taz.die tageszeitung

Nach dem Brexit: „Eine EU zum Anfassen“
Ist Europa noch zu retten? Gesine Schwan fordert Mut und hat Ideen ▶ Seite 2, 3
AUSGABE BERLIN | NR. 11055 | 26. WOCHE | 38. JAHRGANG
DIENSTAG, 28. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE
H EUTE I N DER TAZ
€ 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND
Scheiße
ABSCHIED Götz George ist tot. Es bleiben: seine
Schimanski-Jacke, seine Kraftausdrücke zur
besten Sendezeit und viele Gründe zur
Melancholie ▶ Nachruf SEITE 11, 20
PROZESS Vergewal-
tigung oder falsche
Anschuldigung? Model
Gina-Lisa Lohfink vor
Gericht ▶ SEITE 5
Ein Mann, ein Wort
Er brauchte nur ein Wort, um sein ganzes Wesen hineinzupacken: seinen Ärger über die Welt und die Frauen und
das Elend; die Fassungslosigkeit darüber, wie viele Idioten auf dieser
Erde wandeln; seinen Lottersex aus
Knautschjacke und knackenger Jeans,
die immer ein bisschen zu hoch saß.
„Scheiße“ – dieses Wort benutzte Götz
George als Horst Schimanski so ausdauernd, dass Duisburger Spießer öffentlich Stimmung gegen ihn machten. Es gab im deutschen Film kaum
eine aufregendere Stimme als die
Georges, rau und zärtlich und ein bisschen verwaschen, und am schönsten
war sie, wenn sie aus dem Pott die Weltbühne machte, die er verdient hat. Mit
einem einzigen Wort. JOHANNA ROTH
PATT Podemos ent-
täuscht: Auch nach der
Wahl in Spanien noch
keine neue Regierung
in Sicht ▶ SEITE 4, 10
EM TAZ Endlich wird
gezaubert und
gedribbelt
▶ SEITE 15–18
Fotos oben: reuters
Unser Bruce Willis
VERBOTEN
Guten Tag,
meine Damen und Herren!
Auch verboten trauert natürlich. Heute gleich doppelt.
Denn fast zeitgleich mit der
Eilmeldung vom Tod von Götz
George kam das Ausscheiden
Ungarns bei der EM. Und damit verabschiedet sich von der
großen Weltbühne neben der
berühmtesten Schlabberjacke
auch die schönste und wahrscheinlich letzte
Schlabberhose.
TAZ MUSS SEI N
Die tageszeitung wird ermöglicht
durch 16.020 GenossInnen, die
in die Pressevielfalt investieren.
Infos unter [email protected]
oder 030 | 25 90 22 13
Aboservice: 030 | 25 90 25 90
fax 030 | 25 90 26 80
[email protected]
Anzeigen: 030 | 25 90 22 38 | 90
fax 030 | 251 06 94
[email protected]
Kleinanzeigen: 030 | 25 90 22 22
tazShop: 030 | 25 90 21 38
Redaktion: 030 | 259 02-0
fax 030 | 251 51 30, [email protected]
taz.die tageszeitung
Postfach 610229, 10923 Berlin
taz im Internet: www.taz.de
twitter.com/tazgezwitscher
facebook.com/taz.kommune
20626
4 190254 801600
West in peace: Die von Götz George
getragene Jacke des „Tatort“-Kommissars
Horst Schimanski im Filmmuseum
Düsseldorf Foto: Peter Bischoff/Getty Images
Bis ins Extrem
Das Geräusch schreibt sich in etwa so:
„Mpch“. Ein Detail bloß, doch gehört
es untrennbar zu Götz Georges Rolle
als Skandalreporter Hermann Willié in
Helmut Dietls Satire „Schtonk!“ (1992).
Dieser Willié, von den Kollegen liebevoll als „schmierig“ bezeichnet, wurde
in Georges Verkörperung zu einem Besessenen, aus dem nicht nur die Begeisterung über den vermeintlichen Fund
der Hitler-Tagebücher hervorbricht.
Dieser Mann ist so getrieben, dass er
sich nur mühsam im Griff hat. George
markiert das mit einem Laut, der komisch wirkt, weil er irritiert.
