Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das

Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Ingredients of Democracy
Der Traum von einem neuen Griechenland
Feature von Rainer Schildberger
Produktion: rbb/DLF 2016
Redaktion: Ulrike Bajohr
Erstsendung: Freitag, 01.07.2016 , 20.10 - 21:00 Uhr
Regie: Friederike Wigger
Als Erzähler: Daniel Minetti
In weiteren Rollen: Robert Frank und Ilka Teichmüller
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©
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Musik Locomondo: Magico Chali
Atmo Markt Athen
Pavlos Georgiadis
So we’re at the fresh-market in our neighbourhood … I think in ten years we will be laughing about the fact that we are sourcing from places like supermarkets.
Pavlos/Übersetzer
Das ist unser Markt hier in der Nachbarschaft. Hier gehe ich jeden Freitag hin. Bevor ich
irgendwas anderes mache. Mit 15 Euro kaufe ich Essen für die ganze Woche. Du musst
nur die Jahreszeit im Blick haben und die Händler kennen. Zum Supermarkt gehe ich allenfalls, um Klopapier zu besorgen. In zehn Jahren werden wir darüber lachen, dass wir
mal in sowas wie Supermärkten eingekauft haben.
Atmo Markt Einkauf
Stephania Xydia
When I tasted my first tomato, because it was exactly on the days of the referendum …
but when you taste them, they’re fucking amazing.
Stephania/Übersetzerin
Am Tag des Referendums, als alle Angst hatten vor dem Grexit und sich gegenseitig
Vorwürfe machten, hab ich meine erste selbstgezüchtete Tomate probiert. Wow, meine
erste eigene Tomate. Meinem Vater schrieb ich: Die Tomaten, die du in Luxemburg bekommst, sind perfekt. Meine sehen nicht so toll aus. Die wachsen auf einer kleinen Veranda in Athen, aber wenn du reinbeißt, haut´s dich um.
Musik Locomondo: Diploreggaes
Ansage
Ingredients of Democracy
(Titel griechisch)
Der Traum von einem neuen Griechenland
Feature von Rainer Schildberger
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Atmo Markt
Szene: Pavlos Georgiadis und Marktleiter
Pavlos/Übersetzer
Am Sonntag gibt’s auf dem Kotziá-Platz einen großen Eintopf. 5000 Essen gratis aus
Gemüseresten.
Sotiris/Übersetzer
Für wen?
Pavlos/Übersetzer
Das ist offen für alle. Habt ihr hier was übrig, was ihr nicht mehr braucht? Aber nichts Faules, ja, nur so das Krumme, das keiner will, verstehst du?
Sotiris/Übersetzer
Klar. Aber sag mal, der da, dein Begleiter mit dem Mikro, was hat der hier zu suchen?
Pavlos/Übersetzer
Er macht eine Dokumentation über mich, über all meine politischen Aktivitäten und die
Veranstaltung am Sonntag. Gleich habe ich ein Treffen mit den Organisatoren.
Sotiris/Übersetzer
Versteh mich nicht falsch. Die Lage ist schwierig. Die Kollegen fragen sich, welcher Sender ist denn das? Vor kurzem waren welche von „TVMega“ hier, wollten wissen, ob wir
auch Quittungen ausstellen. Die haben wir rausgeschmissen. Hinterher gab´s ne Menge
Ärger.
Stephania Xydia
Insecurity is something that everyone feels around us … couple of months maybe.
Stephania/Übersetzerin
Jeder ist verunsichert. Nichts kannst du längerfristig planen. Alles ist fraglich. Du lebst von
Tag zu Tag, überschaust bestenfalls die nächsten Monate.
Szene: Pavlos Georgiadis und Marktleiter
Pavlos/Übersetzer
Wir müssen was tun, nicht nur gegen Lebensmittelverschwendung. Das Ausland will wi ssen, was wir hier machen mit der Krise.
Sotiris/Übersetzer
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Oh Mann! Was da alles passiert ist.
Pavlos/Übersetzer
Also hast du nun was für mich? Müssen ja keine Unmengen sein. Du kannst auch googeln, um zu sehen, was ich sonst so mache. Ich bin Pavlos Georgiadis.
Sotiris/Übersetzer
Geht schon klar, Junge, bleib gesund. Gott gebe dir Kraft.
Atmo Markt
Pavlos Georgiades
I just confirmed 300 kilos of fruits for our event … the economy goes down, community is
on the rise.
Pavlos/Übersetzer
300 Kilo Lebensmittelreste für unsere Veranstaltung klar gemacht, und seine Telefonnummer habe ich auch. Stell Dir vor, was wir verändern könnten, würden wir alle diese
Vorgänge vernetzen. Vom Bauernhof, zum Markt, in die Küche und in den öffentlichen
Raum. Woher ich mein Essen beziehe, ist eine politische Tat. Erst vor zwei Tagen habe
ich zusammen mit Freunden 5 Kilo Wildpilze aus einer bestimmten Region geordert. Wir
sind ein Netzwerk von Gleichgesinnten, das sich in den letzten Jahren gebildet hat. Die
Wirtschaft ging runter, und die Gemeinschaft blühte auf.
Musik Locomondo: Chthes
Atmo Signalhorn, Läuten und Ansage Fähre
Erzähler
Für mich beginnt die Geschichte Monate zuvor auf der griechischen Insel Folégandros.
Ich frage die Leute, wie sie die Situation erleben. Einer sagt: Wir können nicht jahrelang
nur über die Krise reden. Das hält keiner aus. Wir müssen nach vorne schauen.
Pavlos treffe ich auf der Fähre nach Athen. 33 Jahre alt ist er, ein stämmiger, impulsiver
Mann mit einer ungeheuren Energie. „Tomorrow“ steht auf seinem T-Shirt. Auch er war
gerade zu Besuch auf der Insel – mit einer Mission.
