ist, dass in den
Händen des Staates eine zu große Macht liegt. Das wird schnell
zur Gefahr. Ich bevorzuge daher einen sozialdemokratischen
Staat. Darin gibt es wenige verstaatlichte Branchen. Ansonsten
beschränkt sich der Staat darauf, einen regulierten Wettbewerb
zu ermöglichen.
Wir beobachten in Teilen Europas eine Renaissance von „Old
Labour“, der klassischen Sozialdemokratie. Allen voran in
Großbritannien, wo Jeremy Corbyn zum Chef der Labour Party
gewählt wurde. Was halten Sie davon?
Corbyn versucht, den traditionellen Sozialismus im Kontext des
globalisierten Kapitalismus neu zu definieren. Es ist noch nicht
klar, was daraus wird. Aber momentan sieht es wie eine kreative
Neuausrichtung der Sozialdemokratie aus. Corbyn und Alexis
Tsipras sind nicht einfach Nostalgiker, sie suchen vielmehr neue
politische Handlungsoptionen. Aus dieser Konfrontation des
traditionellen Sozialismus mit der Wirklichkeit könnte eine
interessante neue Politik entstehen.
Das Spezielle am VW-Skandal besteht darin, dass der Konzern
eigentlich eine Ikone der guten alten sozialen Marktwirtschaft,
des Rheinischen Kapitalismus ist. Er ist zum Teil in
Staatsbesitz, er hat einen starken Betriebsrat. Im Grunde ist er
das Gegenteil des „Phantom-Unternehmens“, wie Sie es in
Ihrem Buch „Postdemokratie“ beschrieben haben.
Ich denke nicht, dass es etwas Besonderes ist, dass VW als
Konzern mit großer Tradition jetzt in diese Krise gerät. Der VWKonzern von heute knüpft eher an den zeitgenössischen
angloamerikanischen Kapitalismus an als an den klassischen
Rheinischen Kapitalismus. Und überschätzen wir nicht die
Tradition des Rheinischen Kapitalismus. Er ist schon ein sehr
altes Modell. Er war zwar besser als die Phase zuvor, in der es gar
keine Arbeiterrechte gab, viel mehr aber auch nicht. Mittlerweile
nähern wir uns wieder diesem Kapitalismus an, in dem Arbeiter
gar keine Rechte haben.
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Eine zentrale Voraussetzung der Marktwirtschaft besteht in der
Verfügbarkeit transparenter Informationen und dem
Vertrauen der Kunden in Unternehmen und Behörden. Nach
der Finanzkrise ist dieses Vertrauen in die Banken erheblich
erodiert. Und das Gleiche beobachten wir nun im Fall der
klassischen Industrie.
Ich denke, wir brauchen mehr Regulierung, deutlich mehr. Sie
könnte das verloren gegangene Vertrauen ersetzen. Der Markt
kann allein kein Vertrauen herstellen. Er kann es nur zerstören.
Sie haben diagnostiziert, dass die Demokratie eigentlich zu
langsam für den globalen Kapitalismus ist. Wo liegen also
Handlungsmöglichkeiten, um Vertrauen wiederherzustellen?
Der Staat hat ein großes Interesse daran, Vertrauen
wiederherzustellen, sobald allen klar geworden ist, wie teuer
dieser Vertrauensverlust ist. Vertrauen kann an einem Tag
zerstört werden, es kann jedoch nur in einem sehr langsamen
Prozess wieder aufgebaut werden. Dem Staat geht es dabei nicht
so sehr um Vertrauen selbst, sondern um ein Vertrauen zweiter
Stufe. Er will, dass Unternehmen einen guten Ruf dafür haben,
dass man ihnen vertrauen kann.
In Frankreich ist es Konsens zwischen allen größeren Parteien,
dass man eine aktive Industriepolitik betreibt. Es gibt viele
Industrieunternehmen, die eng mit dem Staat verbunden sind.
Man nennt das „patriotisme économique“. Kann das auch ein
Modell sein, um bestimmte Auswüchse der globalen Ökonomie
zu bekämpfen?
Ich denke nicht, dass dieser ökonomische Patriotismus hilft, die
Probleme zu lösen, die wir gerade diskutieren. In diesem Modell
ist es wahrscheinlicher, dass der Staat Unternehmen deckt oder
sie auf unlautere Weise unterstützt. Nach den neueren Regeln
zum globalen Wettbewerb ist es Staaten unmöglich geworden,
das zu tun, was sie früher getan haben. Sie suchen daher nach
neuen Möglichkeiten, mit denen sie ihre heimische Industrie
unterstützen können. Das sind oft sinnvolle Maßnahmen.
Ökonomischer Patriotismus kann ja auch darin bestehen, dass
man sicherstellt, ein gutes Ausbildungssystem zu haben. Es ist
dieser Tage oft die Rede davon, dass der Nationalstaat seine
Souveränität wiedergewinnen muss. In einer globalen Ökonomie
kann es jedoch keine nationalstaatliche Souveränität mehr
geben. Das ging lediglich im 19. Jahrhundert, und das war nicht
die bestmögliche aller Welten.
Unsere einzige Option ist es also, Wege transnationaler
Kooperation zu finden?
Die Globalisierung zu stoppen und zum Protektionismus
zurückzukehren, ist jedenfalls keine gute Option. Das letzte Mal,
dass das in großem Maße versucht wurde, war in den 1930ern.
Zweifellos keine schöne Zeit. Und die Globalisierung hat uns ja
auch viele Vorteile gebracht. Wenn wir sie einfrieren wollten,
würden wir China, Indien und die anderen Schwellenländer dazu
verurteilen, ewig in Armut leben zu müssen. Nach dem Motto:
Ihr müsst Bauern bleiben und wir sind reich.
Das Gespräch führte Nils Markwardt
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