Getriebene Figuren lagen diesem
Mann, dessen Augen von euphorischblitzend bis ausdruckslos-starr blicken
konnten. Letztere Qualität setzte er
für seinen Part als Serienmörder Fritz
Haarmann in Romuald Kamarkars
„Der Totmacher“ (1995) ein. Der auf
engstem Raum gedrehte Film, für den
George die Vernehmungsprotokolle
Haarmanns als Text sprach, lebt von
der gebündelten Energie dieses Körperschauspielers. „Ich bewege mich innerlich“, so George über seinen Einsatz.
Der größte Spaß und der größte
Schrecken – dass er solche Extreme
für seine überzeugendsten Auftritte zu
meistern wusste, zeichnet Götz George
als einen der größten Schauspieler der
Nachkriegszeit aus.TIM CASPAR BOEHME
Volle Kanne Marx
Also echt
Für Schimmi habe ich mein Studium
geschwänzt. Im Studentenwohnheim
in Leipzig gab’s kein Westfernsehen,
also guckte ich zu Hause in Berlin.
Wenn der „Tatort“ vorbei war, fuhr
kein Zug mehr. Erst wieder am Montagmorgen, leider zu spät für die Marxismus-Leninismus-Vorlesung. Das
Studium im Osten war total verschult
und ich sollte jedes Mal erklären, warum ich nicht da war. Kein Problem:
Meine Schwester hat ein Kind gekriegt.
Oma musste ins Krankenhaus. Rohrbruch, weil jemand ein Schnitzel ins
Klo gestopft hatte.
Ich hätte ja schlecht sagen können:
Hey, Schimanski in Duisburg, das ist
doch wie Oberstleutnant Fuchs in KarlMarx-Stadt. Das ist volle Kanne Kapitalismuskritik: morbider Charme einer
Proletarierstadt, Arbeiterklasse, ganzer Einsatz für die Rechtlosen. Und wie
hätte ich Schimmis Prügeleien, Sauftouren und all die Bordelle erklären
SIMONE SCHMOLLACK
sollen? Mitte der Neunziger bin ich Götz
George oft im Hausflur begegnet. Seine
Freundin wohnte gegenüber, und es
war ein enges Treppenhaus. Wenn er
heraufstürmte, kam ich, wenn ich herunterging, schwer an ihm vorbei. Zwei
Dinge fielen mir auf. Erstens: seine Lederjacke. Sie war knallgelb damals, mit
einem chinesischen Drachen auf den
Rücken gestickt. Das war sehr prollig und sehr extravagant – wie später
manche seiner Brillen. Zweitens: seine
physische Präsenz. Er war ein großes
Schnauben (das ich aus seinen Fernsehrollen kannte, auch als Schimanski
schnaubte er immer so durch die Nase)
und ein vor selbstverständlichem Dasein schier berstender Männerkörper.
Viele Schauspieler sind, wenn man
ihnen in der Realität begegnet, überraschend klein, sie verschwinden im
Alltag fast, vor der Kamera oder auf
der Bühne können sie ihre Präsenz
aber anschalten. Götz Georges Präsenz
war anders, glaube ich. Sie war da, sie
sprühte – und er musste sie vor der Kamera loslassen und kontrollieren zugleich, kanalisieren. Und ich glaube
von den Treppenhausbegegnungen
her nicht, dass er sie überhaupt abschalten konnte. DIRK KNIPPHALS
Schimanski war Körper. Massig. Bullig. Es gab keinen Schimanski-Film, in
dem er nicht erst mal die Tür eintrat.
Diese Physis existierte im deutschen
Fernsehen sonst nicht. Seine Jacke war
absurd eng. Nur gemacht, um die Muskelpakete sichtbar zu machen.
Schimanski war unser Bruce Willis,
der sich in einen Autorenfilm verlaufen hatte, in dem sich alles nur um ihn
drehte. Er war der proletarische Körperheld im Moment seines Verschwindens. Und immer unsympathisch genug, um nicht im Rau-aber-herzlichKlischee unterzugehen. Natürlich war
er wie alle vitalen Männer ein Kind, das
immer ein neues Spielzeug brauchte,
um es kaputt zu machen.
