Nach dem Brexit: „Eine EU zum Anfassen“ Ist Europa noch zu retten? Gesine Schwan fordert Mut und hat Ideen ▶ Seite 2, 3 AUSGABE BERLIN | NR. 11055 | 26. WOCHE | 38. JAHRGANG DIENSTAG, 28. JUNI 2016 | WWW.TAZ.DE H EUTE I N DER TAZ € 2,10 AUSLAND | € 1,60 DEUTSCHLAND Scheiße ABSCHIED Götz George ist tot. Es bleiben: seine Schimanski-Jacke, seine Kraftausdrücke zur besten Sendezeit und viele Gründe zur Melancholie ▶ Nachruf SEITE 11, 20 PROZESS Vergewal- tigung oder falsche Anschuldigung? Model Gina-Lisa Lohfink vor Gericht ▶ SEITE 5 Ein Mann, ein Wort Er brauchte nur ein Wort, um sein ganzes Wesen hineinzupacken: seinen Ärger über die Welt und die Frauen und das Elend; die Fassungslosigkeit darüber, wie viele Idioten auf dieser Erde wandeln; seinen Lottersex aus Knautschjacke und knackenger Jeans, die immer ein bisschen zu hoch saß. „Scheiße“ – dieses Wort benutzte Götz George als Horst Schimanski so ausdauernd, dass Duisburger Spießer öffentlich Stimmung gegen ihn machten. Es gab im deutschen Film kaum eine aufregendere Stimme als die Georges, rau und zärtlich und ein bisschen verwaschen, und am schönsten war sie, wenn sie aus dem Pott die Weltbühne machte, die er verdient hat. Mit einem einzigen Wort. JOHANNA ROTH PATT Podemos ent- täuscht: Auch nach der Wahl in Spanien noch keine neue Regierung in Sicht ▶ SEITE 4, 10 EM TAZ Endlich wird gezaubert und gedribbelt ▶ SEITE 15–18 Fotos oben: reuters Unser Bruce Willis VERBOTEN Guten Tag, meine Damen und Herren! Auch verboten trauert natürlich. Heute gleich doppelt. Denn fast zeitgleich mit der Eilmeldung vom Tod von Götz George kam das Ausscheiden Ungarns bei der EM. Und damit verabschiedet sich von der großen Weltbühne neben der berühmtesten Schlabberjacke auch die schönste und wahrscheinlich letzte Schlabberhose. TAZ MUSS SEI N Die tageszeitung wird ermöglicht durch 16.020 GenossInnen, die in die Pressevielfalt investieren. 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Dieser Willié, von den Kollegen liebevoll als „schmierig“ bezeichnet, wurde in Georges Verkörperung zu einem Besessenen, aus dem nicht nur die Begeisterung über den vermeintlichen Fund der Hitler-Tagebücher hervorbricht. Dieser Mann ist so getrieben, dass er sich nur mühsam im Griff hat. George markiert das mit einem Laut, der komisch wirkt, weil er irritiert. Getriebene Figuren lagen diesem Mann, dessen Augen von euphorischblitzend bis ausdruckslos-starr blicken konnten. Letztere Qualität setzte er für seinen Part als Serienmörder Fritz Haarmann in Romuald Kamarkars „Der Totmacher“ (1995) ein. Der auf engstem Raum gedrehte Film, für den George die Vernehmungsprotokolle Haarmanns als Text sprach, lebt von der gebündelten Energie dieses Körperschauspielers. „Ich bewege mich innerlich“, so George über seinen Einsatz. Der größte Spaß und der größte Schrecken – dass er solche Extreme für seine überzeugendsten Auftritte zu meistern wusste, zeichnet Götz George als einen der größten Schauspieler der Nachkriegszeit aus.TIM CASPAR BOEHME Volle Kanne Marx Also echt Für Schimmi habe ich mein Studium geschwänzt. Im Studentenwohnheim in Leipzig gab’s kein Westfernsehen, also guckte ich zu Hause in Berlin. Wenn der „Tatort“ vorbei war, fuhr kein Zug mehr. Erst wieder am Montagmorgen, leider zu spät für die Marxismus-Leninismus-Vorlesung. Das