Pavlos Georgiades
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So part of my job is … And I think it’s the biggest challenge for our generation is to reconciliate with the […] of the land […] and in the cities.
Pavlos/Übersetzer
Ich versuche, direktere Verbindungen zwischen Bauernhöfen und Verbrauchern anzuregen. Das Schöne daran ist, ich komme auf kleine Inseln und entdecke ein ganzes Ökosystem an Wissen und Geschmack. Gestern z.B. war ich bei einem 78-jährigen Käseproduzenten auf Folégandros. Der hat mir gezeigt, wie er Käse macht. Die größte Herausforderung unserer Generation liegt darin, die Menschen in der Stadt und auf dem Land wieder miteinander zu verbinden.
Stephania Xydia
Basicly we develop social-innovation projects … specific problems.
Stephania/Übersetzerin
Wir entwickeln innovative Projekte, in denen es darum geht, wie sich Bürger politi sch engagieren können. Wir bringen Leute miteinander ins Gespräch und suchen nach Möglichkeiten, sich politisch einzumischen.
Atmo Schiff innen
Erzähler
Stephania, Pavlos’ Freundin, ist sechs Jahre jünger. Beide, Stephania und Pavlos, haben
lange im Ausland gelebt. Obwohl sie gute Jobs in Aussicht hatten – Pavlos als Agrarbiologe in Deutschland, Stephania als Kulturmanagerin in England – sind sie vor einiger Zeit
in ein desolates Griechenland zurückgekehrt.
Stephania Xydia
I remember that moment when I said … And I wanted to recover what’s going on.
Stephania/Übersetzerin
Ich erinnere mich an den Moment, an dem ich mir sagte, egal was sie dir alle erzählen,
das ist die Chance herauszufinden, was ich vom Leben wirklich will. Zu der Zeit war Gri echenland schon ziemlich am Brodeln. Aber ich wollte herausfinden, was da los ist
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Pavlos Georgiadis
There are German journalists that come and because we don’t really tell them the story
they’re prepared to come they won’t even interview you.
Pavlos/Übersetzer
Es gibt deutsche Reporter, die fragen gar nicht weiter, wenn sie merken, wir sagen ihnen
nicht das, was sie hören wollen.
Stephania Xydia
And you have this journalists that come and they have the story with them … No, Greeks
were active citizens.
Stephania/Übersetzerin
Die kommen mit einer fertigen Geschichte: Ah, diese jungen Leute. Dank der Krise sind
die endlich wieder kreativ. Junge Frauen arbeiten für Demokratie. Das Sparprogramm
bringt´s. Die Griechen werden aktiv. Nein! Wir Griechen waren immer fleißige Leute.
Musik Areti Ketime: Hen
Atmo Sirene
Erzähler
Ein halbes Jahr und einen Krisensommer später bin ich in Athen. Seit Studentenzeiten
reise ich regelmäßig nach Griechenland. Meistens auf die Inseln. Falls möglich, versuche
ich Athen zu umgehen. Zu hässlich und brutal erscheint mir diese Stadt mit ihrem Lärm,
dem Dreck und zubetonierten Leben. Doch nun werde ich für einige Zeit hier sein. Auf der
Suche nach Visionären.
Atmo Alte Bettlerin
Erzähler
Als ich aus der U-Bahn steige, bettelt eine alte Frau um etwas Geld für Essen. Im angrenzenden kleinen Park sitzen Leute auf Bänken und starren vor sich hin. Automatisch
halte ich Ausschau nach Krisensymptomen. Die Nachrichten vom griechischen Elend und
Verfall reisen mit.
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Stephania Xydia
Arriving to Greece I was often very much overwhelmed by the chaos … have already
started Imagine the city.
Stephania/Übersetzerin
Als ich ankam, war ich total überwältigt vom Chaos. Dem Chaos in den Straßen, dem
Durcheinander auf den Ämtern und überall. Mir fehlten Freunde und Leute in meinem Alter, mit denen ich arbeiten konnte. Dann hab ich, ganz blöd, einfach auf Facebook verschiedene Gruppen angeschrieben. Und eine, die mit Demokratie zu tun hatte, antwortete. So kam ich dazu. Die arbeiteten gerade an einem Projekt namens: Imagine the city.
Atmo Straße
Erzähler
Imagine the City. Wie die Stadt aussehen könnte. Petaki, eine kleine, heruntergekommene Straße im alten Handwerkerviertel von Athen, soll wiederbelebt werden. Mittels einer
Licht-Installation. Die Leute werden aufgerufen, dafür alte Lampen zu spenden. CocaCola wird als Sponsor gewonnen. Die Firma fährt gerade eine Kampagne: “Reasons to
believe in a better world.“ Ein bisschen Brause für ein bisschen Frieden. 150 Lampen
kommen zusammen. Kuriositäten vom Kronleuchter bis zur umgebauten Gießkanne hängen bald an Drähten über der Straße. Machen Licht.
Stephania Xydia
Especially at night it was very impressive in the beginning to see the transformation … the
municipality started turning off the switch.
Stephania/Übersetzerin
Die Verwandlung war unglaublich. Sofort drei neue Geschäfte, Leute zogen wieder her.
Aber es gibt eben keine Garantie für Nachhaltigkeit. Der Sponsorenvertrag lief aus. Wir
hatten auch kein Geld, um die Sache aufrechtzuerhalten. Und die Stadt hat dann einfach
den Strom abgeschaltet.
Atmo Lampenstraße, Stühle
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Erzähler
Drei Jahre ist das jetzt her. Viele Lampen sind kaputt, schaukeln zerfetzt im Wind. Nachts
werden sie nicht mehr angeschaltet. Die Geschäfte sind längst wieder geschlossen. Zwei
Männer laden alte Stühle auf einen Pick-up.
Stephania Xydia
And for us it’s also a big lesson about how when you start doing … Nobody will do it for
you.