Als Schimanski in den 80er Jahren
das Ruhrgebiet durchstreifte, war der
Aufschwung im Pott lange vorbei, und
die Brachen waren noch nicht zu Industriedenkmälern geworden. Es gab Fußgängerzonen und Pommesbuden, Autobahnen und Neubauten, die aussahen, als hätten sie ihre Zukunft schon
hinter sich. Bei Schimanski schien die
graue Gesichtslosigkeit der Städte unserer Kindheit zu verfliegen. Er verzauberte die Halden, die Bushaltestellen
und trostlosen Rauputzfassaden mit
Bedeutung. Dafür haben wir ihn geliebt.
STEFAN REINECKE
Die Jacke
Ich war auch Schimanski. Jahrelang.
Zunächst, ohne es selbst zu wissen.
Bis irgendwann Freunde riefen: „Da
kommt ja der Schimanski.“ Denn ich
trug die gleiche Jacke. Nur in kleiner.
Mit 15, ohne einen einzigen „Tatort“ gesehen zu haben, da wir gar kein Fernsehen hatten. Ich fand die Jacke einfach cool. So cool, dass ich sie sogar in
Ägypten in der Wüste anließ. Die dabei
waren, nennen mich heute noch Schimanski. Habe die Ehre! LUKAS WALLRAFF
02
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
PORTRAIT
NACH RICHTEN
VEREI NTE NATION EN
NACH BREXIT
Bundesregierung will in den Sicherheitsrat
Schulden lohnen sich
für Deutschland
BERLIN | Frank-Walter Stein-
Nur nicht Boris Johnson:
Kandidatin Theresa May Foto: dpa
Tory-Politikerin
soll schlichten
D
ie britische Innenministerin Theresa May soll die
nach dem Brexit-Forum
gespaltene Konservative Partei
wieder vereinen. Das zumindest erhofft sich die Kampagne
„Stop Boris“. Ihre Mitglieder wollen verhindern, dass der Londoner Exbürgermeister Boris Johnson, das Aushängeschild der EUGegner, Premierminister wird
und die Partei vor eine Zerreißprobe stellt. Johnson gilt jedoch
nach wie vor als Favorit.
May wird am 1. Oktober 60
Jahre alt. Sie stammt aus Eastbourne in Sussex. Nach ihrem
Schulabschluss studierte sie in
Oxford Geografie und arbeitete
ab 1977 bei der Bank of England.
1985 wechselte sie als Beraterin
zu einem privaten Finanzunternehmen. Diesen Job gab sie 1997
auf, als sie im dritten Anlauf im
Wahlkreis Maidenhead ins Unterhaus gewählt wurde.
Der damalige Tory-Chef William Hague nahm sie sofort
in sein Schattenkabinett auf
und übertrug ihr die Bereiche
Bildung und Frauen. Hagues
Nachfolger Iain Duncan Smith
machte sie zur Sprecherin für
Transport. 2002 wurde sie als
erste Frau zur Vorsitzenden der
Konservativen Partei ernannt.
Nach dem Wahlsieg der Tories
2010 machte Premierminister
David Cameron sie zur Innenministerin, und das ist sie bis
heute. Seit mehr als hundert Jahren hat niemand diesen Posten
länger bekleidet als May.
Bei der Referendumskampagne sprach sich May zwar
für den Verbleib in der EU aus,
aber sie machte bei den BrexitBefürwortern Boden gut, als sie
sich für Großbritanniens Rückzug aus der Europäischen Menschenrechtskonvention
aussprach und die Teilnahme an
der EU-Quotenregelung für
Flüchtlinge ablehnte. Viele Abgeordnete glauben deshalb, dass
ihr ein Brückenschlag zwischen
den zerstrittenen Parteiflügeln
gelingen könnte.
Die Kandidaten für die Cameron-Nachfolge sollen sich bereits in dieser Woche bewerben.
Die Tory-Abgeordneten wählen
dann bis Ende Juli zwei von ihnen aus. Die haben den Sommer
über Zeit, Werbung für sich zu
machen. Im September wählen
die 150.000 Parteimitglieder
die neue Parteiführung, die auf
dem Parteitag im Oktober präsentiert wird und danach mit
den Verhandlungen über den
EU-Austritt beginnen muss.