Studium im Osten war total verschult und ich sollte jedes Mal erklären, warum ich nicht da war. Kein Problem: Meine Schwester hat ein Kind gekriegt. Oma musste ins Krankenhaus. Rohrbruch, weil jemand ein Schnitzel ins Klo gestopft hatte. Ich hätte ja schlecht sagen können: Hey, Schimanski in Duisburg, das ist doch wie Oberstleutnant Fuchs in KarlMarx-Stadt. Das ist volle Kanne Kapitalismuskritik: morbider Charme einer Proletarierstadt, Arbeiterklasse, ganzer Einsatz für die Rechtlosen. Und wie hätte ich Schimmis Prügeleien, Sauftouren und all die Bordelle erklären SIMONE SCHMOLLACK sollen? Mitte der Neunziger bin ich Götz George oft im Hausflur begegnet. Seine Freundin wohnte gegenüber, und es war ein enges Treppenhaus. Wenn er heraufstürmte, kam ich, wenn ich herunterging, schwer an ihm vorbei. Zwei Dinge fielen mir auf. Erstens: seine Lederjacke. Sie war knallgelb damals, mit einem chinesischen Drachen auf den Rücken gestickt. Das war sehr prollig und sehr extravagant – wie später manche seiner Brillen. Zweitens: seine physische Präsenz. Er war ein großes Schnauben (das ich aus seinen Fernsehrollen kannte, auch als Schimanski schnaubte er immer so durch die Nase) und ein vor selbstverständlichem Dasein schier berstender Männerkörper. Viele Schauspieler sind, wenn man ihnen in der Realität begegnet, überraschend klein, sie verschwinden im Alltag fast, vor der Kamera oder auf der Bühne können sie ihre Präsenz aber anschalten. Götz Georges Präsenz war anders, glaube ich. Sie war da, sie sprühte – und er musste sie vor der Kamera loslassen und kontrollieren zugleich, kanalisieren. Und ich glaube von den Treppenhausbegegnungen her nicht, dass er sie überhaupt abschalten konnte. DIRK KNIPPHALS Schimanski war Körper. Massig. Bullig. Es gab keinen Schimanski-Film, in dem er nicht erst mal die Tür eintrat. Diese Physis existierte im deutschen Fernsehen sonst nicht. Seine Jacke war absurd eng. Nur gemacht, um die Muskelpakete sichtbar zu machen. Schimanski war unser Bruce Willis, der sich in einen Autorenfilm verlaufen hatte, in dem sich alles nur um ihn drehte. Er war der proletarische Körperheld im Moment seines Verschwindens. Und immer unsympathisch genug, um nicht im Rau-aber-herzlichKlischee unterzugehen. Natürlich war er wie alle vitalen Männer ein Kind, das immer ein neues Spielzeug brauchte, um es kaputt zu machen. Als Schimanski in den 80er Jahren das Ruhrgebiet durchstreifte, war der Aufschwung im Pott lange vorbei, und die Brachen waren noch nicht zu Industriedenkmälern geworden. Es gab Fußgängerzonen und Pommesbuden, Autobahnen und Neubauten, die aussahen, als hätten sie ihre Zukunft schon hinter sich. Bei Schimanski schien die graue Gesichtslosigkeit der Städte unserer Kindheit zu verfliegen. Er verzauberte die Halden, die Bushaltestellen und trostlosen Rauputzfassaden mit Bedeutung. Dafür haben wir ihn geliebt. STEFAN REINECKE Die Jacke Ich war auch Schimanski. Jahrelang. Zunächst, ohne es selbst zu wissen. Bis irgendwann Freunde riefen: „Da kommt ja der Schimanski.