Stephania/Übersetzerin
Das war eine Lektion. Du brauchst einfach einen Plan, wie es weitergeht. Es war aber
trotzdem ein Erfolg, und ich bin stolz darauf. In den schwärzesten Momenten Athens ging
ein Licht an. Und jeder weiß davon. Das hat uns manche Türen geöffnet. Oft ist es ja
schwer zu beschreiben, was wir eigentlich machen. Dann sage ich: Es geht um Kreativität
im städtischen Raum, darum, sich zu beteiligen. Eine kurze Botschaft: Du bist derjenige,
der Licht ins Dunkle bringt. Es wird kein anderer für dich tun.
Musik Locomondo: Ghetto Tourist
Erzähler
Als Pavlos 2012 nach Griechenland zurückkehrt, dreht er erst einmal ein Video. Darin
fährt er in einer gelben Ente übers Land, durch Olivenhaine im Sonnenuntergang, an sanften Hügelketten entlang, trifft auf aparte Schneckenzüchterinnen und sonnengebräunte
Weinbauern. Doch was zunächst wie ein Werbefilm einer griechischen Tourismusagentur
anmutet, ist ein brennender Appell an die Politiker im In- und Ausland, junge griechische
Farmer und Kleinbauern zu unterstützen.
Atmo Video “farming on crisis”, Trailer
Pavlos/Übersetzer
Nur 7% der europäischen Bauern sind unter 35 Jahre alt. Denn auf dem Land ist es trostlos. Doch in Griechenland ist das anders. Hier ziehen wegen der Krise immer mehr Menschen aufs Land.
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Erzähler:
Menschen wie Maria und Penny Vlachou, die Schwestern sind dreißig und zweiunddreißig
Jahre alt, sind aufs Land gezogen und haben einen Neuanfang als Schneckenzüchteri nnen gewagt; ein neues Geschäftsmodell in der griechischen Landwirtschaft, seit immer
klarer wird, dass der Anbau von Tabak, Baumwolle oder Oliven künftig wegen ausbleibender Subventionen nicht mehr viel Gewinn abwerfen wird. Ihr Plan ging auf.
Szene Befragung
Maria Vlachou/ Übersetzerin
Wir produzieren vor allem für andere Länder. 70 Prozent unserer Erzeugnisse exportieren
wir in die EU, 30 Prozent sind für den griechischen Markt bestimmt. Wir versuchen ständig, unseren Export zu steigern.
Pavlos/Übersetzer
Unterstützt euch die Regierung dabei?
Maria Vlachou/ Übersetzerin
Die meisten Förderpläne der Regierung richten sich an Leute, die bereits Farmer sind, für
uns ist es sehr schwierig, Unterstützung von der Regierung zu bekommen.
Pavlos/ Übersetzer
Habt ihr bereut, diesen Schritt aufs Land gemacht zu haben?
Maria Vlachou/Übersetzerin
Nein, wir sind sehr froh darüber. Ein Grundstein unseres Erfolgs liegt auch darin, dass wir
internationale Erfahrung haben und viele Fremdsprachen sprechen.
Erzähler
Auch wenn in den letzten Jahren immer mehr junge Großstädter ihr Glück als Kleinbauern
auf dem Land versuchen – genügend, um die Zukunft der griechischen Landwirtschaft zu
sichern, sind es nicht. Mit seiner unlängst gegründeten Beratungsfirma „We deliver taste“
will Pavlos deshalb Kleinbauern in Griechenland, aber auch in der gesamten EU, mit
Gastronomen verbinden. Gegründet hat er das Unternehmen gemeinsam mit Freunden
aus Tschechien und Italien.
Atmo Markt
Pavlos Georgiadis
You know is’s way easier for producers to cooperate … The idea is to create the fair trade
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challenge.
Pavlos/Übersetzer
So ein Zusammenschluss erhöht den Wert und die Menge der Produkte. Außerdem
kommen die Farmer leichter in Kontakt mit den Verbrauchern. Und die wiederum leichter
an bessere Ware zu einem guten Preis. Das ist fairer Handel.
Pavlos Georgiadis
And when people connect the different processes from ‚where does my food come from‘
…
Pavlos/Übersetzer
Und wenn die Leute endlich fragen, woher kommt mein Essen und wer entscheidet darüber, weckt das womöglich eine ganze Gesellschaft auf.
Musik Locomondo: Rembetiskunk # 9
Atmo Wohnung, Kochen
Stephania/Übersetzerin
Heute gibt‘s Auberginen mit Kartoffeln, Zwiebeln, Tomatensoße und Kräutern. Und einen
Salat dazu, den wir Glistrida nennen. Hier sagen wir, wenn du davon isst, kommst du ins
Reden. Deine Zunge wird flinker. Und da wir ja viel zu besprechen haben, essen wir reichlich davon.
Erzähler
Pavlos und Stephania wohnen in einem hellen Zwei-Zimmer-Apartment unweit der Nationalbibliothek. Mit Sofaecke, Bücherschränken und einem großen weißen Esstisch. Es ist
gemütlich hier mit all dem Krimskrams und den Familienfotos. Während Stephania den
Eintopf zubereitet, sitzt Pavlos noch am Laptop und geht den Ablauf der nächsten Tage
durch. Da muss haufenweise Gemüse geschnitten werden für die bevorstehende Speisung der 5000 auf dem Platz vor der Stadtverwaltung. Seit Wochen plant er diese Aktion
gegen die Verschwendung von Lebensmitteln. Die Stadt soll erkennen, welches Potential
darin liegt, vor allem in Zeiten knapper Sozialkassen.
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Atmo Skype
Erzähler
Vor dem Essen noch schnell eine Skype-Gespräch mit den anderen Aktivisten in einem
Café. Pavlos wirkt nervös. Noch immer ist nicht klar, ob genug Töpfe bereit stehen werden
und wer die öffentliche Veranstaltung moderiert. Stephania hat den ganzen Tag an einem
Fundraising-Seminar teilgenommen. Sie ist müde. Normalerweise ist Pavlos für das Kochen zuständig. Aber die aktuellen Erfordernisse haben immer Vorrang.