RALF SOTSCHECK
Der Tag
DI ENSTAG, 28. JU N I 2016
meier (SPD) möchte in den UNSicherheitsrat. Der Außenminister gab gestern in Hamburg bekannt, „dass sich Deutschland
erneut für einen Sitz in diesem Gremium bewirbt – genau
gesagt als nichtständiges Mitglied für die Jahre 2019/20“. Die
Bundesrepublik müsse sich dafür in zwei Jahren vor der UNVollversammlung zur Wahl
stellen. „Unsere Kampagne beginnt heute und wird in diesem Herbst zu Hochtouren anlaufen“, sagte Steinmeier.
Der Sicherheitsrat besteht neben den fünf ständigen Mitglie-
dern aus zehn weiteren Mitgliedern ohne Vetorecht. Zwei davon
müssen aus Westeuropa stammen, sie werden für jeweils zwei
Jahre in das Gremium gewählt.
Deutschland saß zuletzt in den
Jahren 2011 und 2012 im Sicherheitsrat. Als Begründung für
die erneute Kandidatur nannte
Steinmeier gestern das diplomatische Engagement der Bundesregierung. „Deutschland gilt in
der Außenpolitik als ‚ehrlicher
Makler‘, und deshalb sind wir
ein gesuchter Partner, auch bei
der Gestaltung von neuen Elementen der globalen Ordnung“,
sagte Steinmeier. (taz)
BERLIN | Der deutsche Staat ver-
dient nach dem Brexit-Entscheid so viel Geld beim Schuldenmachen wie noch nie. Die
Versteigerung neuer Schatzanweisungen mit zwölfmonatiger Laufzeit spülte gestern 1,125
Milliarden Euro in die Kasse. Die
Investoren begnügten sich mit
einer rekordniedrigen Rendite
von minus 0,6107 Prozent, teilte
die zuständige Finanzagentur
des Bundes mit. Statt Geld für
ihre Leihgabe zu bekommen,
zahlen sie also noch eine Art Gebühr an den Staat, um an die Papiere zu gelangen. (rtr)
TH E­M EN-SCHWER­P U N K­T E
TEXAS
US-Gericht kassiert
Abtreibungsrecht
Nach­rich­ten än­dern sich jeden
Tag, ei­ni­ge The­men blei­ben. Die
taz bleibt dran, und auf taz.de
fin­den Sie in un­se­ren dos­sier­ar­ti­
gen Schwer­punk­ten alle Texte zu
einem Thema ge­sam­melt, über­
sicht­lich und aus­führ­lich. www.
WASHINGTON | Das oberste US-
Gericht, der Supreme Court,
hat das strenge Abtreibungsgesetz des US-Staats Texas für ungültig erklärt. Die neuen scharfen Bestimmungen von 2013
hatten dazu geführt, dass etliche Abtreibungseinrichtungen
schließen mussten. Die Gegner
beklagten, dass ihrer Ansicht
nach Abtreibungen unter dem
neuen Recht für mehr als fünf
Millionen gebärfähiger Frauen
kaum noch möglich seien. Außerdem sei die Freiheit zur Abtreibung grundsätzlich von der
US-Verfassung geschützt. (dpa)
Nach­rich­
tenAna­ly­
senÜber­sicht
www.taz.de
Merkel fährt auf Sicht
ZEITPLAN In der Frage des Brexits macht Merkel, was sie immer macht: abwarten und taktieren. Viele EU-
Regierungschefs drängen auf einen schnellen Prozess, auch die SPD macht Druck. London lässt sich Zeit
AUS BERLIN ULRICH SCHULTE
Angela Merkel liebt es, riesige
Probleme in so viele Einzelteile zu zerlegen, dass sie zu
schrumpfen scheinen. In Merkels Welt existiert kein großer
Wurf, stattdessen gibt es Tausende beherrschbare Schrittchen. Dass Großbritannien
jetzt „eine gewisse Zeit“ brauche, könne sie nachvollziehen,
sagte Merkel jetzt. Und fügte
hinzu: „Wir dürfen uns eine dauerhafte Hängepartie nicht leisten.“
Das ist so eine typische Merkel-Antwort auf die nicht un-
wichtige Frage, wie schnell die
Briten ihren Austritt aus der
Europäischen Union nach Artikel 50 des EU-Vertrages erklären sollen. Zügig wäre gut, wie
zügig, das sagt sie nicht. Merkel
weiß, dass diese Entscheidung
nicht in ihrer Macht liegt. Der
gescheiterte britische Premier
David Cameron will die Kündi-
„Wir dürfen uns eine
dauerhafte Hängepartie nicht leisten“
ANGELA MERKEL
gung bei der EU seinem Nachfolger überlassen – wer das sein
könnte, ist unklar. Da kümmert
sich Merkel lieber um die Dinge,
die sie selbst beeinflussen kann.