“ Denn ich trug die gleiche Jacke. Nur in kleiner. Mit 15, ohne einen einzigen „Tatort“ gesehen zu haben, da wir gar kein Fernsehen hatten. Ich fand die Jacke einfach cool. So cool, dass ich sie sogar in Ägypten in der Wüste anließ. Die dabei waren, nennen mich heute noch Schimanski. Habe die Ehre! LUKAS WALLRAFF 02 TAZ.DI E TAGESZEITU NG PORTRAIT NACH RICHTEN VEREI NTE NATION EN NACH BREXIT Bundesregierung will in den Sicherheitsrat Schulden lohnen sich für Deutschland BERLIN | Frank-Walter Stein- Nur nicht Boris Johnson: Kandidatin Theresa May Foto: dpa Tory-Politikerin soll schlichten D ie britische Innenministerin Theresa May soll die nach dem Brexit-Forum gespaltene Konservative Partei wieder vereinen. Das zumindest erhofft sich die Kampagne „Stop Boris“. Ihre Mitglieder wollen verhindern, dass der Londoner Exbürgermeister Boris Johnson, das Aushängeschild der EUGegner, Premierminister wird und die Partei vor eine Zerreißprobe stellt. Johnson gilt jedoch nach wie vor als Favorit. May wird am 1. Oktober 60 Jahre alt. Sie stammt aus Eastbourne in Sussex. Nach ihrem Schulabschluss studierte sie in Oxford Geografie und arbeitete ab 1977 bei der Bank of England. 1985 wechselte sie als Beraterin zu einem privaten Finanzunternehmen. Diesen Job gab sie 1997 auf, als sie im dritten Anlauf im Wahlkreis Maidenhead ins Unterhaus gewählt wurde. Der damalige Tory-Chef William Hague nahm sie sofort in sein Schattenkabinett auf und übertrug ihr die Bereiche Bildung und Frauen. Hagues Nachfolger Iain Duncan Smith machte sie zur Sprecherin für Transport. 2002 wurde sie als erste Frau zur Vorsitzenden der Konservativen Partei ernannt. Nach dem Wahlsieg der Tories 2010 machte Premierminister David Cameron sie zur Innenministerin, und das ist sie bis heute. Seit mehr als hundert Jahren hat niemand diesen Posten länger bekleidet als May. Bei der Referendumskampagne sprach sich May zwar für den Verbleib in der EU aus, aber sie machte bei den BrexitBefürwortern Boden gut, als sie sich für Großbritanniens Rückzug aus der Europäischen Menschenrechtskonvention aussprach und die Teilnahme an der EU-Quotenregelung für Flüchtlinge ablehnte. Viele Abgeordnete glauben deshalb, dass ihr ein Brückenschlag zwischen den zerstrittenen Parteiflügeln gelingen könnte. Die Kandidaten für die Cameron-Nachfolge sollen sich bereits in dieser Woche bewerben. Die Tory-Abgeordneten wählen dann bis Ende Juli zwei von ihnen aus. Die haben den Sommer über Zeit, Werbung für sich zu machen. Im September wählen die 150.000 Parteimitglieder die neue Parteiführung, die auf dem Parteitag im Oktober präsentiert wird und danach mit den Verhandlungen über den EU-Austritt beginnen muss. RALF SOTSCHECK Der Tag DI ENSTAG, 28. JU N I 2016 meier (SPD) möchte in den UNSicherheitsrat. Der Außenminister gab gestern in Hamburg bekannt, „dass sich Deutschland erneut für einen Sitz in diesem Gremium bewirbt – genau gesagt als nichtständiges Mitglied für die Jahre 2019/20“. Die Bundesrepublik müsse sich dafür in zwei Jahren vor der UNVollversammlung zur Wahl stellen. „Unsere Kampagne beginnt heute und wird in diesem Herbst zu Hochtouren anlaufen“, sagte Steinmeier. Der Sicherheitsrat besteht neben den fünf ständigen Mitglie- dern aus zehn weiteren Mitgliedern ohne Vetorecht. Zwei davon müssen aus Westeuropa stammen, sie werden für jeweils zwei Jahre in das Gremium gewählt. Deutschland saß zuletzt in den Jahren 2011 und 2012 im Sicherheitsrat. Als Begründung für die erneute Kandidatur nannte Steinmeier gestern das diplomatische Engagement der Bundesregierung. „Deutschland gilt in