Atmo Wohnung
Stephania Xydia
The last half year was a lot about a hamster in an experiment without knowing how it will
end … that is so fluid that it drowns you. It’s very difficult to keep swimming, swimming,
swimming.
Stephania/Übersetzerin
Das letzte halbe Jahr fühlte ich mich wie ein Hamster in einer Versuchsanordnung. Du
hast keine Ahnung, was kommt. Checkst gleichzeitig deine Möglichkeiten. Das ganze
Drumherum ist schwierig. Ob du Geld abheben willst oder Einnahmequellen für den
nächsten Monat suchst. Alles ändert sich ständig. Und es ist unglaublich schwer, nicht
unterzugehen, oben zu bleiben, immer nur zu schwimmen.
Musik Areti Ketime: A Winter Song
Atmo Wohnung Essen
Erzähler
Zwei Jahre ist es her, dass sich Pavlos und Stephania kennengelernt haben, in Thessaloniki bei einer sogenannten TEDx-Conference. Einer weltweit agierenden Ideenbörse, auf
der herausragende Konzepte in 15 Minuten vorgestellt werden. Pavlos sprach dort über
die neue Landwirtschaft unter dem Motto: Forward to the basics. Stephania präsentierte
ihr Modell Demokratie 2.0.
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Pavlos Georgiadis
I think I was in love with Stephania from the first moment … but I’m not going to be absorbed by this corrupt system that is running the things.
Pavlos/Übersetzer
Für mich war es Liebe auf den ersten Blick. Stephania sagte genau das, was auch ich im
Kopf hatte. Bevor ich nach Griechenland kam, lebte ich einige Monate in China, im Wald
in der Stille und habe kaum gesprochen. Und dann kam ich zurück und erlebte, wie hier
alles in Lichtgeschwindigkeit auf die Wand zuraste. Ich sagte mir, ich will helfen, ich will
Fuß fassen, aber ich werde mich nicht von diesem korrupten System vereinnahmen lassen.
Stephania Xydia
And since we are together I have gained confidence in myself a lot … a community of
friends and other couples that are similar.
Stephania/Übersetzerin
Seit wir zusammen sind, hab ich viel mehr Selbstvertrauen. Ich bin nicht länger der einsame Hamster in dem Spiel. Außerdem haben wir inzwischen viele Freunde, auch andere
Paare, die ganz ähnlich ticken wie wir.
Pavlos Georgiadis
This is generating a new sense of responsibility. All this are new to me because I as I say
was a globaltrotting traveler. I didn’t really want to root somewhere.
Pavlos/Übersetzer
Diese Verantwortung ist völlig neu für mich. Ich war so ein Weltenbummler, der eigentlich
nirgendwo Wurzeln schlagen wollte.
Stephania Xydia
Our life together is very much guided by this activism … because I value more and more
this staying home and creating a sense of home.
Stephania/Übersetzerin
Aktionen, Reisen, Projekte. Unser Leben ist ein ziemliches Hin und Her. Und wenn Pavlos
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nicht zuhause ist, bleibt der Kühlschrank leer. Wir sprechen uns dann oft auf Skype. Neuerdings sage ich auch schon mal eine Reise oder Einladungen zu Konferenzen ab, weil
mir dieses Zuhause-Sein wichtiger wird, auch das Gefühl, ein Zuhause zu haben.
Pavlos Georgiadis
… and to do three jobs at the same time is not good to be forever.
Pavlos/Übersetzer
… drei Jobs zur gleichen Zeit haben. Das geht nicht ewig so weiter.
Stephania Xydia
We’re not registred as unemployed but on the other hand we don’t have a salary … in a
way you have to compromise with that. And there are many days that I feel that I cannot
handle it any more.
Stephania/Übersetzerin
Wir sind nicht arbeitslos gemeldet, haben aber auch kein festes Einkommen. So geht es
Tausenden. Die sind Freiberufler, können sich aber die Gebühren und Steuern nicht lei sten und arbeiten schwarz. Du musst einfach überleben. Wir haben auch keine Krankenversicherung. Ich arbeite jetzt seit vier Jahren. Für meine Rente zählt das nicht. Damit
musst du erstmal klarkommen. An manchen Tagen halte ich das kaum noch aus.
Pavlos Georgiadis
I try to be more preventive. I brush my teeth …
Pavlos/Übersetzer
Ich putze mir einfach besser die Zähne. Ich kann auch nicht ständig mit der Angst vor
Zahnproblemen leben. Ohne finanzielle Polster bist du natürlich allem ausgeliefert. Das ist
eben das Risiko. Ich hab allerdings meine Grenzen, wieviel Entwürdigung ich ertrage.
Stephania Xydia
And then something happens and I feel energized again to continue … as my dad would
say.
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Stephania/Übersetzerin
Und dann passiert wieder etwas, und ich hab die Power weiterzumachen, was zu wagen.
Oder vielleicht die Aussicht auf eine richtige Arbeit, wie mein Vater sagen würde.
Musik Palyrria: Elektrokeras
Atmo Varvakeios Square, Fegen
Erzähler
Ich sitze am Varvákeiosplatz, gleich gegenüber der großen Markthalle und esse einen
Pfirsich. Der bittersüße Geschmack ruft Bilder meiner ersten Griechenlandreise hervor. Es
ist 1981, das Land ist arm. Es importiert noch keine Tomaten aus Belgien und andere Geschmacklosigkeiten.
Wieder angekommen in der Gegenwart, fallen mir die Drogenhändler auf und die Obdachlosen zwischen ihren Habseligkeiten. Und auch, dass der Platz fünf Meter über dem Straßenniveau liegt, getragen von einem Betonplateau, mit ein paar trostlosen Gebüschen
und einem leerstehenden Pavillon. Auch die umliegenden Geschäftshäuser stehen zum
größten Teil leer.