Mit dieser unterkühlten Analyse gerät die Kanzlerin unter
Druck. Viele EU-Regierungschefs drängen auf einen schnellen Austritt der Briten, auch die
SPD macht Druck. Das Signal der
EU-StaatschefInnen müsse lauten: „Klarheit statt Taktiererei,
entschlossenes Handeln statt
Zaudern“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Bei den Sozialdemokraten brachte intern auch
eine Äußerung von Kanzer-
Zügig soll der Brexit sein – wie zügig, ist noch unklar: Angela Merkel am Montag in Berlin Foto: Markus Schreiber/ap
Stress bei Tories und Labour
GROSSBRITANNIEN
amtschef ­
Peter Altmaier Aufruhr. Jener hatte in einem Interview gesagt, die Politik in London solle die Möglichkeit haben,
„noch einmal die Folgen eines
Austritts zu überdenken“. Wenig später kam jedoch Altmaiers Präzisierung: Er habe ausdrücklich nicht den Brexit an
sich gemeint.
Merkel und ihr Vertrauter
funkten in punkto Zeitplan
also Entspannungssignale, ohne
aber Zweifel in der Sache aufkommen zu lassen. Lässt sich ein
Brexit in letzter Minute verhindern, weil das Referendum nur
eine beratende Funktion habe?
„Wir gehen von Fakten aus“,
sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Das britische Volk
habe sich für den Austritt entschieden. „Damit müssen wir
politisch umgehen.“
Merkel, so die Botschaft,
glaubt nicht daran, dass sich
die Wucht eines Volksentscheids
nachträglich entkräften ließe.
Auch in einem weiteren Punkt
lässt sie keinen Zweifel. Sprecher Seibert betonte, erst wenn
Großbritannien seinen Austritt offiziell erklärt habe, werde
über die Modalitäten verhandelt. Ein informelles Entgegenkommen der EU, was sich mancher britische Brexit-Befürworter erhofft hatte, soll es aus Sicht
der Deutschen nicht geben.
Merkel steht vor der Mammutaufgabe, die EU zusammenzuhalten. Das ist nicht einfach:
Mehrere osteuropäische Staaten halten ihre Flüchtlingspolitik für einen großen Fehler. Im
Süden Europas erinnert man
sich bitter an die von der Deutschen durchgesetzte Sparpolitik
in der europäischen Krise – Merkel ist als Führungsfigur umstritten. Zugleich wissen alle,
dass die Macht der Deutschen
seit dem Brexit-Votum gewachsen ist.
Interessant wird sein, ob
Merkel ihren europapolitischen Kurs ändert. Die SPD
setzt sich seit Freitag von ihrer marktliberalen Linie – Sparen plus Reformen gleich Wettbewerbsfähigkeit – offensiv ab.
Gabriel und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz werben für
mehr ­Investitionen, eine europäische Sozialpolitik und einen stär­keren Wachstumspakt.
Ein ­solcher Kursschwenk
würde Merkels Spardiktum konterkarieren.
THEMA
DES
TAGES
Regierungspartei: neuer Premier bis 2. September. Opposition: Streit um Labour-Chef Corbyn spitzt sich zu
DUBLIN taz | Nun soll es doch
etwas schneller gehen, als zunächst angekündigt worden
war: Nicht erst im Oktober,
sondern schon bis zum 2. September soll ein Nachfolger für
den britischen Premier David
Cameron gefunden sein. Das
­einflussreiche „1922 Komitee“
der Tories erklärte nach einer
Krisensitzung am Montag in
London, die Wahl werde unter
den gleichen Regeln ablaufen
wie 2005.