der Außenpolitik als ‚ehrlicher Makler‘, und deshalb sind wir ein gesuchter Partner, auch bei der Gestaltung von neuen Elementen der globalen Ordnung“, sagte Steinmeier. (taz) BERLIN | Der deutsche Staat ver- dient nach dem Brexit-Entscheid so viel Geld beim Schuldenmachen wie noch nie. Die Versteigerung neuer Schatzanweisungen mit zwölfmonatiger Laufzeit spülte gestern 1,125 Milliarden Euro in die Kasse. Die Investoren begnügten sich mit einer rekordniedrigen Rendite von minus 0,6107 Prozent, teilte die zuständige Finanzagentur des Bundes mit. Statt Geld für ihre Leihgabe zu bekommen, zahlen sie also noch eine Art Gebühr an den Staat, um an die Papiere zu gelangen. (rtr) TH EM EN-SCHWERP U N KT E TEXAS US-Gericht kassiert Abtreibungsrecht Nachrichten ändern sich jeden Tag, einige Themen bleiben. Die taz bleibt dran, und auf taz.de finden Sie in unseren dossierarti gen Schwerpunkten alle Texte zu einem Thema gesammelt, über sichtlich und ausführlich. www. WASHINGTON | Das oberste US- Gericht, der Supreme Court, hat das strenge Abtreibungsgesetz des US-Staats Texas für ungültig erklärt. Die neuen scharfen Bestimmungen von 2013 hatten dazu geführt, dass etliche Abtreibungseinrichtungen schließen mussten. Die Gegner beklagten, dass ihrer Ansicht nach Abtreibungen unter dem neuen Recht für mehr als fünf Millionen gebärfähiger Frauen kaum noch möglich seien. Außerdem sei die Freiheit zur Abtreibung grundsätzlich von der US-Verfassung geschützt. (dpa) Nachrich tenAnaly senÜbersicht www.taz.de Merkel fährt auf Sicht ZEITPLAN In der Frage des Brexits macht Merkel, was sie immer macht: abwarten und taktieren. Viele EU- Regierungschefs drängen auf einen schnellen Prozess, auch die SPD macht Druck. London lässt sich Zeit AUS BERLIN ULRICH SCHULTE Angela Merkel liebt es, riesige Probleme in so viele Einzelteile zu zerlegen, dass sie zu schrumpfen scheinen. In Merkels Welt existiert kein großer Wurf, stattdessen gibt es Tausende beherrschbare Schrittchen. Dass Großbritannien jetzt „eine gewisse Zeit“ brauche, könne sie nachvollziehen, sagte Merkel jetzt. Und fügte hinzu: „Wir dürfen uns eine dauerhafte Hängepartie nicht leisten.“ Das ist so eine typische Merkel-Antwort auf die nicht un- wichtige Frage, wie schnell die Briten ihren Austritt aus der Europäischen Union nach Artikel 50 des EU-Vertrages erklären sollen. Zügig wäre gut, wie zügig, das sagt sie nicht. Merkel weiß, dass diese Entscheidung nicht in ihrer Macht liegt. Der gescheiterte britische Premier David Cameron will die Kündi- „Wir dürfen uns eine dauerhafte Hängepartie nicht leisten“ ANGELA MERKEL gung bei der EU seinem Nachfolger überlassen – wer das sein könnte, ist unklar. Da kümmert sich Merkel lieber um die Dinge, die sie selbst beeinflussen kann. Mit dieser unterkühlten Analyse gerät die Kanzlerin unter Druck. Viele EU-Regierungschefs drängen auf einen schnellen Austritt der Briten, auch die SPD macht Druck. Das Signal der EU-StaatschefInnen müsse lauten: „Klarheit statt Taktiererei, entschlossenes Handeln statt Zaudern“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Bei den Sozialdemokraten brachte intern auch eine Äußerung von Kanzer- Zügig soll der Brexit sein – wie zügig, ist noch unklar: Angela Merkel am Montag in Berlin Foto: Markus Schreiber/ap Stress bei Tories und Labour