Stephania Xydia
This square actually it’s considered the roof of a parking … most people have never been
here.
Stephania/Übersetzerin
Der Platz ist eigentlich das Dach eines Parkhauses. Oben drauf steht ein kleines Gebäude, das der Bürgermeister irgendeinem Cousin illegal zugeschanzt hat. Da war kurz ein
Nachtclub drin, jetzt steht es leer. Ein riesiger Fehlschlag der Stadtplanung. 2004 haben
die das angerichtet, kurz vor den Olympischen Spielen. Die meisten Leute waren noch nie
hier, der Platz existiert gar nicht mehr in ihren Köpfen.
Atmo Fliegender Händler Megaphon-Ansage
Erzähler
Monate lang waren Stephania und ihre Mitstreiterinnen von „Place Identity“ rund um den
Platz unterwegs. Als „Actors of urban change“, Akteure des städtischen Wandels. Ausge14
stattet mit Fördermitteln und Methodentrainings einer deutschen Stiftung.
Stephania Xydia
We decided to create a process by which the people themselves will decide what will happen on this square … which is about food innovation, for education training about food.
Stephania/Übersetzerin
Wir entwickelten ein Konzept zur Bürgerbeteiligung. Haben erstmal alle aufgelistet, die mit
dem Platz zu tun haben und dann zu einer ganzen Serie von Workshops eingeladen, auf
denen jeder sagen durfte, wie er sich den Platz vorstellt. Die Identität des Platzes sollte
gewahrt werden, also der Bezug zu Ernährung und Geschmack, und es durfte keine Konkurrenz entstehen zu den umliegenden Geschäften.
Atmo Straße
Erzähler
Und während sich einer der Obdachlosen im Gebüsch erleichtert, erzählt Stephania den
Traum, den die Bürger von diesem Platz haben.
Musik Areti Ketine: Taximi
Erzähler
Eine Sterneköchin erklärt, wie man aus einem Broccolistrunk einen schmackhaften Salat
macht. In Hochbeeten wird gegärtnert. Kinder zupfen Kräuter. Große Bäume und große
Skulpturen zieren den Platz. Die Leute sitzen an langen Tischen und essen und reden.
Das Dach des Pavillons ist begrünt. Und drinnen, im neueingerichteten Café, proben Musiker schon mal für das Konzert am Abend.
Atmo Varvakeios, Fegen nah
Erzähler
Nichts davon ist zu sehen. Nur einmal gab es eine Aktion für die Hochglanzbroschüre der
Stiftung. Eine lange Tafel, mitgebrachtes Essen, Stellwände mit Infos, Luftballons am Pavillon. Gespräche im Abendlicht. Dann eroberten die Dealer wieder den Platz.
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Atmo Würfelspiel
Stephania Xydia
I often pass from here und people say „So what’s going on, what are we doing?” … So I
think and it looks like that Varvakeios will be the project.
Stephania/Übersetzerin
Ich komme oft hier vorbei und die Leute sprechen mich an. „Was ist los? Warum hat sich
nichts verändert?” Denen sage ich: Wir haben die Ergebnisse veröffentlicht und stehen im
Austausch mit der Stadtverwaltung. Allmählich begreifen sie da den Wert dieser Vorgänge
und fangen an, eine Strategie für die Gegend zu entwerfen. Natürlich sind die Kassen
leer. Aber zum Glück gibt es ja die EU-Töpfe. Hinzu kommt, der Bürgermeister hat noch
drei Jahre bis zur nächsten Wahl und braucht dringend ein Leuchtturmprojekt. So eins
wird der Varvakeiosplatz sein
Atmo Straße Café
Erzähler
In einem Café, gleich um die Ecke, erzählt mir Stephania dann, wie gerne sie ein Kind mit
Pavlos hätte. Maria, ihre Kollegin habe schon eins und bringe es oft mit zur Arbeit. Der
Vater arbeite auch mit in der NGO. Aber wie schwierig das mit Pavlos sei. Das Ringen um
die gemeinsame Zeit und dass er sich vielleicht zu sehr verzettele mit zu vielen unbezahlten Projekten. Und dann noch dieser Wahnsinn, dass alleine die Geburt 5000 Euro kosten
würde. Und doch: Nicht minder wahnsinnig wäre es, deshalb auf Kinder zu verzichten.
Atmo Hausflurkafeneion Musik
Erzähler
Auf dem Weg zurück in meine Wohnung laufe ich durch das Gassenlabyrinth eines
Handwerkerviertels. Aus einem Hausflur dröhnt Live-Musik. Mitten am Tag. Unrasierte,
ältere Männer und eine junge dunkelhäutige Frau sitzen im Durchgang zu den Wohnungen. Auf Stühlen, an Tischen. Trinken Schnaps. Zwei Musiker spielen Rembetiko, den
griechischen Blues. Schon starren sie mich an. Ich zögere, setze mich dann aber auf den
einzigen freien Platz neben die Frau. Ob ich Tourist sei. Ich gebe mich als Journalist aus
Deutschland zu erkennen. Sofort redet sie los.
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Atmo Streit
Erzähler
Aus dem Nichts geraten wir in einen Streit. Die Frau ist das Kind kongolesischer Einwanderer und verlangt den Goldschatz zurück, den die Nazis den Griechen geraubt haben.
Dann bringe ich eben meine jüdischen Familienmitglieder ins Spiel, die von den Nazis
ermordet wurden. Das absurde Theater ist perfekt.
Atmo Kafeneion-Besucher, „No play, no foto, no akou. Bye!“
Erzähler
Ich gehe besser. Doch der Wirt beruhigt die Gemüter. Bringt mehr Schnaps. Bleib sitzen!
sagt er. Wir versöhnen uns, stoßen an. Die Frau springt auf, tanzt. Die Männer klatschen.
