Angezählt - Neues Deutschland

Mehr Fortschritt wagen
Warum die Linkspartei den Platz der »radikalen Linken« mit praktisch
verfolgbaren Lösungsansätzen einnehmen muss. Seite 21
Grafik: 123rf/olegganko, 123rf/artqu
Sonnabend/Sonntag, 7./8. Mai 2016
STANDPUNKT
Atempause für
EU-Befürworter
71. Jahrgang/Nr. 106
Bundesausgabe 2,00 €
www.neues-deutschland.de
Angezählt
UNO: Luftangriffe
in Syrien aufklären
Labour zurück an Londons Spitze, aber mit Verlusten in Schottland, Wales, England
Empörung über Attacken gegen Lager
mit Bürgerkriegsflüchtlingen
Katja Herzberg zu den Wahlen
in Großbritannien
Weniger ist manchmal mehr,
muss sich Jeremy Corbyn gedacht
haben, als ihn die Ergebnisse der
Regional- und Kommunalwahlen
auf den britischen Inseln erreichten. Denn seine Labour-Partei hat
zwar sowohl in Schottland und
Wales als auch in einigen Kommunen in England an Stimmen
verloren – doch nicht überall sind
die Verluste gleichbedeutend mit
einer Niederlage. In Wales etwa
ist Labour weiter stärkste Kraft, in
London konnte das Bürgermeisteramt von den Konservativen zurückerobert werden. Durchaus ein
Erfolg für Corbyns linken Kurs. Ob
der Wechsel auf dem LabourChefposten auch in nationalen
Fragen wirkt, wird aber erst das
Referendum über den Verbleib
Großbritanniens in der Europäischen Union zeigen. Die jetzigen
Ergebnisse verschaffen ihm und
allen anderen EU-Freunden allenfalls eine Atempause.
Die weltoffenen ausländischen
Londoner, die mit Sadiq Khan den
ersten Muslim in die City Hall
wählten, dürfen dann nicht mitstimmen. In Wales und England
konnte die EU-feindliche UKIP
zulegen, in Schottland nahmen
die EU-kritischen Tories den Sozialdemokraten den zweiten Rang
ab. Die Brexit-Befürworter gehören zu den Gewinnern dieser
Wahl – obwohl es noch nicht um
die Frage ging, in der ihre Meinung am eindeutigsten ist.
Corbyn wäre gut beraten, mit
allen, die Großbritannien in der
EU halten wollen, zusammenzuarbeiten. Dass es viele Brexit-Gegner unter den Wählern gibt, hat
nicht zuletzt der Erfolg der Schottischen Nationalpartei gezeigt.
UNTEN LINKS
Als »historische Entscheidung«
bezeichnete die Deutsche Presseagentur in dieser Woche die Mitteilung der EZB, demnächst keine
500-Euro-Scheine mehr auszugeben, um illegale Aktivitäten zu
erschweren. Dem Ereignis muss
also eine ebenso große Bedeutung
beigemessen werden wie etwa der
Öffnung der innerdeutschen
Grenze. Mindestens. Für mich
sind die Konsequenzen jedenfalls
gravierend. Ich werde mir jetzt
zweimal überlegen, ob ich meine
Ersparnisse in die Terrorfinanzierung investiere oder das Geld lieber anderswo anlege. Auch beim
Geldwaschen ist weit weniger
möglich, wenn man die Siebeneinhalb-Kilo-Trommel nur noch
mit läppischen Zweihundertern
befüllen kann. Bleibt wenigstens
der Waschsalon? Wohl kaum.
Kritiker der 500er-Abschaffung
verweisen zwar darauf, dass die
Geldwäsche ohnehin meist über
»Scheinfirmen« abgewickelt werde, bedenken dabei aber nicht,
dass zumindest der Betrieb einer
500-Euro-Scheinfirma bald nicht
mehr möglich ist. mha
ISSN 0323-3375
Nach der Auszählung der Stimmen in einem Londoner Wahlzentrum
Foto: AFP/Justin Tallis
London. Die britischen Regionalund Kommunalwahlen waren
zum ersten wirklichen Test für den
linken Labour-Chef Jeremy Corbyn erklärt worden. Den Sozialdemokraten wurden deutliche
Verluste vorausgesagt. Doch ganz
so schwach hat Labour doch nicht
abgeschnitten. Größter Lichtblick
ist der Sieg in London. Nach acht
Jahren Regentschaft des Konservativen Boris Johnson übernimmt
mit Sadiq Khan nicht nur ein Linker, sondern auch ein Anwalt mit
Migrationshintergrund das Amt
des Oberbürgermeisters. Der Sohn
eines Busfahrers aus Pakistan war
für die Hauptstadt des Vereinigten Königreich, die stolz auf ihr
Image als Schmelztiegel ist, offenbar der perfekte Kandidat.
