Arbeitspapier 6

Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz
GRUNDZÜGE DES VERFASSUNGSPROZESSRECHTS
Sommersemester 2016
§6
Tatsachenfeststellung durch das Bundesverfassungsgerichts
Ein besonderes Problem des Verfassungsprozessrechts besteht in der Dominanz von
generellen Tatsachen. Wenn das Gericht abstrakt-generelle Tatsachen (etwa im Rahmen der
Verhältnismäßigkeitskontrolle) zu bewerten hat, muss es über Makrosachverhalte urteilen, die
eigentlich eher den Horizont des Gesetzgebers bilden. Der Begriff der „legislative facts“
(Kontrast zu einzelfallbezogenen „adjudicative facts“ bzw. „administrative facts“) bringt dies
treffend zum Ausdruck. Generelle Tatsachen heben sich von den auf konkrete Sachverhalte
und zudem meist individualisierte Rechtsverhältnisse begrenzten Beweisthemen signifikant
ab.
Ein Verzicht auf jede Überprüfung gesetzlicher Prognosen und Tatsachenfeststellungen würde
dazu führen, dass Kontrolle vielerorts praktisch leer liefe und das BVerfG hierdurch seinen
verfassungsrechtlich vorgesehenen Kontrollauftrag gegenüber dem Gesetzgeber verfehlen
würde.
Das Verfassungsprozessrecht trägt dem Rechnung: Nach § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG
erhebt das BVerfG „den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis“. Nach § 30
Abs. 1 Satz 1 BVerfGG entscheidet das Gericht zudem in geheimer Beratung nach seiner
freien, aus dem Inhalt der Verhandlung und dem Ergebnis der Beweisaufnahme geschöpften
Überzeugung. Das BVerfG ist also nicht auf eine reine Rechtskontrolle beschränkt, sondern
hat auch die relevanten Tatsachen durch Beweiserhebung zu kontrollieren.
Dies beantwortet jedoch noch nicht die Frage, wann Beweis erhoben werden muss, sprich: in
welchem Kontext es aus verfassungsrechtlicher Sicht auf Tatsachen ankommt. Hierzu ist
Folgendes festzustellen:
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Das Gericht erhebt Beweis hinsichtlich der prozessualen Tatsachen, also etwa über die
Prozessfähigkeit einer Partei oder über die fristgemäße Einlegung eines Rechtsbehelfs.
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Das Gericht erhebt grundsätzlich keinen Beweis über die konkret-individuellen
Tatsachen, wenn ein gerichtliches Verfahren vorausgegangen ist. Auf Grund des
Gebotes der Rechtswegerschöpfung bei Verfassungsbeschwerden (§ 90 Abs. 2 Satz 1
BVerfGG) kann es sich auf die Vorermittlungen durch die Fachgerichte stützen. § 33
Abs. 2 BVerfGG bestimmt: „Das Bundesverfassungsgericht kann seiner
Entscheidung die tatsächlichen Feststellungen eines rechtskräftigen Urteils zugrunde
legen, das in einem Verfahren ergangen ist, in dem die Wahrheit von Amts wegen zu
erforschen ist.“ Denn die Beweiserhebung im Einzelfall ist Sache der Fachgerichte.
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Gegenüber dem Gesetzgeber (und ggf. der Regierung) kommen schließlich die
funktionalen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Tragen. Legislative
facts sind zuvörderst vom Gesetzgeber selbst zu beurteilen. Das Gericht begnügt sich
mit einer Plausibilitätskontrolle. Es stellt auch keine besonderen Anforderungen an die
verfahrensrechtliche Aufarbeitung des Sachverhalts durch den Gesetzgeber. Eine
Folge hiervon war freilich wiederum eine eher geringe Motivation des Bundestags, in
Verfahren, bei denen die Verfassungsmäßigkeit von Bundesgesetzen zur Prüfung
stand, substantiiert vor allem zu den dem angegriffenen Gesetz zugrunde gelegten
generellen Tatsachen Stellung zu nehmen. Wo die verfassungsgerichtlichen
Prüfungsmaßstäbe in jüngerer Zeit angezogen wurden (z. B. im Rahmen des Art. 72
Abs. 2 GG sowie, aber eher selektiv, punktuell und unsystematisch, in
grundrechtlichen Fragen), scheint umgekehrt zugleich auch vermehrt eine inhaltliche
Auseinandersetzung mit den relevanten Tatsachen und ggf. deren Würdigung durch
das Parlament stattzufinden, jedenfalls soweit kontroverse Fragen von hoher
politischer Tragweite betroffen sind:
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BVerfGE 106, 62 (103 ff.) – Altenpflege;
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BVerfGE 108, 282 (290 ff.) – Kopftuch;
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BVerfGE 109, 133 (147 ff.) – Sicherungsverwahrung;
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BVerfGE 109, 279 (297 ff.) – Akustische Wohnraumüberwachung;
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BVerfGE 110, 141 (149 ff.) – Kampfhunde;
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BVerfGE 111, 10 (20 ff.) – Ladenschluss;
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BVerfGE 112, 226 (236 ff.) – Juniorprofessur/Studiengebührenverbot;
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BVerfGE 113, 167 (188 ff.) – Risikostrukturausgleich;
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BVerfGE 115, 118 (128 ff.) – Luftsicherheitsgesetz.