Und ich, der Deutsche, bin ein wenig erstaunt über die plötzliche Leichtigkeit und etwas
betrunken vom griechischen Blues. Von der bevorstehenden Aktion auf dem Kotzia-Platz
hat hier noch keiner was gehört. Und schon gar nicht von einem neuen Griechenland.
Musik Locomondo: Plataniotiko Nero
Szene: Ansage Pavlos
Herzlich willkommen bei der Schnippeldisco für die Speisung der 5000 in Athen! Wir werden den ganzen Tag zusammen sein. Es wird eine Menge Gemüse ankommen, mehr als
ihr Euch vorstellen könnt. Eineinhalb Tonnen Obst und Gemüse. Einen großen Applaus
für uns alle! (Beifall)
Pavlos Georgiades
All the chopping and washing and cutting… There will be friendships coming out of this,
maybe there is some new love affair is coming out of this event.
Pavlos/Übersetzer
Alles, was wir an Zutaten für das Essen morgen auf dem Platz brauchen, wird hier gewaschen, geschält und geschnippelt. Gleich kommt der LKW, wir laden alles ab, machen
Musik an. Das macht Spaß. Du lernst Leute kennen. Neue Freunde. Vielleicht gibt´s sogar
eine Liebesgeschichte.
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Atmo Musik und Aufbaugerumpel
Erzähler
Eine Betonhalle mit Tischen und Bänken. Die Leute im Raum tragen Schürzen und haben
ihre eigenen Messer und Schäler mitgebracht. Sie warten, dass es losgeht. Pavlos läuft
immer wieder auf die Straße, um zu sehen, wo der LKW mit dem Gemüse bleibt. Er trägt
ein T-Shirt mit einer großen Tomate drauf und dem Schriftzug: „Serving food for change.“
Pavlos Georgiadis
This is what we are doing tomorrow, we are serving food for change …
Atmo Abladen Laster
Erzähler
Der Laster ist da. Bringt Kisten und Säcke mit Karotten, Kartoffeln, Zwiebeln, Paprika und
Auberginen. Pavlos dirigiert das Abladen. Jeder Tisch ist für ein anderes Gemüse zuständig.
Atmo Anweisungen Koch
Erzähler
Ich finde einen Platz bei den Kartoffelschälern. Dann wird die Musik laut gedreht und wir
legen los. Der Traum von einem neuen Griechenland beginnt in der Kombüse.
Atmo Musik, Stimmen im Raum, Schneiden und Hacken von Gemüse
Pavlos Georgiadis
It boils down to loneliness; we are a society of lonely units. That’s why we organize a lot of
public dinners … What we do is real.
Pavlos/Übersetzer
Im Grunde geht´s um Einsamkeit. Vereinzelung. Deswegen veranstalten wir auch diese
öffentlichen Essen. Menschen treffen sich. Das Gleiche gilt für Stephania und ihre Methoden, die Leute an einen Tisch zu bringen. Wenn sie einmal begriffen haben, dass sie nicht
allein sind, kannst du sie auch überzeugen, sich zu engagieren und sie mitnehmen auf die
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Reise. Das ist unbezahlbar. Coca-Cola hätte das gerne für eine nette Werbung mit langen
Tischen und so. Aber da ist es Schwindel. Bei uns ist es echt.
Atmo Küche, Schnippeln, Ansage Pavlos
Erzähler
Mit mir am Tisch sitzen eine Köchin, die ein Kochbuch mit Rezepten ihrer Oma geschrieben hat und ein Mann, der einen großen Garten in Athen hat, wo er Schulklassen den Anbau von Gemüse erklärt. Aber auch einfache Leute aus der Nachbarschaft, die von der
Aktion gegen Lebensmittelverschwendung gehört haben. Bald habe ich ein halbes Dutzend Einladungen und Tränen in den Augen vom Zwiebeldunst. Später taucht noch ein
Abgeordneter der Regierungspartei auf. Der macht sich aber nicht die Hände schmutzig.
Pavlos Georgiadis
It is clear that we have to bring new connections … making them feel part of the process
and fulfill their own goal.
Pavlos/Übersetzer
Ist doch klar, wir brauchen neue Netzwerke. Mit Politikern sind wir aber vorsichtig. Wir
müssen ihnen das Gefühl geben, dass sie Teil dieser Prozesse sein könnten, ohne uns zu
sehr auf sie einzulassen. Wir brauchen ihre Unterstützung, um mehr zu erreichen. Der
richtige Umgang mit dem politischen System ist ungeheuer schwer.
Musik Locomondo: Karapiperim
Atmo Im Taxi
Erzähler
Stunden später. Alles geschafft. Anderthalb Tonnen Gemüse gewürfelt und in Säcken
verstaut. Ich bin müde und mir tun die Finger weh vom Kartoffelschälen. Pavlos hingegen
ist wie aufgedreht. Wir sitzen in einem Taxi. Im Radio läuft ein Basketballspiel. Ein älterer
Mann mit struppigem Bart steuert den Wagen.
Szene: Pavlos und Taxifahrer
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Pavlos/Übersetzer
Früher haben wir im Taxi immer über Politik gesprochen.
Lambros/Übersetzer
Lass mich damit in Ruhe. Ich höre nur noch Musik oder Sport. Wenn man Nachrichten
hört, wird man doch verrückt!
Pavlos/Übersetzer
Und wie lange dauert deine Schicht?
Lambros/Übersetzer
Mindestens 15 Stunden. So komme ich auf 30-40 Euro. Es gibt auch Tage, da muss ich
draufzahlen.
Pavlos/Übersetzer
Bist du aus Athen?