Das bedeutet, dass die Abgeordneten zwei Kan­didaten aussuchen, die sich dann dem Vo-
tum der Basis stellen. Am Mittwoch und Donnerstag werden
demnach die Kandidaten nominiert: Unklar ist noch, ob es sich
dabei um den Exbürgermeister
von London, Boris Johnson, und
um Innenministerin T
­heresa
May (siehe Portrait) handelt, die
derzeit als potenzielle Nachfolger Camerons gehandelt werden. Der Regierungschef wollte
ursprünglich bis zum jährlichen
Parteitag der Tories im Oktober
im Amt bleiben.
Offen ist auch noch, was
aus der oppositionellen Labour Party wird, bei der es jetzt
drunter und drüber geht. Mehr
als ein Dutzend Mitglieder des
Schattenkabinetts sind inzwischen zurückgetreten. Viele Labour-Abgeordnete geben Parteichef Jeremy Corbyn die Mitschuld am Brexit-Ergebnis, weil
er nur eine halbherzige Kampagne für den Verbleib in der EU
geführt habe.
Bevor er Labour-Chef wurde,
war Corbyn einer der schärfsten EU-Kritiker. Um des parteiinternen Friedens willen musste
er vor dem Referendum für die
verhasste Organisation werben, wobei er seinen Widerwil-
len aber kaum kaschierte. So lag
in zahlreichen Labour-Hochburgen Brexit vorne.
Die beiden Abgeordneten
Margaret Hodge und Anne Coffey haben am Montag einen
Misstrauensantrag gegen Corbyn gestellt. Darüber wird wahrscheinlich bereits am Dienstag
abgestimmt.
Corbyn will nicht zurücktreten. Am Montag sagte er, dass er
im Falle seines Sturzes bei der
Wahl zum Labour-Chef erneut
antreten werde. Möglicherweise
muss er dann jedoch erneut von
36 Labour-Abgeordneten nomi-
niert werden, das geht aus den
Statuten aber nicht klar hervor.
Voriges Jahr hat er erst wenige
Minuten vor Meldeschluss genug Stimmen zusammenbekommen.
Damals ging er als großer
Außenseiter ins Rennen. Die
Parteibasis wählte ihn im September mit überwältigender
Mehrheit. Viele, die ihn damals
nominiert hatten, bereuen das
mittlerweile. Andererseits haben mehr als 200.000 Menschen am Montag eine Petition
zur Unterstützung von Corbyn
unterzeichnet. RALF SOTSCHECK
Schwerpunkt
Europa
DI ENSTAG, 28. JU N I 2016
TAZ.DI E TAGESZEITU NG
03
Am Beispiel ihrer Flüchtlingspolitik etwa lässt sich zeigen,
wie die EU es besser machen könnte. Das würde allen helfen
Und jetzt noch etwas mehr Bürgernähe! Die sechs Außenminister der EU-Gründerstaaten beraten hier – zwei Tage nach dem Brexit-Referendum – im Garten der Berliner Villa Borsig, was nun zu tun sei Foto: Markus Schreiber/ap
Die Wende zum Guten
ESSAY Nach dem Brexit-Schock: Jetzt ist die Zeit für einen Neuanfang in der Europäischen Union, sagt die Politologin
Gesine Schwan. Aber wie? Die Bürger vor Ort müssen den Nutzen der EU im Alltag spüren. Und das kann funktionieren
VON GESINE SCHWAN
Was mit dem Brexit-Votum passieren wird, ist heute unklarer,
als wir vor ein paar Tagen noch
dachten. Denn das Referendum
ist rechtlich nicht bindend, nur
politisch. Es kann gut sein, dass
sich die Stimmung in Großbritannien drastisch ändert, wenn
klar wird, was ein Brexit an
Schwierigkeiten für Großbritannien mit sich bringt. Und
in drei Monaten sieht die Welt
noch mal anders aus.
Für die Zukunft der EU kann
das aber auf keinen Fall bedeuten: Weiter so!
Dass viele in Europa vom Brexit überrascht waren, mag daran liegen, dass sie sich nicht
vorstellen können, wie die EU
wirklich auseinanderbrechen
sollte. Das ist einerseits gut,
weil es von einem Grundvertrauen in die Union zeugt, das
wir brauchen, wenn wir zusammenbleiben wollen. Gleichwohl
kann das unsere Sensibilität für
die Gefahren und unsere Bereitschaft für einen Neuanfang dramatisch schwächen.