GROSSBRITANNIEN amtschef Peter Altmaier Aufruhr. Jener hatte in einem Interview gesagt, die Politik in London solle die Möglichkeit haben, „noch einmal die Folgen eines Austritts zu überdenken“. Wenig später kam jedoch Altmaiers Präzisierung: Er habe ausdrücklich nicht den Brexit an sich gemeint. Merkel und ihr Vertrauter funkten in punkto Zeitplan also Entspannungssignale, ohne aber Zweifel in der Sache aufkommen zu lassen. Lässt sich ein Brexit in letzter Minute verhindern, weil das Referendum nur eine beratende Funktion habe? „Wir gehen von Fakten aus“, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Das britische Volk habe sich für den Austritt entschieden. „Damit müssen wir politisch umgehen.“ Merkel, so die Botschaft, glaubt nicht daran, dass sich die Wucht eines Volksentscheids nachträglich entkräften ließe. Auch in einem weiteren Punkt lässt sie keinen Zweifel. Sprecher Seibert betonte, erst wenn Großbritannien seinen Austritt offiziell erklärt habe, werde über die Modalitäten verhandelt. Ein informelles Entgegenkommen der EU, was sich mancher britische Brexit-Befürworter erhofft hatte, soll es aus Sicht der Deutschen nicht geben. Merkel steht vor der Mammutaufgabe, die EU zusammenzuhalten. Das ist nicht einfach: Mehrere osteuropäische Staaten halten ihre Flüchtlingspolitik für einen großen Fehler. Im Süden Europas erinnert man sich bitter an die von der Deutschen durchgesetzte Sparpolitik in der europäischen Krise – Merkel ist als Führungsfigur umstritten. Zugleich wissen alle, dass die Macht der Deutschen seit dem Brexit-Votum gewachsen ist. Interessant wird sein, ob Merkel ihren europapolitischen Kurs ändert. Die SPD setzt sich seit Freitag von ihrer marktliberalen Linie – Sparen plus Reformen gleich Wettbewerbsfähigkeit – offensiv ab. Gabriel und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz werben für mehr Investitionen, eine europäische Sozialpolitik und einen stärkeren Wachstumspakt. Ein solcher Kursschwenk würde Merkels Spardiktum konterkarieren. THEMA DES TAGES Regierungspartei: neuer Premier bis 2. September. Opposition: Streit um Labour-Chef Corbyn spitzt sich zu DUBLIN taz | Nun soll es doch etwas schneller gehen, als zunächst angekündigt worden war: Nicht erst im Oktober, sondern schon bis zum 2. September soll ein Nachfolger für den britischen Premier David Cameron gefunden sein. Das einflussreiche „1922 Komitee“ der Tories erklärte nach einer Krisensitzung am Montag in London, die Wahl werde unter den gleichen Regeln ablaufen wie 2005. Das bedeutet, dass die Abgeordneten zwei Kandidaten aussuchen, die sich dann dem Vo- tum der Basis stellen. Am Mittwoch und Donnerstag werden demnach die Kandidaten nominiert: Unklar ist noch, ob es sich dabei um den Exbürgermeister von London, Boris Johnson, und um Innenministerin T heresa May (siehe Portrait) handelt, die derzeit als potenzielle Nachfolger Camerons gehandelt werden. Der Regierungschef wollte ursprünglich bis zum jährlichen Parteitag der Tories im Oktober im Amt bleiben. Offen ist auch noch, was aus der oppositionellen Labour Party wird, bei der es jetzt drunter und drüber geht. Mehr als ein Dutzend Mitglieder des Schattenkabinetts sind inzwischen zurückgetreten. Viele Labour-Abgeordnete geben Parteichef Jeremy Corbyn die Mitschuld am Brexit-Ergebnis, weil er nur