Lambros/Übersetzer
Aus Ioannina. Manchmal frage ich mich, warum wir unsere schönen Dörfer verlassen haben, nur um hier zu landen, in diese Hölle. Vier, fünf Stunden Schlaf am Tag, zwölf Jahre
schon. Ein Leben lang Doppelschicht.
Pavlos/Übersetzer
Wie spät ist es jetzt?
Lambros/Übersetzer
22.20 Uhr.
Pavlos/Übersetzer
Ich bin heute um 8:30 Uhr aus dem Haus gegangen.
Lambros/Übersetzer
Ich hab `n Leistenbruch. Heute Morgen bin ich nicht hochgekommen. Es ging einfach
nicht. Es war schon halb elf. Jetzt muss ich schauen, wie lange ich´s durchstehe.
Pavlos/Übersetzer
Stell dir vor, ich hab heute sogar Geburtstag. Der ist schon fast um. Nicht zu fassen.
Lambros/Übersetzer
Alles Gute.
Pavlos/Übersetzer
Danke! Hier, an der nächsten Ecke kannst du anhalten bitte!
Atmo Geburtstagslied, Stimmen von der Feier
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Erzähler
Eine Stunde vor Mitternacht. Stephania hat eine Überraschungsparty für Pavlos organisiert. Die Gäste sind alle um die 30, hip, kreativ, dynamisch. Manche begrünen Athens
Dächer, andere decken Skandale in Wirtschaft und Verwaltung auf oder schreiben, wie
Stephania, mit an einer neuen Verfassung. Einer von ihnen war sogar mal Berater von
Papandreou. Da sei seine Seele schwarz geworden, sagt er. In eine Partei oder gar in ein
politisches Amt will hier keiner.
Atmo Musik von Feier
Stephania Xydia
That systemic change is not about trying to enter it and change it from within …things start
to …
Stephania/Übersetzerin
Uns geht es nicht darum, in das System einzusteigen und es von innen zu verändern,
sondern wir wollen parallele Systeme schaffen, auch wenn es nur sehr kleine sind. Zum
Beispiel unser Verfassungsprojekt. Da lachen die Abgeordneten drüber. Aber wenn wir 30
Workshops durchgeführt, die Vorschläge von 5000 Leuten auf dem Tisch und die internationale Presse hellhörig gemacht haben, dann werden sich die Dinge sich bewegen.
Atmo Feier
Musik Areti Ketime: The Loop
Erzähler
Getanzt wird nicht. Stattdessen den ganzen Abend die bessere Welt beschworen. Irgendwann fallen mir die Ohren zu.
Atmo Essen auf dem Platz, Köcheln der Suppe
Erzähler
Sonntag. Es ist noch wenig los auf dem Platz vor der Stadthalle. Flaggen wehen. Am
Himmel leuchten große weiße Wolken im Mittagslicht. Auf dem Platz sind die Infozelte der
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Aktivisten und eine kleine Bühne aufgebaut. Im großen Zelt bei den Köchen ohne Grenzen brodelt der Eintopf in den Armeekesseln. Eine Gestalt im Gurkenkostüm und etliche
Helfer mit selbstgebastelten Gemüsekronen aus Pappe posieren vor der Perikles-Statue
für ein Foto. Pavlos kommt.
Pavlos Georgiadis
I am very tired … nice complishment, yeah, we did it.
Pavlos/Übersetzer
Ich bin ziemlich müde. Hab nur vier Stunden geschlafen. Um fünf bin ich hoch und musste
im strömenden Regen die Kochtöpfe in den LKW laden. Aber jetzt reißt der Himmel auf.
Es kommen auch schon die ersten Leute. Bald werden wir servieren. Diese Müdigkeit
fühlt sich nicht schlecht an. Schöner Erfolg. He, wir haben´s geschafft.
Atmo Essen für 5000, Begrüßung, Ruhe, Musik
Erzähler
Zuerst kommen, die, die wirklich Hunger haben. Einer mit Krückstock im viel zu großen
Anzug, Frauen mit Latschen an den Füßen. Ernste Gesichter in der Schlange vor der Essensausgabe. Bald aber stehen auch Familien mit Kindern für die Suppe an. Sonntagsspaziergänger, Touristen, junge Männer mit Hipster-Bärten. Die zweite Bürgermeisterin
mischt sich unters Volk. Unzählige Fernsehteams bauen ihre Kameras auf. Sogar das
deutsche Fernsehen ist da.
Szene: Essen für 5000
Moderator/Übersetzer
Heute ist das Fest des Essens!
Alter Mann/Übersetzer
Das Fest des Volkes! Bitte sehr. Dass mir kein Reicher kommt, um sich zu bedienen.
Moderator/Übersetzer
Das Geschirr besteht aus abbaubaren Material. Bitte werfen Sie es hinterher in die braunen Tonnen! Verschwendung zu vermeiden, hat globale Priorität.
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Pavlos Georgiadis
The message is right in front of the city hall in Athens … citizenship.
Pavlos/Übersetzer
Das ist die Message gleich hier vor der Stadtverwaltung. Das nenne ich Zivilgesellschaft.
Pavlos Georgiadis
Lets see, how we will run, how we will do … amazing crisis to work and learn from and
letting it go to waste, exactly as we let go food to waste. But we are here to save the food.
Pavlos/Übersetzer
Unsere Ideen sollten wir auch in andere Länder Europas exportieren. Nicht nach Deutschland natürlich. Da existieren solidarische Netzwerke ja schon ewig. Aber in Ungarn, Polen,
Litauen, Rumänien und anderen jüngeren Mitgliedern der EU. Da können wir voneinander lernen. Ich halte das ohnehin für den Kern der europäischen Idee. Deswegen ist auch
die Diskussion, ob Griechenland den Euro oder die Union verlassen soll, so blödsinnig.
Du hast eine tolle Krise, entwickelst Lösungen und schmeißt dann alles in den Müll. Genau wie das Essen.