Das lähmt die Fantasie
Dazu passt, dass man in den
letzten Monaten viele offizielle
EU-Vertreter hören konnte, die
die Europaskepsis im Wesentlichen auf falsche öffentliche
Wahrnehmungen zurückführten – und auf mangelhafte Übermittlung der Vorteile der Union.
Andere machten die engstirnige
Kommunikation durch die na­
tio­nalstaatlichen Exekutiven
verantwortlich, die seit der Finanzkrise weitgehend das Sagen
haben und alle Unbill in ihren
Ländern auf die EU schieben.
Diese EU-Vertreter haben ja
nicht unrecht. Und doch zeu-
gen sie damit von Betriebsblindheit. Denn im Brüsseler
Alltag, aber auch bei den natio­
nalen Regierungen, konzentriert sich die Aufmerksamkeit
auf die in den gewohnten Bahnen verhandelte, zunehmend
durch die deutsche Regierung
eher erpresste Politik.
So entwickelt sich eine Professionalisierung, die gegen
Bürgereinwände immunisiert.
Sie lähmt Empathie für die sozial Schwachen ebenso wie Einbildungskraft und Fantasie für
eine attraktivere, bürgernahe
Europäische Union.
Man ist nicht mehr gewohnt,
ganz andere Perspektiven wahr-
Gegen die Renais­
sance nationalis­
tischer Vorurteile
würden wir schnell
merken, dass die
politische Landkarte
sich ändert
zunehmen und Anliegen, die
man nicht teilt, als berechtigt
oder zumindest verständlich
anzuerkennen. Das ist fatal, weil
auf diese Weise ein negativer Zirkel gegenseitiger Missverständnisse und Vorwürfe in Gang gekommen ist, der die Hoffnung
auf einen positiven Ausweg unterminiert. Damit geht auch der
Glaube an eine Verständigungsfähigkeit in Europa verloren.
Wie soll es weitergehen? Wo
könnte ein Ausweg liegen? Die
einen meinen nun, man müsse
wieder mehr Macht an die Na­
tio­nalstaaten zurückgeben, jedenfalls die Integration nicht
weiter vorantreiben. Dabei
fürchten sie, dass Integration
zugunsten von Brüssel geht und
zulasten der Nationalstaaten. Integrieren heißt hier, die Zentrale
gegen die Einzelstaaten stärken.
Oder man müsse ein Kerneuropa schaffen, wie Wolfgang
Schäuble und Karl Lamers dies
zu Beginn der neunziger Jahre
des vorigen Jahrhunderts vorgeschlagen haben. Sie wollten damit eine deutsche Dominanz
verhindern. Eben die ist inzwischen aber eingetreten, und innerhalb eines Kerneuropas wäre
das Gewicht Deutschlands noch
größer als unter 27 Nachbarn.
Nicht mehr so abgehoben
Die Alternative hieße, weiter integrieren – aber so, dass die Bürger dies zu ihren Gunsten spüren können, dass sich die politischen Entscheidungen nicht
noch weiter von ihnen entfernen. Dazu müssen wir die subjektiv wahrgenommene Abgehobenheit von Brüssel und das
verfassungsmäßige Nullsummenspiel zwischen den Nationalstaaten und der EU-Ebene
überwinden.
Das kann gelingen, wenn
wir in das Verhältnis zwischen
Brüssel und den Nationalstaaten stärker die Kommunen einbeziehen. Und wir sollten die
Gewichte zwischen diesen drei
Ebenen neu austarieren. So
könnten wir mit Hilfe der (organisierten) Zivilgesellschaft eine
Bürgerbeteiligung organisieren,
die den Bürgerinnen und Bürgern mehr demokratisch konstituierte Mitentscheidungen
ermöglicht und durch Partizipation zu einer neuen Identifikation mit der EU führt.