eine halbherzige Kampagne für den Verbleib in der EU geführt habe. Bevor er Labour-Chef wurde, war Corbyn einer der schärfsten EU-Kritiker. Um des parteiinternen Friedens willen musste er vor dem Referendum für die verhasste Organisation werben, wobei er seinen Widerwil- len aber kaum kaschierte. So lag in zahlreichen Labour-Hochburgen Brexit vorne. Die beiden Abgeordneten Margaret Hodge und Anne Coffey haben am Montag einen Misstrauensantrag gegen Corbyn gestellt. Darüber wird wahrscheinlich bereits am Dienstag abgestimmt. Corbyn will nicht zurücktreten. Am Montag sagte er, dass er im Falle seines Sturzes bei der Wahl zum Labour-Chef erneut antreten werde. Möglicherweise muss er dann jedoch erneut von 36 Labour-Abgeordneten nomi- niert werden, das geht aus den Statuten aber nicht klar hervor. Voriges Jahr hat er erst wenige Minuten vor Meldeschluss genug Stimmen zusammenbekommen. Damals ging er als großer Außenseiter ins Rennen. Die Parteibasis wählte ihn im September mit überwältigender Mehrheit. Viele, die ihn damals nominiert hatten, bereuen das mittlerweile. Andererseits haben mehr als 200.000 Menschen am Montag eine Petition zur Unterstützung von Corbyn unterzeichnet. RALF SOTSCHECK Schwerpunkt Europa DI ENSTAG, 28. JU N I 2016 TAZ.DI E TAGESZEITU NG 03 Am Beispiel ihrer Flüchtlingspolitik etwa lässt sich zeigen, wie die EU es besser machen könnte. Das würde allen helfen Und jetzt noch etwas mehr Bürgernähe! Die sechs Außenminister der EU-Gründerstaaten beraten hier – zwei Tage nach dem Brexit-Referendum – im Garten der Berliner Villa Borsig, was nun zu tun sei Foto: Markus Schreiber/ap Die Wende zum Guten ESSAY Nach dem Brexit-Schock: Jetzt ist die Zeit für einen Neuanfang in der Europäischen Union, sagt die Politologin Gesine Schwan. Aber wie? Die Bürger vor Ort müssen den Nutzen der EU im Alltag spüren. Und das kann funktionieren VON GESINE SCHWAN Was mit dem Brexit-Votum passieren wird, ist heute unklarer, als wir vor ein paar Tagen noch dachten. Denn das Referendum ist rechtlich nicht bindend, nur politisch. Es kann gut sein, dass sich die Stimmung in Großbritannien drastisch ändert, wenn klar wird, was ein Brexit an Schwierigkeiten für Großbritannien mit sich bringt. Und in drei Monaten sieht die Welt noch mal anders aus. Für die Zukunft der EU kann das aber auf keinen Fall bedeuten: Weiter so! Dass viele in Europa vom Brexit überrascht waren, mag daran liegen, dass sie sich nicht vorstellen können, wie die EU wirklich auseinanderbrechen sollte. Das ist einerseits gut, weil es von einem Grundvertrauen in die Union zeugt, das wir brauchen, wenn wir zusammenbleiben wollen. Gleichwohl kann das unsere Sensibilität für die Gefahren und unsere Bereitschaft für einen Neuanfang dramatisch schwächen. Das lähmt die Fantasie Dazu passt, dass man in den letzten Monaten viele offizielle EU-Vertreter hören konnte, die die Europaskepsis im Wesentlichen auf falsche öffentliche Wahrnehmungen zurückführten – und auf mangelhafte Übermittlung der Vorteile der Union. Andere machten die engstirnige Kommunikation durch die na tionalstaatlichen Exekutiven verantwortlich, die seit der Finanzkrise weitgehend das Sagen haben und alle Unbill in ihren Ländern auf die EU schieben. Diese EU-Vertreter haben ja nicht unrecht. Und doch zeu- gen sie damit von