Atmo Parolen gegen die Verschwendung, Klatschen, Trillerpfeifen
Erzähler
Pavlos und ein Dutzend Mitstreiter umrunden den Platz. Sie halten Schilder hoch, mit
Sprüchen wie: „Ich bin krumm, na und?“ oder „Wir wollen schmecken und keine Models
sein.“ Auf dem Kopf tragen sie die selbstgebastelten Gemüsekronen und erinnern leicht
an Indianer. Die Fernsehleute rennen rum für gute Bilder. Im Zwei-Minuten-Beitrag werden sie heute Abend auch wieder durch die deutschen Wohnzimmer flimmern.
Atmo Gewitter, Aufregung
Erzähler
Alle fliehen unter die Zelte. Pavlos und einige andere rennen im Wolkenbruch herum und
decken die Lautsprecher mit Planen ab. Der Eintopf schwemmt über den Rand. Die Zeltdächer drücken ein, können das Wasser kaum noch tragen
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Atmo Gewitter
Szene: Pavlos Georgiadis/Erzähler/Nicki
Pavlos/Übersetzer
Zum zweiten Mal schon so ein Regen heute/ Nicki, was sollen wir tun?
Nicki/Übersetzerin
Der Tonmann soll alles wieder verbinden, damit die Veranstaltung weitergeht. Wir haben
noch 2000 Portionen übrig.
Atmo Essen für 5000, Pfeifen, Musik
Pavlos Georgiadis
I guess what we have achieved is that like now people remember … which is a very promising tool.
Pavlos/Übersetzer
An diese Aktion werden sich die Leute erinnern. Das macht es uns leichter. Nun wissen
alle, wie es geht und nicht nur, wie es sein könnte. Das ist ein großer Fortschritt.
Musik Locomondo: Den Kanei Kryo
Atmo Aeropag Aufstieg
Erzähler
Es ist mein vorerst letzter Tag in Athen. Generalstreik. Nichts fährt. Stephania und ich sind
zu Fuß unterwegs. Wir besteigen den Areios Pagos, einen von vielen Schritten glattgewetzten Felsen unterhalb der Akropolis. Hier haben in der Antike die ersten demokratischen Versammlungen stattgefunden.
Stephania Xydia
You see, in Athens all the theaters are full of people, all the concerts are sold out … trying
to find a way out of the labyrinth.
Stephania/Übersetzerin
Hier in Athen sind die Theater gefüllt, die Konzerte ausverkauft, die historischen Plätze
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voll. Denn das alles können sie uns nicht nehmen. Es gibt immer noch dieses Gespür für
den öffentlichen Raum und den Dialog, der da stattfinden könnte. Im Augenblick hängen
wir nur so rum. Obwohl Herumhängen in diesen Zeiten ja auch etwas bedeutet. Du sitzt
da mit Leuten, denen du vertraust und versuchst, aus dem Irrgarten herauszufinden.
Erzähler
Wir klettern in T-Shirts im Sonnenlicht hinauf. Es duftet nach Meer und den Kräutern Attikas, als würde der Frühling hier nie enden. Mitte November sind in Athen immer noch 25
Grad.
Stephania Xydia
I think last time I think I just came here to cry … And it’s a great place to cry.
Stephania/Übersetzerin
Beim letzten Mal hier oben ging´s mir nicht gut. Überall Probleme, keine Perspektive für
meine Organisation. Ich bin raus aus dem Büro und wollte nur noch heulen. Wusste nicht
wohin mit mir. Also bin ich hier rauf. Ist ein toller Platz zum Weinen.
Atmo Aeropag, Gespräch Autor/Stephania
Erzähler
Wir reden über dies und das. Wie es für sie weitergehen wird. Für den Aufbau einer neuen Nationalbibliothek suchen sie Leute mit Ideen. Vielleicht endlich ein Job mit Gehalt.
Aber auch wie es mit Pavlos und ihr weitergehen wird. Der ist schon in den Norden gefahren, um dort die Olivenernte für das Familienunternehmen zu organisieren.
Stephania Xydia
My father is a bit more sceptical not because … to build a life together with such timetables.
Stephania/Übersetzerin
Mein Vater ist etwas skeptisch, nicht wegen Pavlos persönlich, sondern weil er sich fragt,
ob wir bei unseren Terminkalendern überhaupt eine gemeinsame Spur finden werden.
Atmo Aeropag Schritte
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Erzähler
Wieder bin ich mittendrin in einer Familiengeschichte. Doch was kann ich sagen? Mein
Leben ist so ganz anders verlaufen. Und dann reden wir doch noch über die Zeit, den Mut
und die Liebe. Und die Momente, für die es sich lohnt zu leben.
Musik Areti Ketine: Memory
Stephania Xydia
I don’t think we have enough time to change this system … That we are the transitionmanagers.
Stephania/Übersetzerin
Ich glaube, uns bleibt nicht genug Zeit, um das System zu verändern. Wir können erste
Beispiele liefern und ein paar Wege gehen. Und unsere Kinder und Enkel führen sie fort.
So denken viele in meinem Alter. Und nicht nur in Griechenland. Unsere Generation sorgt
nur für den Übergang.
Absage
Ingredients of Democracy
(Titel griechisch)
Der Traum von einem neuen Griechenland
(Titel griechisch)
Feature von Rainer Schildberger
Mit Pávlos Georgiádis und Moses Leo
Stephanía Xydiá und Lisa Hrdina
Als Erzähler: Daniel Minetti
In weiteren Rollen: Robert Frank und Ilka Teichmüller
Ton: Kaspar Wollheim und Venke Decker
Regieassistenz: Sarah Krüger
Regie: Friederike Wigger
Redaktion: Gabriela Hermer
Eine Produktion des Rundfunk Berlin-Brandenburg mit dem Deutschlandfunk.
Mit Unterstützung des Förderprogramms Grenzgänger der Robert-Bosch-Stiftung 2016.
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