Ein Beispiel ist die gegenwärtig völlig desorientierte europäische Flüchtlingspolitik, die
unsere rhetorisch proklamierten Werte mit Füßen tritt, wie
der Papst und der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, wie Amnesty International,
Ärzte ohne Grenzen (die deshalb
auf 50 Millionen Euro von der
Kommission verzichten wollen)
und Pro Asyl öffentlich mahnen:
Wir könnten mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen
– wenn die deutsche Bundesregierung unter der Führung von
Angela Merkel und Wolfgang
Schäuble endlich ihren Widerstand gegen die Haftung für
europäische Investitions- oder
Entwicklungsanleihen aufgäbe.
Mit einem von der Kommission aufgelegten und von den
Nationalstaaten zu billigenden
Fonds könnten wir eine humanitäre und durch Regeln gesteuerte freiwillige Aufnahme von
Flüchtlingen in ganz Europa
und zugleich eine Wende hin zu
einer europäischen Investitionsund Wachstumspolitik schaffen.
Sie ginge von den Bedürfnissen
der Kommunen aus und machte
sie zu wichtigen Akteuren in dieser Wende zum Guten.
Geld für die Kommunen
Damit könnten endlich erste
Schritte zur Überwindung der
Arbeitslosigkeit in den von der
deutschen Austeritätspolitik
gebeutelten Staaten getan und
eine neue Identifikation der
Bürgerinnen und Bürger mit
der EU geschaffen werden.
Kommunen, die willens sind,
Flüchtlinge aufzunehmen, und
sich intern mit Unternehmen,
Gewerkschaften und NGOs darüber und über weitere Schritte
der Integration, der Schaffung
von Arbeitsplätzen et cetera verständigen, könnten sich bei dem
Fonds um die Finanzierung der
dafür erforderlichen Maßnahmen und Infrastruktur bewerben. Auf diese Weise könnten
sie zunächst für die „eingesessene“ Bevölkerung Arbeitsplätze
schaffen. Mit einem obligato­
rischen
Antikorruptionselement!
Hier würde eine eigenständige Willensbildung und Entscheidung auf Bürgerebene ermöglicht, die von der Europäischen Union finanziert würde
und einer gesamteuropäischen Aufgabe – der humanen
Aufnahme von Flüchtlingen –
diente.
Gegen die Renaissance nationalistischer Vorurteile würden
wir schnell merken, dass die politische Landkarte sich ändert:
Auch Kommunen in Polen würden sich zum Beispiel bewerben.
Breslau, Danzig und Warschau
haben dies schon signalisiert.
Warum soll nur Deutschlands
Wirtschaft (0,3 Prozent zusätzliches Wachstum 2015 DURCH
FLÜCHTLINGE) davon profitieren, dass hier Flüchtlinge aufgenommen worden sind?
Insgesamt könnte die Europäische Investitionsbank mehr
auf „Social Impact Investments“
zugunsten von Kommunen und
Regionen setzen, anstatt die nationalen Investitionslisten nach
dem Kriterium abzuarbeiten, wo
es mit dem geringsten bürokratischen Aufwand am schnellsten die beste Rendite gibt.
Eine sozialere EU
Foto: ap
Gesine Schwan
■■73, ist Vorsitzende der Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
In den Jahren 2004 und 2009
kandidierte sie für das Amt der
Bundespräsidentin.
Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität
Viadrina in Frankfurt an der Oder.
Die Politikwissenschaftlerin und
Autorin (unter anderem: „Allein
ist nicht genug“) engagiert sich
derzeit für die überparteiliche
Initiative „Restart Europe now!“
(www. restart-europe-now.eu)
Diese neue politische Ausrichtung sollte im Kontext einer sozialeren Ausgestaltung der EU
geschehen, zum Beispiel mit
einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Eine entsprechende Ausweitung des „Europäischen Semesters“, also der
wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene, ist von Abgeordneten der Sozialisten und
Demokraten im EU-Parlament
schon vorgeschlagen worden.
Das würde die EU „volkswirtschaftlich“ stabilisieren, einen
Länderausgleich schaffen und
der Union den Charakter nehmen, eine besonders unerbittliche Inkarnation der neoliberalen Globalisierung zu sein.
Entscheidend ist, dass jetzt
auf der kommunalen Ebene etwas geschieht, damit die Bürger
Europa positiv in ihrem Alltag
spüren können. Wir brauchen
eine Europäische Union zum
Anfassen.