Betriebsblindheit. Denn im Brüsseler Alltag, aber auch bei den natio nalen Regierungen, konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf die in den gewohnten Bahnen verhandelte, zunehmend durch die deutsche Regierung eher erpresste Politik. So entwickelt sich eine Professionalisierung, die gegen Bürgereinwände immunisiert. Sie lähmt Empathie für die sozial Schwachen ebenso wie Einbildungskraft und Fantasie für eine attraktivere, bürgernahe Europäische Union. Man ist nicht mehr gewohnt, ganz andere Perspektiven wahr- Gegen die Renais sance nationalis tischer Vorurteile würden wir schnell merken, dass die politische Landkarte sich ändert zunehmen und Anliegen, die man nicht teilt, als berechtigt oder zumindest verständlich anzuerkennen. Das ist fatal, weil auf diese Weise ein negativer Zirkel gegenseitiger Missverständnisse und Vorwürfe in Gang gekommen ist, der die Hoffnung auf einen positiven Ausweg unterminiert. Damit geht auch der Glaube an eine Verständigungsfähigkeit in Europa verloren. Wie soll es weitergehen? Wo könnte ein Ausweg liegen? Die einen meinen nun, man müsse wieder mehr Macht an die Na tionalstaaten zurückgeben, jedenfalls die Integration nicht weiter vorantreiben. Dabei fürchten sie, dass Integration zugunsten von Brüssel geht und zulasten der Nationalstaaten. Integrieren heißt hier, die Zentrale gegen die Einzelstaaten stärken. Oder man müsse ein Kerneuropa schaffen, wie Wolfgang Schäuble und Karl Lamers dies zu Beginn der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts vorgeschlagen haben. Sie wollten damit eine deutsche Dominanz verhindern. Eben die ist inzwischen aber eingetreten, und innerhalb eines Kerneuropas wäre das Gewicht Deutschlands noch größer als unter 27 Nachbarn. Nicht mehr so abgehoben Die Alternative hieße, weiter integrieren – aber so, dass die Bürger dies zu ihren Gunsten spüren können, dass sich die politischen Entscheidungen nicht noch weiter von ihnen entfernen. Dazu müssen wir die subjektiv wahrgenommene Abgehobenheit von Brüssel und das verfassungsmäßige Nullsummenspiel zwischen den Nationalstaaten und der EU-Ebene überwinden. Das kann gelingen, wenn wir in das Verhältnis zwischen Brüssel und den Nationalstaaten stärker die Kommunen einbeziehen. Und wir sollten die Gewichte zwischen diesen drei Ebenen neu austarieren. So könnten wir mit Hilfe der (organisierten) Zivilgesellschaft eine Bürgerbeteiligung organisieren, die den Bürgerinnen und Bürgern mehr demokratisch konstituierte Mitentscheidungen ermöglicht und durch Partizipation zu einer neuen Identifikation mit der EU führt. Ein Beispiel ist die gegenwärtig völlig desorientierte europäische Flüchtlingspolitik, die unsere rhetorisch proklamierten Werte mit Füßen tritt, wie der Papst und der Menschenrechtsbeauftragte des Europarats, wie Amnesty International, Ärzte ohne Grenzen (die deshalb auf 50 Millionen Euro von der Kommission verzichten wollen) und Pro Asyl öffentlich mahnen: Wir könnten mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen – wenn die deutsche Bundesregierung unter der Führung von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble endlich ihren Widerstand gegen die Haftung für europäische Investitions- oder Entwicklungsanleihen aufgäbe. Mit einem von der Kommission aufgelegten und von den Nationalstaaten zu