Nach Auszählung von 80 Prozent
der Stimmzettel hatte Khan laut
Behörden einen Vorsprung von
neun Prozent vor dem Tory-Kandidaten Zac Goldsmith.
Während sich die Auszählung
auch in Nordirland hinzog, konnten in Schottland und Wales schon
am Mittag die Ergebnisse gefeiert
werden. In der walisischen Nationalversammlung bleibt Labour
stärkste Kraft. Die Partei verlor jedoch mehr als sieben Prozentpunkte, während die EU-feindliche United Kingdom Independence Party um über zwölf Prozentpunkte zulegte und damit erstmalig Mandate in dem Landesteil
errang. In Schottland feierte Nicola Sturgeon, Chefin der Scottish
National Party, ihr Abschneiden als
»historischen Sieg«, obwohl sie die
absolute Mehrheit verlor. Die Tories konnten in Schottland am
stärksten zulegen und Labour in
seiner einstigen Hochburg im
Kampf um Platz zwei schlagen.
40 Millionen Bürger waren am
Donnerstag zu den Wahlen aufgerufen. In sieben Wochen dürfen viele von ihnen schon wieder
abstimmen, wenn die konservativ
geführte Regierung von Premier
David Cameron über die EU-Mitgliedschaft Großbritanniens entscheiden lässt. nd
Seite 7
Nur das Parlament in Athen steht nicht still
Generalstreik in Griechenland vor der Abstimmung der Rentenreform und neuer Steuererhöhungen
Am Ende geht es ganz schnell:
Noch am Wochenende soll das
griechische Parlament der Steuer- und Rentenreform zustimmen. Die Gewerkschaften reagierten mit Streiks.
Von Anke Stefan, Athen
Seit Freitagmorgen ist Griechenland im Generalstreik: öffentliche
Einrichtungen bleiben geschlossen, in vielen Unternehmen wird
nicht gearbeitet. Der Nahverkehr
ruht, Schiffe bleiben in den Häfen.
Nur die Flugverbindungen sind
vom Ausstand ausgenommen, zu
dem die großen Gewerkschaftsverbände aufgerufen haben.
Auf Kundgebungen und Protestdemonstrationen wenden sich
die Streikenden gegen die als
»Guillotine« für den Sozialstaat
bezeichneten Pläne über weitere
Steuererhöhungen und Ausgabenkürzungen, mit denen Griechenland seinen Haushalt konsolidieren will. Unter anderem sind
eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 23 auf 24 Prozent, Beitragsanhebungen für die Rentenversicherungen und eine Minderung der Altersbezüge künftiger
Ruheständler vorgesehen. »Solange die Regierung die Gesellschaft und ihre Bedürfnisse ignoriert, solange sie auf Maßnahmen
beharrt, die die ohnehin gequälten Lohnabhängigen ins Elend
treibt«, werde man »die Antwort
mit permanenten Kämpfen auf der
Straße« erteilen, heißt es im Aufruf des Gewerkschaftsdachverbandes GSEE.
Auch am Sonntag, dem Tag der
Parlamentsabstimmung über die
Maßnahmen, soll weiter demonstriert werden: Auf ihn hatten
die Gewerkschaften bereits vor
Bekanntwerden des vorgezogenen
Votums den wegen des Ostersonntags am 1. Mai ausgefallenen
Arbeiterkampftag verlegt.
Die Regierung verteidigt die
Maßnahmen als »erfolgreichen
Abschluss der Verhandlungen mit
den Institutionen«. Sie »sichern die
Renten, schützen die sozial
Schwachen und verteilen die Lasten aus Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen
gleichmäßi-
»Ich bin stolz auf die
in der Rentenreform
angelegten Gleichheitsgrundlagen.«
Giorgos Katrougalos,
Arbeitsminister
ger«, heißt es in einer Mitteilung
von Freitag. Arbeitsminister Giorgos Katrougalos (SYRIZA) äußerte, er sei »stolz auf die in der Rentenreform angelegten Gleichheitsgrundlagen«.
Die größte und konservative
Oppositionspartei Nea Dimokratia
verurteilte die Maßnahmen als
»untragbar«, da »jeder Bürger damit 60 Prozent seiner bereits ge-
minderten Einnahmen an den
Staat abtreten muss«. Sprecher Giorgos Koumoutsakos kündigte an,
seine Fraktion werde gegen die
Reformvorlage stimmen, da sie
»wachstumsschädlich« seien. Ministerpräsident Alexis Tsipras verfügt nur über eine knappe Mehrheit von 153 der insgesamt 300
Abgeordneten im Parlament.