billigenden Fonds könnten wir eine humanitäre und durch Regeln gesteuerte freiwillige Aufnahme von Flüchtlingen in ganz Europa und zugleich eine Wende hin zu einer europäischen Investitionsund Wachstumspolitik schaffen. Sie ginge von den Bedürfnissen der Kommunen aus und machte sie zu wichtigen Akteuren in dieser Wende zum Guten. Geld für die Kommunen Damit könnten endlich erste Schritte zur Überwindung der Arbeitslosigkeit in den von der deutschen Austeritätspolitik gebeutelten Staaten getan und eine neue Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit der EU geschaffen werden. Kommunen, die willens sind, Flüchtlinge aufzunehmen, und sich intern mit Unternehmen, Gewerkschaften und NGOs darüber und über weitere Schritte der Integration, der Schaffung von Arbeitsplätzen et cetera verständigen, könnten sich bei dem Fonds um die Finanzierung der dafür erforderlichen Maßnahmen und Infrastruktur bewerben. Auf diese Weise könnten sie zunächst für die „eingesessene“ Bevölkerung Arbeitsplätze schaffen. Mit einem obligato rischen Antikorruptionselement! Hier würde eine eigenständige Willensbildung und Entscheidung auf Bürgerebene ermöglicht, die von der Europäischen Union finanziert würde und einer gesamteuropäischen Aufgabe – der humanen Aufnahme von Flüchtlingen – diente. Gegen die Renaissance nationalistischer Vorurteile würden wir schnell merken, dass die politische Landkarte sich ändert: Auch Kommunen in Polen würden sich zum Beispiel bewerben. Breslau, Danzig und Warschau haben dies schon signalisiert. Warum soll nur Deutschlands Wirtschaft (0,3 Prozent zusätzliches Wachstum 2015 DURCH FLÜCHTLINGE) davon profitieren, dass hier Flüchtlinge aufgenommen worden sind? Insgesamt könnte die Europäische Investitionsbank mehr auf „Social Impact Investments“ zugunsten von Kommunen und Regionen setzen, anstatt die nationalen Investitionslisten nach dem Kriterium abzuarbeiten, wo es mit dem geringsten bürokratischen Aufwand am schnellsten die beste Rendite gibt. Eine sozialere EU Foto: ap Gesine Schwan ■■73, ist Vorsitzende der Grundwertekommission der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. In den Jahren 2004 und 2009 kandidierte sie für das Amt der Bundespräsidentin. Von 1999 bis 2008 war sie Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Die Politikwissenschaftlerin und Autorin (unter anderem: „Allein ist nicht genug“) engagiert sich derzeit für die überparteiliche Initiative „Restart Europe now!“ (www. restart-europe-now.eu) Diese neue politische Ausrichtung sollte im Kontext einer sozialeren Ausgestaltung der EU geschehen, zum Beispiel mit einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Eine entsprechende Ausweitung des „Europäischen Semesters“, also der wirtschaftspolitischen Steuerung auf EU-Ebene, ist von Abgeordneten der Sozialisten und Demokraten im EU-Parlament schon vorgeschlagen worden. Das würde die EU „volkswirtschaftlich“ stabilisieren, einen Länderausgleich schaffen und der Union den Charakter nehmen, eine besonders unerbittliche Inkarnation der neoliberalen Globalisierung zu sein. Entscheidend ist, dass jetzt auf der kommunalen Ebene etwas geschieht, damit die Bürger Europa positiv in ihrem Alltag spüren können. Wir brauchen eine Europäische Union zum Anfassen.
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