Die Regierung in Athen will mit
der vorgezogenen Abstimmung
offenbar auf die europäischen
Gläubiger und den Internationalen Währungsfonds einwirken,
rasch neue Kredite freizugeben.
Griechenland muss im Juli weitere Rückzahlungen an die Gläubiger leisten. Für Montag ist ein
Treffen der Euro-Finanzminister
geplant. Dabei wird es auch um das
»Sparpaket auf Vorrat« gehen, das
die Gläubiger zusätzlich fordern.
Der Chef des Euro-Rettungsschirms ESM, Klaus Regling, verteidigte es laut dpa als eine »Art
Versicherung«. Die Regierung Tsipras lehnt weitere Kürzungen ab.
Genf. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Raad Al Hussein, will die
Luftangriffe auf Flüchtlingscamps in NordSyrien mit Dutzenden Opfern untersuchen.
Es handele sich wahrscheinlich um Kriegsverbrechen, erklärte der Hochkommissar am
Freitag in Genf. Seine Behörde und andere
Organisationen würden alles Mögliche unternehmen, um die Verantwortlichen für die
»abscheulichen« Taten zu überführen.
Da die Zeltsiedlungen mit Bürgerkriegsflüchtlingen schon seit Wochen existierten
und aus der Luft gut zu erkennen gewesen
seien, könne ein Unfall praktisch ausgeschlossen werden. Vielmehr müsse von gezielten Aktionen ausgegangen werden, betonte der Jordanier Zeid. Erste Berichte hatten die Luftwaffe der Assad-Regierung für die
Attacken an der syrisch-türkischen Grenze
verantwortlich gemacht. Auch UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien prangerte die
Angriffe an und verlangte Ermittlungen. Die
Schuldigen müssten zur Rechenschaft gezogen werden. Agenturen/nd
Seiten 2 und 7
Istanbul: Schüsse
vor dem Gericht
Attentat auf den angeklagten
Chefredakteur von »Cumhuriyet«
Istanbul. Beim Prozess gegen regierungskritische Journalisten in der Türkei ist ein Anschlag auf den angeklagten Chefredakteur der
Zeitung »Cumhuriyet«, Can Dündar, verübt
worden. Dündar sei unverletzt geblieben, berichtete eine Augenzeugin und Anwältin am
Freitag. Auf den Journalisten sei am Freitag
vor dem Gerichtsgebäude in Istanbul geschossen worden. Der Sender CNN berichtete, der Angreifer habe »Du bist ein Vaterlandsverräter« gerufen. Das Attentat geschah,
als das Gericht gerade über das Urteil in dem
Verfahren beriet. Ein Reporter, der von dem
Prozess berichten wollte, sei durch einen
Streifschuss leicht verletzt worden. Auf Fernsehbildern war zu sehen, wie der Attentäter
widerstandslos festgenommen wurde.
Dündar selbst sagte zu dem Vorfall, er habe vor dem Gericht auf die Urteilsverkündung gewartet. »Ich habe nur gesehen, dass
er die Waffe auf mich richtet.« Hintergrund
der Anklage ist ein Bericht über angebliche
Waffenlieferungen der Türkei an Extremisten in Syrien. dpa/nd
Absage an mehr
Transparenz
Bundestagsausschüsse werden
nicht generell öffentlich
Berlin. »Demokratie braucht Transparenz« –
so prangte es vor wenigen Tagen bei einer
Greenpeace-Aktion zum Freihandelsabkommen TTIP am Bundestag. Dessen Arbeit soll
nach dem Willen der Großen Koalition allerdings nicht transparenter werden. Die Oppositionsforderung, Ausschüsse grundsätzlich
öffentlich tagen zu lassen, hat der Geschäftsordnungsausschuss des Parlaments mit der
Koalitionsmehrheit abgelehnt, wie LINKEParlamentsgeschäftsführerin Petra Sitte am
Freitag sagte. LINKE und Grüne hatten sich
dafür eingesetzt, dass die Ausschussberatungen in Umkehrung der bisherigen Praxis
grundsätzlich öffentlich sind und bei Bedarf
den Ausschluss der Öffentlichkeit beschließen.
Der Parlamentsgeschäftsführer der Unionsfraktion, Bernhard Kaster (CDU), begründete die Ablehnung damit, dass totale Transparenz nicht zu einem Maximum an Demokratie führe. »Unsere Aufgabe ist es, den Ausgleich der verschiedenen Interessen sicherzustellen«, so Kaster. Dafür sei Nicht-Öffentlichkeit eine wichtige Voraussetzung. AFP/nd